Читать книгу Die letzte Zuflucht - Rotraut Mielke - Страница 8
6.
ОглавлениеEs war schon später Vormittag, als die Sonne Meduse endlich wach kitzelte. Sie hatte zehn Stunden geschlafen und fühlte sich erholt und munter. Und sie hatte schon wieder Hunger. Auf bloßen Füßen tapste sie in der Küche herum und betätigte den ächzenden Pumpenschwengel. Eiskaltes Wasser schoss in das Steinbecken. Sie beließ es bei einer Katzenwäsche. Flüchtig dachte sie an den Komfort einer heißen Dusche, den sie jetzt in einem möblierten Zimmer genießen könnte. Aber schnell schob sie den Gedanken beiseite. Wenn sie sich in dem alten Haus erst einmal eingelebt und im Herd ein Feuer angemacht hatte, würde sie es hier gut aushalten können.
Toinette war vor über einem Jahr verschwunden, Meduse konnte nicht damit rechnen, noch genießbare Lebensmittel vorzufinden. Als erstes stand also ein Einkauf auf dem Programm. Prüfend streckte sie die Nase zur Haustür heraus. Ein kräftiger, kühler Wind blies ihr entgegen. Sie zog die Kapuze ihres Anoraks über den Kopf und marschierte los. Unternehmungslustig ließ sie ihre Augen über die Umgebung schweifen. Das Blau des Meeres, das intensive Grün der Wiesen und die dunkelgrauen Felsbrocken, die sich überall aus dem Boden hervorschoben, in der klaren Luft hatten die Farben eine besondere Intensität.
Bald hatte sie die ersten Häuser erreicht. Aber auch heute bei Sonnenschein sah der Ort nicht besonders einladend aus. Die dicken Hauswände schienen die schmalen Straßen erdrücken zu wollen. Nur vereinzelt hatte jemand ein paar bunte Blumen in Töpfen neben seine Eingangstüre gestellt. Die wenigen Leute, die ihr begegneten, mieden den Blickkontakt. Trotzdem war sie sicher, dass sie genau beobachtet wurde. Offenbar wusste hier jeder, wer sie war.
Der Supermarkt, auf den sie nach einigem Suchen stieß, war erstaunlich modern. Die großen Glasfenster und bunten Werbeplakate nahmen sich merkwürdig aus zwischen den altertümlichen Häusern. Meduse schnappte sich einen Korb und lief systematisch die Gänge ab. Zu den Lebensmitteln in ihrem Korb gesellten sich eine Taschenlampe und eine Packung Ersatzbatterien. Als letztes legte sie noch eine Tageszeitung auf das Förderband an der Kasse. Sie war gespannt darauf, was es hier an aufregenden Neuigkeiten gab. Und außerdem musste sie nach einer Arbeit suchen. Sie zuckte zusammen, als sie hörte, was ihre Einkäufe kosteten. Wenn sie nicht schnell Geld verdiente, würde ihr Aufenthalt auf der Insel nicht lange dauern.
Beladen mit dem Rucksack, der randvoll und schwer war, machte sie sich auf den Rückweg. Als sie wieder das Haus erreicht hatte, war ihr warm. Sie machte sich daran, das Frühstück zuzubereiten. Eine Kaffeemaschine gab es hier natürlich nicht, aber sie fand einen altmodischen Filter aus Porzellan mit dazugehöriger Kanne und sogar ein paar Filtertüten. Skeptisch betrachtete sie den Herd. In einem Fach fand sie Holzspäne und Streichhölzer, größere Scheite lagen in einem Korb daneben. Aufatmend beobachtete sie, wie die ersten Flammen hochschlugen und an dem trockenen Holz leckten. Sie füllte einen Wasserkessel mit frischem Wasser und setzte ihn auf die Herdplatte. Es würde eine Weile dauern, bis es heiß genug war, um damit Kaffee aufzubrühen.
In der Zwischenzeit schaute sie sich im Wohnzimmer um. Der Inhalt der Anrichte bot nicht viel Interessantes. Sie enthielt nur altes, angeschlagenes Geschirr. In den Schubladen fand sie ein Sammelsurium an Besteck und anderen Dingen, die zum Decken eines Esstischs gebraucht wurden. Erst nach einer Weile wurde ihr bewusst, wonach sie eigentlich suchte. Sie hätte zu gerne gewusst, wie ihre Großtante ausgesehen hatte, aber nirgends waren Fotos zu finden. Es war schade, dass sie nicht früher auf die Idee gekommen war, den Notar oder die Wirtin des Cafés danach zu fragen. Aber das ließ sich ja nachholen.
Das Pfeifen des Wasserkessels riss sie aus ihren Gedanken. Kurze Zeit später roch es verführerisch nach Kaffee, und hungrig machte sich Meduse über ihr Frühstück her. Es dauerte nicht lange, bis das dick belegte, große Stück Baguette verschwunden war. Mit einer zweiten Tasse Kaffee setzte sie sich in den grünen Sessel und plante ihren Tag. Der Besuch beim Notar stand heute an. Die offizielle Testamentsverlesung würde wohl keine Überraschungen bringen, schließlich war ja bereits klar, dass sie dieses Haus geerbt hatte. Danach würde sie Maddy die geliehene Taschenlampe zurückbringen. Und sich ausführlich nach Toinette erkundigen. Wie war es möglich, dass die alte Frau, die ihre Großnichte nie gesehen hatte, sie als Erbin eingesetzt hatte? Es musste einen Grund geben, warum sie hier war. Und sie war entschlossen, so lange auf St. Pierre zu bleiben, bis sie es herausgefunden hatte.
Eine Stunde später machte sie sich auf den Weg. Sie hatte reichlich Zeit bis zu ihrem Besuch beim Notar. Deshalb bog sie von der Straße ab und schlenderte gemächlich über die Wiesen entlang der Steilküste. Immer wieder blieb sie stehen und schaute sich um. Die salzige Luft prickelte angenehm auf ihrem Gesicht, und von dem Blick auf das Meer konnte sie nicht genug bekommen. Die Klippe wurde flacher, allmählich kam sie dem Wasser näher. Schon konnte sie sehen, wie die Wellen zwischen Felsbrocken und kleinen Sandbuchten ausliefen. Sie setzte sich ins Gras und beobachtete fasziniert, wie sich eine Möwe vom Aufwind tragen ließ. Keinen Flügelschlag machte sie, während sie große Kreise über dem Wasser zog. Eine dicke Hummel graste brummend die Flecken winziger Blütenkelche ab, die rot zwischen den Gräsern leuchteten. Das Rauschen der Wellen hatte etwas Beruhigendes, und Meduse spürte, wie die Aufregung der langen Anreise endgültig von ihr abfiel.
Endlich hatte sie das Wasser erreicht. Nachdem sie ihre Schuhe ausgezogen hatte, kletterte sie leichtfüßig über ein paar große Felsblöcke, die sich vor ihr auftürmten. Die Wellen rollten in beeindruckender Größe heran. Das Wasser lockte, aber sie ließ es lieber bleiben, weiter hinein zu gehen.
Die ersten Häuser des Ortes hielten ein Stück weiter weg trutzig Wacht. Sie hielt Ausschau nach Leuten, aber trotz des guten Wetters ließ sich niemand draußen blicken. Ihr fiel wieder ein, was der Notar gestern über die Inselbewohner gesagt hatte. Sicher war sie längst entdeckt worden. Zu Hause wäre sie einfach in den Wald gerannt, wo sie allein war. Aber hier gab es nichts, wo sie sich verstecken konnte. Sie setzte sich hin, um ihre Schuhe wieder anzuziehen. Was waren das wohl für Menschen, die hier lebten? Als zurückhaltend hatte der Notar sie beschrieben. Nun, das war sicher nicht übertrieben. Maddy war immerhin ein Lichtblick. Sie freute sich darauf, später wieder ins Café de la Gare zu gehen. Und bei der Gelegenheit konnte sie der redseligen Frau bestimmt ein paar Informationen über Toinette entlocken.
Maitre Legrands Notariat befand sich in einem großen Steinhaus, in dem er offensichtlich auch wohnte. Durch das offene Tor sah sie in der Garage sein Auto stehen. Davor in der Einfahrt lag ein Kinderfahrrad, achtlos auf den Boden geworfen. Ordentlich gestutzte Hecken säumten den kurzen Weg zur Haustür, neben der das Schild des Notariats hing. Meduse drückte auf den Klingelknopf. Eine Weile tat sich nichts, dann hörte sie schnelle Schritte, und die Tür wurde aufgerissen. Ein Junge von etwa zwölf Jahren schaute sie mit großen Augen an.
„Ich bin Meduse Brunner. Ist Maitre Legrand zu sprechen?“, fragte sie freundlich.
Der Junge nickte zögernd und trat beiseite, um sie einzulassen. Da kam auch schon der Notar. Heute trug er einen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Er schüttelte ihr die Hand und führte sie in sein Büro.
„Bitte nehmen Sie Platz.“ Er wies auf eine Sitzecke.
Neugierig schaute sie sich um. Es war ein gemütlich eingerichteter Raum mit vielen Bücherregalen. Wie ein Arbeitszimmer sah er nicht aus. Nur auf dem Schreibtisch entdeckte sie ein paar Akten.
„Wir sind hier nicht so förmlich“, bemerkte er, als er ihren erstaunten Blick sah. „Kaffee? Oder ein Glas Wasser?“
Den Kaffee nahm Meduse gerne, und dann ging es auch schon an die Verlesung des kurzen Testaments. Sie erfuhr nichts Neues, alles Wesentliche hatte der Notar ihr bereits geschrieben.
„Wenn Sie das Erbe annehmen wollen, müssen Sie hier unterschreiben.“ Er legte einen Stift neben das Dokument. Meduse zögerte keinen Moment, schwungvoll setzte sie ihre Unterschrift aufs Papier.
„Nun, dann sind Sie jetzt offiziell die Erbin von Antoinette Crédel und Eigentümerin des Hauses samt einer Grundfläche von rund tausend Quadratmetern.“ Nachdem der offizielle Teil abgeschlossen war, erlaubte sich der Notar ein kleines Lächeln. „Was werden Sie denn nun damit anfangen? Ich nehme nicht an, dass Sie sich hier niederlassen wollen, oder?“
Meduse schüttelte den Kopf. „Nein, das sicher nicht.“
Aber was sollte sie tatsächlich mit diesem Haus machen? Sie nagte an ihrer Unterlippe.
„Wollen Sie es verkaufen?“
Meduse schaute hoch. „Gibt es denn jemand, der es kaufen will?“
Der Notar schüttelte den Kopf. „Davon ist mir nichts bekannt. Aber wenn Sie wollen, kann ich mich gern umhören. Wir haben hier eine kleine Immobilienfirma, die sich darum kümmern könnte. Allerdings haben Sie selbst gesehen, dass das Haus nichts Besonderes ist. Es wird keine großen Summen bringen.“
„Das muss ich ja nicht sofort entscheiden. Erst einmal will ich hier eine Weile Urlaub machen. Und dann sehe ich weiter.“ Schon wieder hatte Meduse das Gefühl, dass sie zu einer baldigen Abreise gedrängt werden sollte.
Nach ein paar belanglosen Floskeln geleitete der Notar sie zur Tür. „Wenn Sie Hilfe brauchen, kommen Sie einfach wieder her.“
„Danke, das ist sehr freundlich. Aber ich finde mich ganz gut zurecht. Gestern war ich noch im Café de la Gare. Die Wirtin ist wirklich nett, sie hat mir extra etwas zu essen gemacht.“
Irrte sie sich, oder war der Notar zusammengezuckt?
„Da sind Sie in unserer übelsten Kaschemme gelandet. Wir haben zwei andere Lokale, sehr viel netter als dieses Café. Das ist nur was für Einheimische, die ein Glas trinken wollen.“
„Genau diese Leute hier will ich ja kennenlernen.“
„Raufbolde und Säufer, das ist doch kein Umgang für Sie“, brach es unvermittelt aus ihm heraus. Dann überlegte er es sich jedoch anders und zuckte mit den Schultern. „Aber wie Sie meinen…“ Er schüttelte ihr die Hand, und kurz darauf stand sie wieder draußen auf der Straße.