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Nun wurde das Untermietprojekt glücklicherweise für einige Wochen stillgelegt, so, als fürchte meine Mutter, dass ein neues Mysterium vor der Tür stehen könnte. Aber wie gesagt hatten wir ja abgemacht, dass wir rückwärts sparen wollten, und deshalb führte kein Weg an einer neuen Anzeige in Arbeiderbladet vorbei, zu fünfzig Öre das Wort. Und noch immer war meine Mutter reizbar und unkonzentriert, ich bekam den falschen Belag auf meine Brote, sie hörte nicht zu, wenn ich etwas erzählte, und sie verhaspelte sich, wenn sie uns abends vorlesen wollte.

»Du kannst jetzt doch besser lesen als ich«, sagte sie zu ihrer Verteidigung, wenn ich sie darauf hinwies. Aber nicht deshalb hatte ich lesen gelernt, wir hatten eine Menge Bücher und wir würden sie alle lesen, Kinderbücher und Margit Söderholm und »Die Familie auf Jalna« und Kapitän Marryats »Sigismund Rüstig«, sowie das einzige von meinem Vater hinterlassene Buch, es hieß »Der unbekannte Soldat«, wir hatten es noch nicht gelesen, und laut meiner Mutter hatten wir auch nicht vor, es zu lesen, und alle Bücher waren in einem Karton im Schlafzimmer untergebracht, in Erwartung des Bücherregals, das wir vom Wohnkredit kaufen würden, wenn wir nur erst diesen verflixten Untermieter an Land gezogen hätten. Und als sie mir einmal nicht zuhörte, setzte ich mir plötzlich in den Kopf, ich sei ein anderer geworden. Es war kein klares und konkretes Gefühl, aber doch so eindringlich, dass ich fragte:

»Mit welchem von uns redest du jetzt, mit mir oder mit dem da drüben?«

Das kam gar nicht gut an.

»Wie meinst du das?«, fragte sie verärgert und hielt mir einen Vortrag darüber, dass ich ab und zu reichlich unverständlich sein könne, was sie schon mehrmals erwähnt habe, es hing vielleicht damit zusammen, dass ich ein Junge war und dass sie glaubte, der Umgang mit einer Tochter wäre leichter gewesen.

»Ich begreife nicht, was du da redest«, sagte ich sauer und ging in das Zimmer, das noch immer meins war, und legte mich aufs Bett, um allein zu lesen, in einer Jungen-Zeitschrift. Aber es war wie zumeist beim Protestlesen, ich konnte mich nicht konzentrieren, wurde nur noch wütender, als ich dort vollständig angezogen lag und mich fragte, wie lange ein kleiner Junge so liegen und darauf warten müsste, dass seine Mutter zur Besinnung kommen und ihm versichern würde, dass alles beim Alten sei, egal, ob Juri Gagarin uns alle in die Luft gehen ließ. Es dauert normalerweise nicht sehr lange, jedenfalls nicht hier in diesem Haus, aber jetzt geschah jedenfalls das Wunder, dass ich mitten in meiner Wut einschlief.

Erst am nächsten Morgen entdeckte ich, dass sie dort gewesen war, ich trug nämlich meinen Schlafanzug und lag unter der Decke. Ich stand auf, zog mich an und ging in die Küche. Wir frühstückten, wie immer, und lachten über irgendeinen Dussel im Radio, der Wörter benutzte wie Bariton und U Thant. Aber sie war doch noch immer aufreizend abwesend, und deshalb wurden wir nicht gänzlich versöhnt, so kam es mir vor, als die Tür gegenüber zuschlug und ich meine Knautschsamtjacke anzog und den Ranzen auf die Schulter nahm, um zusammen mit Anne-Berit zur Schule zu gehen.

Also war ich vielleicht doch ein anderer geworden?

Anne-Berit war jedenfalls dieselbe. Ich habe nie einen Menschen gekannt, der so weitgehend jede Möglichkeit nutzte, er selbst zu sein, hübsch, selbstsicher und phantasielos; bei ihr war keine Spur ihrer riesigen Eltern zu finden, niemals kam sie auf irgendeine ausgefallene Idee und sie lachte immer erst, wenn sie sicher war, dass es einen Grund zum Lachen gab, und den gab es in der Regel nicht. Aber das alles war an diesem Morgen eben in Ordnung, bis auf weiteres, denn während normalerweise ich derjenige bin, der etwas sagt, sagten wir jetzt beide nichts, und das Schweigen wurde nach und nach so drückend, dass sie fragte:

»Wassn los mit dir?«

Ich hatte noch immer keine besonders gute Antwort, wir konnten nur weiter über die grauen Lehmwege von Muselunden gehen, die laut Mutter und Frau Syversen viel weniger gefährlich waren als der Bürgersteig am Trondhjemsvei, auch wenn sich hier am Hang unterhalb der Straße die Stadtstreicher aufhielten, in kleinen schiefen Hütten, die in der schwarzen blattlosen Wildnis des Spätherbstes von allen Seiten her zu sehen waren und aussahen wie blutüberströmte Flugzeugunglücke. Hier hausten beängstigende Männer, die wir Gelb, Rot und Blau nannten, weil Gelb an einer Krankheit litt, die ihn gelb machte, Rot, weil er immer eine rote Visage hatte und Blau, weil er schwarz wie ein Zigeuner war, wie man sagte. Wir durften auf keinen Fall in ihre Hütten gehen, wenn sie riefen, denn dann würden sie uns in eine Mühle stecken und uns zu einer dünnen braunen Suppe zermahlen und uns zu Suppenwürfeln pressen, aber an diesem Tag war das kein Thema, sie waren nicht einmal zu sehen, und deshalb lieferten sie mir auch kein Gesprächsthema, und ich wäre gern auf irgendwen wütend gewesen.

»Meine Fresse, du bist ja öde«, sagte ich zu Anne-Berit, als wir den Schulhof betraten. Darauf antwortete sie nur:

»Kacke.«

Das war keine normale Aussage ihrerseits, auch wenn sie zu ihrem Temperament passte, und deshalb trennten wir uns im Unfrieden, sie ging zu ihrer Mädchenklasse und ich zu meiner gemischten Klasse, die eingerichtet worden war, um festzustellen, ob Jungen und Mädchen nebeneinander sitzen und zugleich etwas lernen könnten.

Es machte Spaß, in die gemischte Klasse zu gehen, auch wenn die hübschesten Mädchen in den reinen Mädchenklassen saßen, denn es ist ja oft so, je besser du andere kennenlernst, um so mehr Fehler haben sie. Aber hier konnte ich meinen Blick auf den schwarzen wallenden Haaren von Tanja ruhen lassen, die noch immer ein ziemliches Mysterium war, weil sie niemals etwas sagte und auf Fragen in einer Tonlage antwortete, bei der selbst Lehrerin Henriksen den Versuch aufgegeben hatte, sie lauter zu drehen. Aber sie drehte sich doch immer um, wenn ich etwas sagte, und bedachte mich dann mit einem kleinen Lächeln, das dafür sorgte, dass ich eigentlich nicht mehr zu leben brauchte; angeblich war sie Zigeunerin und wohnte in einem Zirkuswagen beim botanischen Garten in Tøyen, und das machte die Sache nicht einfacher, denn was ist verlockender als ein Volk, das mit der Gitarre um den ganzen Erdball zieht und stiehlt und Karussells laufen lässt?

Deshalb war es so gekommen, dass ich vor allem aufzeigte, damit Tanja sich umdrehte, und das versuchte ich auch an diesem Tag, zudem wollte ich das ganze Gewusel loswerden, das noch immer in meinem Kopf herumblubberte. Aber statt mit irgendeinem Witz zu brillieren, erkannte ich zu spät, dass ich dieses eine Mal meine Aufgaben nicht gemacht hatte, und ich brach in heftiges und unbegreifliches Weinen aus. Als das erst angefangen hatte, konnte ich es auch nicht in den Griff bekommen, ich hing wie ein Witz über meinem Tisch und heulte wie blöd, seltsamerweise bereits jetzt in dem vollen Bewusstsein, dass diese Sache mich teuer zu stehen kommen würde, und das machte die Sache ja auch nicht besser.

»Aber Finn, Lieber, was ist denn los?«

»Ich weiß nicht!«, schrie ich wahrheitsgemäß, und an sich war ich mit dieser Antwort ziemlich zufrieden, denn was, wenn mir die Wahrheit herausgeplatzt wäre: Mit meiner Mutter stimmt etwas nicht!

Die Lehrerin zog mich auf den Gang hinaus und konnte mich so weit beruhigen, dass ich verstand, was sie sagte; sie wollte mir einen Brief mit nach Hause geben und sich erkundigen, ob alles in Ordnung sei. Aber dagegen protestierte ich so energisch – mit einem neuen Tränenstrom –, dass sie abermals warten musste, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte, während ich an der Wand nach unten glitt und sitzen blieb und durch den menschenleeren Gang starrte, der mir vorkam wie das Echo in einem Krankenhaus, wo alle Kinder lautlos lachen und die Toten schon Flügel haben und Frau Henriksen, mit der ich normalerweise gut zurechtkam, plötzlich fragte:

»Hast du etwas gesehen?«

Ich fuhr zusammen.

»Was denn gesehen?«

»Nein, nein, ich meinte nur, ob du vielleicht ... etwas gesehen haben könntest.«

»Was denn gesehen?«, rief ich noch einmal, und der Abgrund unter mir klaffte noch weiter, denn nun war nicht nur meine Mutter anders und seltsam geworden, ich hatte es vielleicht auch gewusst, hätte es voraussehen können. »Ich hab keinen Scheiß gesehen!«, brüllte ich.

»Ganz ruhig, Finn«, sagte Frau Henriksen, nicht mehr so tröstlich, sondern eher überdrüssig, und ich saß da mit einigen plötzlichen Erinnerungen oder Wörtern im Kopf, Mutter und ich, die Wörter sammelten und darüber lachten oder sie leiden mochten oder sie dumm oder überflüssig fanden, Wörter, die so wirklich waren, dass man sie anfassen konnte, wie Beton und Auspuffgase, Piassava, Benzin, Leder, Jute ... Ich fiel in einen blauen Traum, in dem ich auf meinem neuen Rodelbrett fahren wollte, und ich weinte und quengelte, bis Mutter mich an der Hand nahm und mich mit wütendem Griff zu der Rodelbahn zog, die vom Trondhjemsvei den Hang hinunter führte; aber dort gab es keinen welligen klaren Fluss aus kaltem Glas mehr, sondern nur eine braune Lehmspur wie geronnenes Nasenblut in einem zerschlagenen Gesicht.

»Verstehst du jetzt?«, rief sie mit einer so schrillen Stimme, dass es meinen Ohren wehtat. »Der Winter ist vorbei! Jetzt ist Frühling!«

»Gehen wir wieder rein?«, fragte Frau Henriksen.

Ich schaute zu ihr auf.

»Ja«, sagte ich, stand auf und versuchte auszusehen, als ob wir in den vergangenen Minuten ein Abkommen getroffen hätten, als ob eigentlich rein gar nichts geschehen sei.

Aber die Nachricht meines Zusammenbruchs hatte natürlich den Schulhof erreicht und Anne-Berits Lächeln auf dem Nachhauseweg war nicht misszuverstehen. Jetzt waren Gelb und Blau aufgestanden – Rot ließ sich nicht sehen – und saßen vor ihren Hütten und tranken aus blanken Kannen und riefen, wir sollten zu Besuch kommen, damit Blau uns sein Eichhörnchen zeigen könnte, worauf Anne-Berit in ein seltsames Kichern ausbrach.

»Mörder!«, rief ich aus voller Kehle. Blau sprang auf und machte den Hitler-Gruß und brüllte etwas, das wir nicht hörten, denn wir liefen um unser Leben zur Jugendherberge hoch und kamen erst zur Ruhe, als wir am Tennisplatz vorüber waren, wo ich entdeckte, dass einige von meinen Kumpels ein Feuer machten, und ich fragte Anne-Berit, ob sie mitkommen wollte.

Sie blieb stehen und musterte mich forschend und erwähnte zuerst, dass ihre Mutter es nicht mochte, wenn ihre Kleider nach Rauch stanken, schon gar nicht nach dem von Teerpappe, dass ich schon genug Lehm an den Schuhen hätte und allerlei anderen Unfug, für ihre Verhältnisse ungewöhnlich redselig, deshalb glaubte ich, sie habe meinen Zusammenbruch schon vergessen.

Aber später am Abend hörte ich die Türklingel, und Frau Syversen kam herein und führte ein leises Gespräch mit meiner Mutter, die gleich danach herüberlief und mit übereinandergeschlagenen Armen in die neue Türöffnung trat und mich wie einen Fremden musterte, als ich abermals auf dem Bett lag und zu lesen versuchte.

»Was ist eigentlich in letzter Zeit mit dir los?«, fragte sie so gelassen, dass ich nicht einfach abwehren konnte. Aber ich konnte auch sonst nicht viel tun, deshalb blieb ich liegen und starrte in mein Comic-Heft, bis die Situation einem Stellungskrieg ähnelte – hatte ich vielleicht doch etwas gesehen?

Aber auch jetzt tat sie nicht das, was eine Mutter tun sollte, um einen verlorenen Sohn heimzuholen, sie schüttelte nur melancholisch ihre Locken und ging wieder in die Küche. Aber sie ließ die Tür offenstehen, die Tür zum Untermieterzimmer, die Frank eingebaut hatte, und die Wohnzimmertür, deshalb konnte ich hören, dass sie mit Spülen anfing, was meine Aufgabe war und meistens auch eine Pflicht, vor der ich mich nicht drücken konnte, während sie abtrocknete und wegräumte.

Ich warf die Zeitschrift zur Seite und ging in die Küche und schob sie vom Spülbecken weg, aber dieses eine Mal spritzte ich nicht und fuchtelte auch nicht mit der Spülbürste herum, mit dem Ergebnis, dass wir dort standen wie ein altes Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat, und Milchgläser und Teller und Gabeln spülten und abtrockneten, im Wettbewerb um die große Goldmedaille für das längste Schweigen, das jemals hier in dieser Wohnung geherrscht hat.

Aber ich hatte für diesen Tag genug geflennt, das merkte ich, deshalb hielt ich durch, bis ich merkte, verdammt, jetzt pruste ich gleich los. In diesem Moment schlug ich mit der Bürste in das verdreckte Wasser, so dass es ihr ins Gesicht spritzte. Sie fuhr zurück und heulte wütend auf, riss sich dann aber zusammen und blieb mit seltsamer düsterer Miene stehen, die eine Hand auf die Hüfte gestützt, die andere vor die Augen geschlagen, dann ließ sie sich auf den nächstbesten Küchenstuhl sinken und sagte mit apathischer Miene, während ihr das Seifenwasser aus den Haaren lief:

»Du hast eine Schwester.«

»Hä?«

»Eine Halbschwester.«

Dazu gab es nicht sehr viel zu sagen. Ich wusste doch von dieser Schwester, die irgendwo dort draußen in der Welt herumsaß und eine Waisenrente bezog, die uns zugestanden hätte. Aber dann ging es mir auf.

»Die Friseuse?«

»Ja.«

Ja. Die Friseuse. Ingrid Olaussen, die übrigens nicht Ingrid Olaussen hieß, war die Mutter dieses Mädchens, das Linda hieß und sechs Jahre alt war, und sie hatte unsere Anzeige in der Zeitung gesehen, weil wir so dumm gewesen waren, keine Chiffre zu nehmen, sondern unseren Namen, aber wer zum Henker denkt auch an sowas?

»Chiffre?«

Die nächste Auskunft kam nicht so rasch. Mutter musste sich zuerst abtrocknen. Das erledigte sie im Badezimmer, lange und sorgfältig, während ich auf dem Fußschemel stand, wozu ich eigentlich zu groß war, und die Spülbürste anstarrte, mit der ich im fahlen Seifenwasser langsame Kreise zog, bis mir schwindlig wurde und sie wieder aus dem Badezimmer kam und die Schminke entfernt hatte, die im Schuhladen nötig war und so aussah, wie sie am Wochenende immer aussah, wenn wir nur zu zweit waren, dann war sie auch am hübschesten.

»Aber sie kann sich nicht um sie kümmern«, sagte sie und verstummte. Und ich musste wieder auf meinem Piedestal stehen und grübeln und leiden und mit der Bürste wedeln, bis die Fortsetzung kam, denn ich brachte es noch immer nicht über mich zu fragen, und sie sprach so langsam und behutsam mit mir, wie man einem Säugling Medizin einflößt, sie erzählte, dass Ingrid Olaussen nicht nur Witwe war, sondern auch drogensüchtig, zum ersten Mal hörte ich dieses Wort, sie war Morphinistin, na gut.

»Und das erzähle ich nur, weil ich weiß, dass du groß genug bist, um es zu verstehen«, sagte Mutter. »Wenn du dir die Sache erst genauer überlegt hast.«

Aber:

»Soll die hier wohnen?!«

Endlich ging es mir auf. »Du hast es die ganze Zeit gewusst!«, rief ich plötzlich wütend. »Wir haben renoviert und einen eigenen Eingang machen lassen, weil sie hier wohnen sollen!«

»Nein, nein«, fiel sie mir ins Wort, erst jetzt auf eine Weise, die Vertrauen erweckte, wonach ich ein starkes Bedürfnis hatte. »Sie kann sich nicht um die Kleine kümmern. Ich habe mich erkundigt und ... sie kommt ins Waisenhaus, wenn nicht ...«

»Sie soll also hier wohnen?«

Mutter saß bewegungslos da, schien aber trotzdem zu nicken. »Wir kriegen keinen Untermieter«, fragte ich verzweifelt weiter.

»Das schon ...«

»Wir kriegen einen Untermieter und eine Schwester?«

»Ja.«

»Aber nicht die Friseuse?«

»Sie ist keine Friseuse, Finn! Nein, sie muss in Behandlung, ich weiß nicht ...«

»Dann soll sie nicht hier wohnen!«

»Nein!, sag ich doch. Und jetzt hörst du zu!«

Zehn Minuten später. Mutter sitzt auf dem neuen Sofa mit einer Tasse Liptons Tee und ich im Sessel mit einer Flasche Solo, obwohl es doch mitten in der Woche ist. Wir fühlen uns wohler als irgendwann in den letzten zehn Minuten. Wir sind auf einer Wellenlänge. Einer neuen Wellenlänge, denn ich bin noch immer ein anderer, bin nur ein wenig mehr daran gewöhnt, es hängt mit Mutters plötzlicher Vertraulichkeit zusammen, denn auch sie ist eine andere, wir sind zwei Fremde, die hier sitzen und vernünftig darüber reden, wie wir eine weitere Fremde in Empfang nehmen sollen, ein sechs Jahre altes Mädchen, das Linda heißt und die Tochter eines Kranführers ist, der zufällig auch mein Vater war.

Ich sehe ein, dass es keine leichte Entscheidung gewesen sein kann, meine Mutter ist in unserem früheren Leben nicht gerade übergelaufen von guten Worten über diese Witwe und ihre Tochter, aber jetzt ist sie offenbar von einem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn getroffen worden; Solidarität würden manche es wohl nennen, aber wir sind nicht von der eingebildeten Sorte, wir haben einen Wohnkredit und sind unergründlich. Und innerhalb dieser beiden Wochen hat Mutter nicht nur die Kosten berechnet, wie sie mir jetzt erzählt, sie hat sich auch gefragt, was die Leute sagen werden, wenn wir sie nicht aufnehmen. Und wie würden wir uns dann fühlen? Und wie würde es der Kleinen im Waisenhaus ergehen? Um nicht zu sagen, wie würde ich später im Leben begreifen: Wäre es nicht vorzuziehen, die Witwe zu sein, die es schaffte, das zu tun, was getan werden musste, statt die zu sein, die das Handtuch warf und sich ihrer Verantwortung entzog, aufgrund von etwas so idiotisch selbst Verschuldetem wie Drogenmissbrauch?

Hier roch es ganz einfach nach einem Sieg, für Mutter, über die Person, die mit Mutters Kranführer durchgebrannt war und die vielleicht auch die indirekte Ursache dafür gewesen war, dass er gestürzt war, der Mann, dessen Erinnerung Mutter noch immer so wehtat, dass seine Fotos in einer verschlossenen Schublade begraben sein mussten.

Damit muss ich auch über die Frage nachdenken, die noch nicht beantwortet worden ist, die der Waisenrente.

»Nein, von der werden wir wohl nichts zu sehen bekommen«, sagte Mutter, wenn auch mit leicht brüchiger Stimme. »Ich habe nicht vor, sie zu adoptieren. Und ...«

Aber darauf will ich eigentlich nicht hinaus. Ich will auf die Frage hinaus, ob Mutter durch diese neue Aufgabe endlich die Gelegenheit sieht, ihren Wunsch nach einer Tochter zu erfüllen? Aber dann überlege ich mir die Sache anders und halte den Mund, vermutlich, um unser neues Gleichgewicht nicht zu zerstören. Ich trinke meine Limonade und gehe ins andere Zimmer und mache Hausaufgaben, mit offenen Türen, damit wir einander hören können, Mutters leise Haushaltsgeräusche im Wohnzimmer und in der Küche, das Radio mit Abendsonate und Fischereibericht, das bedeutet, dass die Schlafenszeit näherrückt. Ich kann am Bleistift herumnagen und zu dem Block hinüberschauen, in dem Essi wohnt, ich kann aus zusammengekniffenen Augen das Licht in seinem Fenster anstarren, das in diesem Moment gelöscht wird, die Lichter in den Zimmern aller meiner Kumpels, Hansa und Rogern und Greger und Vatten, die Wohnsiedlung, die ein Auge nach dem anderen zukneift, während ich vor der Matchboxreihe auf der Fensterbank sitze und mich aus irgendeinem Grund auf etwas freue, das mir noch vor zwei Wochen als Katastrophe erschienen wäre: eine Schwester, eine kleine Schwester.

Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte

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