Читать книгу Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte - Roy Jacobsen - Страница 4
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ОглавлениеSchon am nächsten Tag waren wir im Årvollsenter und sahen uns Tapeten an. Und das ist nicht wenig aufsehenerregend, denn Mutter ist nicht nur von Gefahren umgeben, sie braucht auch immer lange zum Überlegen: Die grüne Farbe, für die wir soeben unser Geld aus dem Fenster geworfen hatten, war zum Beispiel keinem spontanen Einfall entsprungen, sie war das Resultat mühsamer Gedankenarbeit, die seit dem vorigen Weihnachtsfest geleistet worden war; damals hatte uns ein älteres Ehepaar im Erdgeschoss zu Kaffee und Kuchen eingeladen, und alle Wände hatten eine andere Farbe gehabt als unsere, und es stellte sich heraus, dass sie selbst angestrichen hatten, mit einem Quast.
Ein andermal hatte sie mich bei einem Kumpel namens Essi abgeholt, und dort hatte der Vater die Tür zum kleinsten Schlafzimmer aus dem Wohnzimmer in die Diele versetzt, so dass Essis große Schwester, die sechzehn war, fast ihren eigenen Eingang hatte, von der Diele aus. Und jetzt schienen diese ganzen Beobachtungen, zusammen mit der Tatsache, dass der Laden, in dem wir uns befanden, von Zukunft, Möglichkeiten und Erneuerung geradezu überquoll, ja, zwischen den Farbeimern und den blauen Lagerkitteln in diesem Laden war ein Optimismus zu spüren, der Steine bewegen könnte, diese Beobachtungen allesamt schienen sich zu einer einzigen großen Schlussfolgerung zusammenzufügen: »Na gut«, sagte Mutter. »Dann müssen wir eben doch vermieten. Da führt kein Weg vorbei.«
Ich schaute verblüfft zu ihr hoch, wir hatten nämlich schon häufiger darüber gesprochen und waren, nach meiner Meinung, zu einer Art Vereinbarung gekommen, dass wir eben nicht vermieten würden, egal, wie knapp wir bei Kasse wären, denn dann würde ich doch mein Zimmer, das ich so sehr liebte, aufgeben und in ihres übersiedeln müssen.
»Ich kann im Wohnzimmer schlafen«, sagte sie, ehe ich den Mund aufmachen konnte.
An diesem Nachmittag wurden deshalb nicht nur Tapeten und Kleister gekauft, es wurde auch eine Annonce aufgegeben, in der sozialdemokratischen Tageszeitung Arbeiderbladet, Zimmer zu vermieten. Abermals wurde Kontakt zu dem gewaltigen Tiermann Frank aufgenommen, konnte nicht Frank, der im Alltag einen Bulldozer auf den neuen Baustellen in Groruddalen bediente, abends die Tür zu unserem kleinsten Schlafzimmer in die Diele versetzen, damit der Mieter oder die Mieterin nicht unser Privatleben durchqueren müsste, um aus und ein zu gehen, um nicht zu sagen, damit nicht eine wildfremde Person immer wieder durch unser frisch tapeziertes Wohnzimmer lief?
Mit anderen Worten stand uns eine spannende Zeit bevor.
Es stellte sich heraus, dass Frank kein großartiger Schreiner war. Er machte ein gewaltiges Wesen um die Arbeit, er arbeitete außerdem im Netzunterhemd, schnaufte und schwitzte heftig und nannte Mutter schon am ersten Abend Kleine.
»Was meinst du, Kleine, willste diesen Türrahmen behalten oder soll ichn neuen besorgen?«
»Kommt drauf an, was das kostet«, sagte Mutter.
»Für dich nicht viel, Kleine, ich hab Beziehungen.«
Zum Glück fand auch Mutter es nicht so toll, dauernd Kleine genannt zu werden. Und Frau Syversen schaute in regelmäßigen Abständen herein, um mitzuteilen, das Essen stehe auf dem Tisch oder die Müllabfuhr verspäte sich an diesem Tag. Ich muss zugeben, dass ich auch gut aufpasste, denn Mutter trug vor jedem Arbeitseinsatz Lippenstift auf und nahm die Lockenwickler aus den Haaren, ich hatte fast keine Zeit, auf der Straße draußen zu sein. Ab und zu schickte Frau Svyversen auch ihre älteste Tochter, Anne-Berit, und dann sahen wir dem riesigen Mann zu, der mit gewaltigen Türblättern und Furnierplatten herumfuchtelte und dessen schwarze Haare auf Schultern und Rücken wie überwinterte Grasbüschel durch die Löcher im ungewaschenen Netzhemd quollen, das eher aussah wie ein Fischnetz als wie ein Kleidungsstück, und der zwischen den Schlägen stöhnte: »Hammer! Nagel! Zollstock!« –, in scherzhaftem Ton, damit wir Handlanger sein könnten, es war eine Freude. Aber als die Tür endlich angebracht war und die andere Türöffnung abgedichtet, nach einer guten Woche, mit neuen Türrahmen und überhaupt, und als von Bezahlung die Rede war, wollte Frank keine. »Bist du verrückt?«, fragte Mutter.
»Aber vielleicht könntest du mir ein Schnäpschen anbieten, Kleine«, sagte er leise, als ob sie durch die gelungene Operation jetzt ein gemeinsames Geheimnis hätten. Es half nichts, dass Mutter mit offenem Portemonnaie und zwei, drei blauen Fünfern zwischen den frischlackierten Nägeln von einem Fuß auf den anderen trat, als gäbe es genug von der Sorte, man brauche nur zu fordern, Frank war und blieb ein Mann von Welt, es endete damit, dass er stattdessen zwei Glas Curação bekam.
»Für jeden Fuß eins.«
Aber damit waren wir ihn dann los und die Tapezierarbeit konnte ihren Anfang nehmen.
Das ging dann wirklich gut. Mutter abermals auf dem Küchenstuhl unter der Decke und ich unten am Boden. Die Wand, bei der wir zum Anstreichen eine ganze Woche gebraucht hatten, war im Laufe eines Abends tapeziert. Dann brauchten wir zwei Abende für die ganze Kleberei an der Balkontür und dem großen Wohnzimmerfenster, und einen letzten Abend für die Wand, hinter der mein Zimmer lag, das nun also vermietet werden sollte. Die Verwandlung war richtiggehend greifbar, sie war explosiv, ohrenbetäubend. Wir hatten uns zwar keinen Dschungel angeschafft, Mutter wollte etwas Diskreteres, aber wir hielten uns doch im selben botanischen Genre auf, mit wogenden Borten und Blumen, wie ein gelbbraunes Gebüsch im Herbst. Und als schon am nächsten Tag zwei Interessenten für das Zimmer kamen, war die Sache in Gang.
Oder auch nicht.
Mit den beiden, die sich das Zimmer ansahen, stimmte etwas nicht. Also kam ein Dritter, der fand, dass mit dem Zimmer etwas nicht stimmte. Und Mutter wurde von diesen Niederlagen ein wenig zurückgeworfen. War die Miete zu hoch? Oder zu niedrig? Früher hatte sie ab und zu auch darüber gesprochen, dass wir aus Årvoll wegziehen müssten, uns etwas Billigeres suchen, in der Gegend, wo sie früher gewohnt hatte, vielleicht, mit ihrem Mann, in Øvre Foss, wo man sich noch immer mit einem Zimmer und Küche zufriedengab. Aber in letzter Sekunde kam ein Brief in steiler Handschrift, von einer Ingrid Olaussen, die zweiunddreißig Jahre alt war und alleinstehend, schrieb sie, und die sich das Zimmer am nächsten Freitag gern ansehen würde, wenn das recht wäre.
»Ja, ja«, sagte Mutter.
Aber dann tat sie den drastischen Schritt, verschwunden zu sein, als ich am nächsten Tag zusammen mit Anne-Berit und Essi aus der Schule kam.
Das hatte ich noch nie erlebt.
Eine verschlossene Tür. Die nicht geöffnet wurde, als ich klingelte, wieder und wieder. Ich wurde total aus dem Konzept gebracht. Essi nahm mich mit zu sich nach Hause, wo seine Mutter, eine der wenigen Mütter, zu denen ich Vertrauen haben konnte, neben meiner eigenen, mich damit tröstete, dass Mutter sicher nur einkaufen gegangen sei, ich würde schon sehen, ich könne hier meine Aufgaben machen, zusammen mit Essi, der sicher ein wenig Hilfe bei der Mühe mit den Buchstaben brauchte, besonders gut im Rechnen sei er auch nicht.
»Du bist doch so tüchtig, Finn.«
Doch, ich kam gut zurecht. Das gehörte zu dem Vertrag zwischen Mutter und mir, dem zarten Gleichgewicht in einer Familie aus zwei Personen. Ich bekam Brote mit Cervelatwurst, die ich eigentlich sehr gern esse, konnte aber keinen Bissen hinunterbringen; es ist seltsam, wenn du erst eine Mutter hast, ist es nicht so leicht, wenn sie verschwindet. Ich saß neben Essi an seinem Schreibtisch und hielt einen Bleistift in der Hand und war ein Waisenkind und schrieb nicht einen Buchstaben. Das sah ihr so überhaupt nicht ähnlich. Jetzt war schon über eine Stunde vergangen. Es waren erst vierzehn Minuten. Erst als fast zwei Stunden vergangen waren, hörten wir draußen auf der Stichstraße einen Lärm, der sich als der Auspuff eines ausrangierten Lastwagens entpuppte, der versuchte, die Stichstraße vor dem Block im Rückwärtsgang zu bewältigen. Und dann sah ich auch Mutter, die in ihrem langen geblümten Schuhladenkleid aus dem Führerhaus sprang und zum Hauseingang lief. Auf den weinroten Autotüren stand »Storstein Möbel & Inventar«, in goldgeränderter Schönschrift. Ein riesiger Mann im Overall öffnete die Klappen, noch ein Mann sprang heraus, und gemeinsam enthüllten sie auf der Ladefläche ein Sofa, ein modernes Schlafsofa mit beigen, gelben und braunen Streifen, das Mutter also auf der fadendünnen Grundlage eines Briefes einer gewissen Ingrid Olaussen gekauft hatte, und zogen es von der Ladefläche und fingen an, es zur Haustür zu bugsieren.
Ich hatte schon den Ranzen auf dem Rücken und jagte die Treppen hinunter, über den Rasen und die Treppen hoch, hinter dem unhandlichen Möbelstück, das die beiden fluchenden Burschen nur mit Mühe und Not in den zweiten Stock und durch die Tür wuchten konnten, nachdem diese zum ersten Mal in meinem Leben eine Ewigkeit lang geschlossen gewesen war.
Drinnen stand Mutter mit resigniertem und angespanntem Gesicht, das auch nicht normaler wurde, als sie mich entdeckte, vermutlich wegen meines elenden Zustandes, und sofort fing sie an, sich zu entschuldigen – im Laden habe alles so lange gedauert. Aber in ihrem Trost lag keine Energie, und als sie ein Papier unterschrieben hatte und das neue Sofa an der Wand im Wohnzimmer stand, wo früher kein Möbelstück gewesen war, wo es im Grunde aber gut hinpasste, musste sie sich ein wenig hinlegen. Das musste ich auch. Ich legte mich neben sie und schnupperte an ihren Gerüchen und fühlte ihre Arme, als ich einschlief, Stiefmütterchen, Haarfestiger, Schuhladen und Siebenundvierzigelf. Ich wurde erst zwei Stunden später wieder wach, unter einer Decke, während Mutter in der Küche Abendessen machte, summend, wie immer.
An diesem Tag gab es kein richtiges Essen, es gab Speck und Spiegeleier, zu einer Art Abendbrot, was aber doch jedes normale Gericht ausstechen kann. Und beim Essen erklärte sie mir, dass es etwas namens Wohnkredit gebe, kurz gesagt bedeutete das, dass man nicht sparen musste, ehe man etwas kaufte, man konnte das noch nachher tun, was wiederum bedeutete, dass wir wohl auch nicht so lange warten müssten, bis wir uns auch ein Bücherregal anschaffen könnten, ganz zu schweigen von einem Exemplar des Fernsehapparates, der jetzt die Wohnungen in der Nachbarschaft eroberte, und ich würde nicht mehr zu Essi laufen müssen, wenn es etwas zu versäumen gab.
Das waren doch verlockende Aussichten. Aber sie hatte an diesem Abend doch etwas an sich, das mir Gedanken machte, als sei etwas in ihr zusammengebrochen und habe ihre Stille und ihre Sicherheit mitgenommen, und ich – der doch eben erst ein traumatisches Erlebnis gehabt hatte – schlief in dieser Nacht nicht so gut wie sonst.
Auch am nächsten Tag ging ich aus der Schule sofort nach Hause, und da war sie vorhanden. Mutter, die bereit war, Ingrid Olaussen zu empfangen, und die mich sofort mit etlichen Ermahnungen vorbereitete, als ob wir zu einem Examen müssten, ganz überflüssig natürlich, wenn ich etwas begriffen hatte, dann war das doch der Ernst der Lage.
»Stimmt was nicht?«, fragte ich.
»Wie meinst du das?«, fragte sie und schaute in den Spiegel, kam zurück und sagte sauer: »Du willst doch wohl nichts anstellen, oder?«
Ich wusste nicht einmal, worauf sie da anspielte. Und schon Sekunden später war sie wieder wie immer, schaute mich mitleidig an und sagte, sie könne ja verstehen, dass das hier nicht leicht für mich sei, aber es führe kein Weg daran vorbei, das sei mir doch klar?
Das war mir klar.
Wir waren einer Meinung.
Ingrid Olaussen kam eine halbe Stunde später als abgemacht, und es stellte sich heraus, dass sie im Frisiersalon im Lofthusvei arbeitete, so sah sie auch aus, wie eine Zwanzigjährige, obwohl sie also in Mutters Alter war. Sie hatte hochtoupierte rostrote Haare mit einem kleinen grauen Hut ganz oben, der war mit einer Reihe aus schwarzen Perltropfen dekoriert und sah aus, als ob er weinte. Außerdem rauchte sie Filterzigaretten, und nicht nur ihre Handschrift war krass, sie brachte es nämlich über sich, zu sagen, als sie einen Blick in das Zimmer geworfen hatte:
»Schlichter Standard, ja. Das hätte doch eigentlich in der Anzeige stehen müssen?«
Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber Mutters Gesicht durchlief drei, vier vertraute Stadien, dann platzte es ihr heraus, das könne man leicht sagen, wenn man keine Ahnung vom Preis einer Zeitungsannonce habe.
Bei dieser Mitteilung zog Ingrid Olaussen nur lange an ihrer Zigarette und sah sich nach einem Aschenbecher um. Ihr wurde jedoch kein Aschenbecher angeboten. Mutter wollte die ganze Angelegenheit nämlich hinter sich bringen und sagte, wir hätten uns die Sache eigentlich anders überlegt und brauchten das Zimmer selbst.
»Tut mir leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben.«
Sie öffnete ihr sogar die Wohnungstür. Aber da sah Ingrid Olaussen plötzlich zutiefst unglücklich aus. Ihr gutfrisierter Kopf sank langsam, aber sicher auf ihre Brust und ihr langer unbeholfener Körper geriet ins Schwanken.
»Um Himmels willen, ist Ihnen nicht gut?«
Mutter nahm sie am Jackenärmel und zog sie ins Wohnzimmer, setzte sie auf das neue Sofa und fragte, ob sie ein Glas Wasser oder eine Tasse Kaffee wolle.
Dann passierte etwas, das noch unbegreiflicher war. Ingrid Olaussen wollte gern eine Tasse Kaffee, doch, doch, aber ehe Mutter mit dem Kessel loslegen konnte, fing sie an, ihre langen schlanken Finger ineinander zu verschränken, wie um ein Tauende zusammenzuspleißen, und redete rasch und abgehackt über ihre Arbeit, über anstrengende Kundinnen, die, wenn ich das richtig verstand, dauernd an ihr herummäkelten, und über den hochnäsigen Chef, aber auch über etwas, das Mutter sofort ganz anders werden ließ, und sie jagte mich ins Schlafzimmer, ehe ich Klarheit in die Sache bringen konnte.
Durch die Tür hörte ich Reden und intensives Gemurmel, und etwas, das wie Weinen klang. Nach einer Weile schienen sie sich aber in irgendeiner Hinsicht zu einigen, es klang sogar wie ein zaghaftes Lachen. Und als Mutter endlich die Tür öffnete, glaubte ich, sie seien nun zu Busenfreundinnen geworden. Aber stattdessen stellte es sich heraus, dass Ingrid Olaussen verschwunden war, und Mutter war nachdenklicher denn je, als sie sich ans Kochen machte.
»Wird sie nicht hier wohnen?«, fragte ich.
»Nein, das kann ich dir sagen«, sagte sie. »Die hat ja keine fünf Öre. Und nix im Griff. Und Ingrid Olaussen heißt sie auch nicht ...«
Ich wollte fragen, woher Mutter das alles wusste. Oder mich erkundigen, wieso eine Wildfremde ihr das alles anvertraut hatte? Aber im Laufe der halben Stunde, die ich im anderen Zimmer verbracht hatte, hatte mich ein seltsames Unbehagen überkommen, und die Antwort auf die beiden Fragen musste doch sein, dass Mutter sie von früher her kannte oder dass sie sich in ihr wiedererkannte. Und ich wollte nichts davon bestätigt haben, und deshalb konzentrierte ich mich auf das Essen, hatte aber trotzdem ein ziemlich klares Gefühl, dass es an Mutter Seiten gab, über die ich keinen Überblick hatte, nicht nur ihr plötzliches Ausbleiben am Vortag, für das es trotz allem eine Erklärung gab, ein Sofa, sondern die Tatsache, dass eine Wildfremde unser früher so ereignisloses, jetzt aber allzu renoviertes Zuhause betreten und auf dem frisch gekauften Sofa zusammenbrechen und alle Geheimnisse von sich geben durfte, um dann gleich vor die Tür gesetzt zu werden, ich sah mich nicht nur einem unlösbaren Rätsel gegenüber, sondern einem Rätsel, auf das ich vielleicht keine Antwort haben wollte.
Ich blieb sitzen und musterte sie verstohlen, die nervöse, sich vor der Dunkelheit fürchtende, normalerweise aber so stabile und immerwährende Mutter, der Fels auf Erden und der Elefant im Himmel, jetzt jedoch mit einem Gesicht, das nicht wiederzuerkennen war.