Читать книгу Der Sommer in dem Linda schwimmen lernte - Roy Jacobsen - Страница 6
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ОглавлениеAber zuerst musste der Mieter herbeigeschafft werden, unsere neue Einkommensquelle. Und das war noch immer keine Kleinigkeit. Wir bekamen innerhalb von ebenso vielen Tagen drei weitere Besuche: meine Mutter servierte Kaffee und Kuchen für eine junge Frau, die Doris Day ähnelte wie ein Ei dem anderen, die aber zwei verfaulte Zähne hinter ihrem blutroten Lippenstift zeigte, als sie sich vergaß und lächelte, worauf die Verhandlungen ins Stocken gerieten.
Dann erschien ein älterer Mann, der nach Schnaps und etwas undefinierbar Fauligem roch, und der nichts über sich sagen konnte, und obwohl er mit mehr Hundertern winkte, als ich je gesehen hatte, wurde auch er wieder hinauskomplimentiert.
Danach stellte sich noch ein Mann ein, in Hut und Mantel, ein leicht zerstreuter, aber sympathischer Mann, der nach Rasierwasser von der Sorte roch, die Frank sonntags benutzte und von der ich – von Anne-Berit – wusste, dass sie Aqua Velva hieß und dass man sie auch trinken konnte, im Notfall. Er hatte klare, ruhige und farblose Augen, die nicht nur Mutter mit einer gewissen Neugier musterten, sondern auch mich. Er sei Seemann gewesen, sagte er, nun wieder an Land, er arbeite jetzt in der lukrativen Baubranche und brauche eine Zwischenstation, während er sich etwas Eigenes suche.
Wir hatten das Wort »Zwischenstation« noch nie gehört, und auch nicht »etwas Eigenes«. Aber dieser Mann hatte etwas Modernes und Tröstliches, wie ein Gebildeter, erklärte Mutter später. Im Grunde wirkte er ganz einfach normal, oder so, wie wir uns einen Untermieter vorgestellt hatten, abgesehen davon, dass er Hut und Mantel trug, wie ein Filmschauspieler. Was aber den Ausschlag gab, war wohl die folgende Bemerkung, als er in der neuen Tür stand und zu meinem Schreibtisch mit allen Matchbox-Autos und Comic-Heften hinüberschaute und langsam nickte:
»Gemütlich.«
»Ja, nicht wahr ...«
»Aber kein Platz für einen Fernseher, wie ich sehe.«
»Sie haben einen Fernseher, ja«, sagte Mutter, als sei es natürlich, einen Fernsehapparat zu haben, wenn man nicht einmal eine Wohnung hatte. »Dann stellen wir ihn eben ins Wohnzimmer«, sagte sie mit einer koketten Handbewegung, und er erwiderte ihr Lächeln mit einem schlichten:
»Ja, natürlich, ich benutze ihn ohnehin nicht sehr viel.«
Und damit war die Sache gewissermaßen entschieden.
Er hieß Kristian und zog am folgenden Samstag ein. Ich war inzwischen zu Mutter übergesiedelt, die plötzlich nicht mehr so recht wusste, wohin mit sich. Nach einigem Hin und Her kam es dazu, dass auch sie eine Zwischenstation einlegte, in ihrem eigenen Schlafzimmer, dass sie also dort blieb, wo sie immer schon gewesen war, dort, wo wir ansonsten mit den Vorbereitungen zum Empfang unseres neuen Familienmitglieds beschäftigt waren, der sechsjährigen Linda.
»Das muss doch seltsam für dich sein«, sagte Mutter und sah mich mitfühlend an.
Nein, ich fand es gar nicht seltsam, jetzt hatte ich Blick auf die Blocks gegenüber, und auch dort hatte ich Freunde genug. Wir hatten außerdem das Glück, dass mein Bett eigentlich ein Etagenbett war, das Mutter billig drei Jahre zuvor gekauft und dann zerteilt hatte. Teil 2 stand auf dem Dachboden. Wir brauchten es nur herunterzuholen und auf mein Bett zu montieren, eine einfache Operation, bei der nicht einmal Franks Hilfe benötigt wurde.
Aber es gab noch etwas anderes, was Mutter Sorgen machte, und das war der Fernseher, der jetzt wirklich im Wohnzimmer stand und niemals eingeschaltet wurde, denn nach Kristians Einzug sahen wir eine Zeit lang kaum etwas von ihm, außer seinem Mantel und seinem Hut, die auf einem ihm angewiesenen Platz in der Diele hingen, neben Mutters zwei Mänteln und meiner Knautschsamt-Jacke. Er hatte nicht gefragt, ob zu dem Zimmer auch Küchenbenutzung gehörte, was nicht der Fall war, er hatte nur Zugang zu Badezimmer und Klo, mit einem Wannenbad in der Woche. Dann aß er wohl auswärts, oder er verzehrte belegte Brote in seinem Zimmer, privat, falls er überhaupt dort war, es war nämlich kein Laut zu hören. Eines Abends fand Mutter, es reiche jetzt, und sie ging in die Diele und klopfte an.
»Bitte einzutreten«, hieß es. Wir traten ein. Und da saß Kristian mäuschenstill in einem weinroten Sessel und las eine Zeitung, die ich noch nie gesehen hatte.
»Wollen Sie denn niemals Ihren Fernseher benutzen?«, fragte Mutter.
»Schalten Sie ihn nur ein, mir ist der ganze Apparat eigentlich scheißegal.«
Das war ein Sprachgebrauch, von dem ich wusste, dass er Mutter nervös machte. Und das wollte sie sich verbeten haben.
»Haben Sie gegessen?«, fragte sie beleidigt.
»Ich fresse nie nach fünf«, sagte Kristian mit derselben tonlosen Stimme, den Blick noch immer in die Zeitung gerichtet.
»Was sagen Sie denn da«, sagte Mutter. »Kommen Sie jetzt und essen Sie mit uns zu Abend.«
Und Kristian tat genau das, was ich immer tue, wenn sie so anfängt, er erhob sich mit einem müden Lächeln und sagte, danke.
»Aber das darf nicht zu einer Gewohnheit werden«, fügte er hinzu, als wir hinausgingen.
»Machen Sie sich keine Hoffnungen«, gab Mutter zurück, erleichtert, weil der Satz mit dem »scheiß« offenbar nur ein Einzelfall gewesen war. »Setzen Sie sich dorthin.«
»Wenn du aufhörst, mich zu siezen, dann ja«, sagte Kristian und setzte sich an das Ende des Tisches, an dem noch nie jemand gesessen hatte. »Das gehört sich nicht.«
»Ach?«, fragte Mutter und schnitt Vollkornbrot in dünnere Scheiben als sonst.
»Nein, wir sind doch Arbeitsleute.«
Das war ja auch eine seltsame Begründung. Aber hier war ich Kristians Ansicht, diese Sprache, auf die Mutter sich immer dann verlegte, wenn sie mit der Umwelt in Berührung kam, und die im Schuhladen so notwendig war, die gehörte doch eigentlich an keinen anderen Ort als eben in den Laden.
»Und was will der Sportsfreund einmal werden?«, fragte er mich.
»Schriftsteller«, sagte ich sofort und Mutter prustete los.
»Er weiß nicht einmal, was das ist.«
»Nein, und das kann doch ein Vorteil sein«, sagte Kristian.
»Ach?«, fragte Mutter noch einmal.
»Ja, es ist ein anspruchsvoller Beruf«, sagte Kristian und schien fast zu wissen, wovon er redete. Mutter und ich wechselten einen Blick.
»Hast du den Unbekannten Soldaten gelesen?«, fragte ich.
»Hör jetzt auf«, sagte Mutter.
»Natürlich«, sagte Kristian. »Ein phantastisches Buch. Aber das weißt du sicher noch nicht?«
»Nein«, gab ich zu. Aber die Stimmung war jetzt so locker, dass ich mich auf das Essen konzentrieren konnte, während Mutter lächelte und sagte, Kristian dürfe nicht überrascht sein, wenn er hier bald auf ein kleines Mädchen stieße, denn wir erwarteten Familienzuwachs. Kristian sagte, das sei ihr aber wirklich nicht anzusehen. Und sie lachten einander auf eine Weise an, die ich gar nicht zu beschreiben versuchen will, ich will nur erwähnen, dass Kristian aß, wie er ging und stand, ruhig und würdevoll, und er wartete nach jeder Schnitte, bis Mutter ihn zu einer neuen nötigte, und er solle doch auch mehr Aufschnitt nehmen. Sie konnte nicht begreifen, was das für eine Idee sei, nach fünf nicht mehr zu essen, während Kristian meinte, dass wohl alle hier im Lande bald lernen müssten, was Askese bedeutet.
»Denn es steht nicht fest, dass das hier so bleibt.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Mutter spitz. Und er zeigte fröhlich mit dem Messer auf sie und lächelte.
»Jetzt hast du es wieder getan, hast mich Sie genannt.«
Aber ich konnte mir das nicht anhören, es juckte mir ohnehin schon viel zu lange in den Fingern, ich wollte den Fernseher einschalten. An den vergangenen Abenden hatten wir im Wohnzimmer gesessen, Mutter mit ihrem Strickzeug und ihrer Teetasse, ich mit einer Zeitschrift, und hatten unruhige Blicke zu dem teakbraunen Koloss hinübergeworfen, der dort stand und uns mit seinem grünschwarzen blinden Auge anstarrte. Was in diesem Kasten steckte, war die Zukunft. Die Welt. Groß und unbegreiflich. Schön und rätselhaft. Eine langsam wirkende mentale Atomexplosion. Wir wussten das nur noch nicht. Aber wir ahnten es. Und der Grund, aus dem es noch immer totenstill bleiben durfte, war unter anderem der, wenn ich Mutter richtig verstand, dass der Untermieter das Gefühl haben könnte, dass wir ihn ausnutzten, wenn sie mir erlaubte, auf den elfenbeingelben Einschaltknopf zu drücken. Oder er könnte auf seiner Zwischenstation die Geräusche hören und sich eingeladen fühlen, hervorzukommen und sich in größeren Bereichen breitzumachen, als der Vertrag ihm erlaubte, er könnte in unserem Wohnzimmer sitzen und dazu gewissermaßen berechtigt sein, Abend für Abend, die Sache hatte viele Seiten, es half nichts zu schreien:
»Ich will einschalten!«
Wir mussten so tun, als ob der Kasten nur zur Aufbewahrung bei uns sei. Und nichts hätte weniger zur Aufbewahrung sein können. Mutter las sogar die Fernsehprogramme in der Zeitung, es gab die Schlagerparade mit Erik Diesen, und wir hätten vielleicht »Seemann« oder »Das Leben in Finnskogene« hören können, was es sonst nur im Wunschkonzert gab, und was war mit »Alles oder nichts«, was Essi mir als ein achtes Weltwunder beschrieben hatte?
Aber als ich endlich vom Tisch aufstand und ganz einfach ins Wohnzimmer ging und auf den Knopf über dem Tandberg-Schildchen drückte, passierte rein gar nichts. Nicht ein Geräusch. Nicht ein Lichtfunke. Dann donnerte ein knisternder Schneesturm in mein Gesicht und Kristians Stimme erklang aus der Küche:
»Wir müssen den zuerst anmelden. Und er braucht eine Antenne.«
Er stand auf und ging ins Untermieterzimmer und wühlte in einem Kasten und kam mit etwas heraus, das er als Zimmerantenne bezeichnete, es ähnelte den galvanisierten Fühlhörnern eines Riesenkäfers und war Kristians Aussage nach nur Müll. Aber als er es montiert hatte, konnten wir immerhin Fische sehen, die hinter etwas Wogendem und Welligem herumschwammen, das aussah wie die Tapete bei Syversens.
»Ich besorge eine richtige Antenne«, sagte Kristian und drehte an den Fühlhörnern, so dass die Wellen wuchsen und schwanden.
Wir sahen die deformierten Fische an. Mutter saß auf der Sofakante, mit aneinandergepressten Schuhladenknien und schräger, abwartender Haltung, als warte sie auf den Bus; Kristian stand breitbeinig und mit übereinandergeschlagenen Armen mitten im Zimmer und schaute aus der Balkontür, wo vermutlich die richtige Antenne angebracht werden sollte. Er setzte sich erst, als Mutter ihn dazu aufforderte, und auch er setzte sich nur auf die Stuhlkante, die Ellbogen nachdenklich auf die Knie gestützt, das Kinn berührte die Fingerknöchel nur ganz leicht, so dass auch er etwas Vorläufiges hatte. Ich war als Einziger wirklich anwesend. Aber an diesem Abend wurde die erste Grundlage für etwas gelegt, das ich damals wohl als Freundschaft empfand.
Es stellte sich nämlich heraus, dass Kristian ein Anhänger der Zahlen war, wie ich, Rundenzeiten, Jahreszahlen, Autonummern, wenn ich erst etwas gelernt hatte, dann saß es. Er wusste zum Beispiel, dass es in Norwegen über sechzigtausend Fernseher gab, also fast in jedem zehnten Haushalt einen, in den USA gab es schon Farbfernsehen, fast in jedem Haus. Er benutzte Wörter wie »intelligent« und »Entwicklung« und »sporadisch«, Begriffe, zu denen Mutter und ich nur ein sehr vages Verhältnis hatten. Nach den Fischen füllte ein großes asiatisches Gesicht den Bildschirm, das, wie sich herausstellte, dem Mann mit dem albernen Namen U Thant gehörte, über den wir herzlich gelacht hatten, wenn er im Radio erwähnt wurde, aber Kristian wusste, dass U Thant offenbar intelligent und weitsichtig war – so heißt es, fügte er hinzu. Und schon diese kleine Bemerkung sagte uns, dass U Thants mentale Ausrüstung nicht nur die Einschätzung eines einzelnen Untermieters sein konnte, sondern etwas in Richtung einer Mehrheitsentscheidung, eine Wahrheit, geboren aus dem gelinde gesagt spekulativen »heißt es« und »offenbar« – es lag eine schleichende und unwiderstehliche Logik in so gut wie jedem Satz, den er aussprach. Und obwohl er in den nächsten Minuten sowohl Arschloch sagte (einmal) und Hinkefuß und malochen und blaumachen, dachten wir wieder, er könnte vielleicht ein gebildeter Mann sein, und ich sah Mutter an, dass sie das vielleicht noch nervöser machte als das Vulgäre, ich meine, fluchen kann jeder, auch hier hatte es allerlei Ausdrücke gehagelt, als die Tür zu meinem alten Zimmer ausgebaut worden war. Es war wohl die Mischung, die sie umwarf, dass ein und derselbe Mensch Wörter wie Arschloch und sporadisch enthielt, als sei der Bursche eine Promenadenmischung, ein Mann ohne Heimat, und das ist, wie jeder weiß, ein Zigeuner, was wiederum falsch und unzuverlässig bedeutet, hatten wir uns also hier in unserer Idylle ein trojanisches Pferd aufstellen lassen?
Der Abend endete mit einem kurzen Befehl von Seiten meiner Mutter.
»Ja, nein, jetzt ist wohl Schlafenszeit.«
Sie stand auf und zog ihren Rocksaum nach unten. Nun sprang auch Kristian auf, wie auf frischer Tat ertappt.
»Ja, doch, morgen ist ja auch noch ein Tag. Gute Nacht.«
Er ging in sein Zimmer, kam aber wieder heraus und sagte, »danke für das Essen, das habe ich wohl vergessen«, und legte ein schwarzes Fünf-Öre-Stück auf den Fernseher, damit ich es mir nehmen könnte, ein Fünf-Öre-Stück aus Kriegszeiten, er erzählte, er habe selbst einmal Münzen gesammelt, ich machte das sicher auch.
Mutter und ich konnten endlich ins Badezimmer gehen, zur Abendtoilette, die umfassender geworden war, seit wir den Untermieter hatten, denn sie musste bis zum letzten Moment damit warten, ihre Schuhladenschminke zu entfernen, während ich mit der Zahnbürste in der einen und dem Fünf-Öre-Stück in der anderen Hand auf der Badewannenkante saß.
»Was sagst du?«, fragte sie und schaute mich im Spiegel an.
»In Ordnung«, sagte ich, über den Fernseher, auch wenn der – wegen des Programmprofils vermutlich – meinen Erwartungen nicht ganz entsprochen hatte, aber das wäre auch nicht so leicht gewesen und ich würde am nächsten Tag in der Schule immerhin etwas zu erzählen haben.
»Seltsam«, sagte sie.
»Was denn?«
»Ich hoffe bloß, wir haben keine Dummheit begangen.«
»Hä?«
»Hast du die Hände nicht gesehen, nie im Leben arbeitet der auf dem Bau.«
»Wie meinst du das?«
»Du hast doch die Hände von Frank gesehen ... äh, von Herrn Syversen.«
Ich begriff nicht, worauf sie hinauswollte, aber ich schaute auf meine linke Hand, die mit dem Fünf-Öre-Stück, daran war nichts auszusetzen.
»Hoffentlich ist der kein Snob«, sagte Mutter.
Ich wusste nicht, was ein Snob war, und fand auch nicht, dass dieses Wort sonderlich gut zu Kristian passte, nachdem sie es erklärt hatte.
An den folgenden Tagen stellte es sich heraus, dass der neue Untermieter allerlei Dinge hatte, die jeder sich hätte denken können, ein Bajonett aus seiner Soldatenzeit, ein Mikroskop in einem mit Messing beschlagenen Holzbehälter, einen Lederbeutel mit achtundzwanzig Stahlkugeln, die in den Kugellagern von gelben Baggern gesteckt hatten und die man als Klicker nehmen oder einfach in der Hand halten konnte – was für unvergleichlich herrliche Gegenstände zum In-der-Hand-Halten. In einem weiteren Holzkasten hatte er einen kleinen Kreisel aus Messing, mit einem aufgemalten grünen Spiralmuster, von dem einem beim Hinsehen schon schwindlig wurde. Dazu kam noch ein Schachspiel mit Stahlfiguren, das er angeblich selbst hergestellt hatte, wie auch den Kreisel, er sei nämlich gelernter Werkzeugmacher. Aber er habe sich als Werkzeugmacher nicht wohlgefühlt, aus Ursachen, die er erklärte, von denen ich aber nichts verstand. Dann war er also Seemann geworden, und das hatte ihm gut gefallen, bis sein Schiff westlich von Irland untergegangen war. Dann hatte er nicht mehr zur See fahren wollen und war zu seinem alten Beruf zurückgekehrt, der sich inzwischen aber nicht verändert hatte, und deshalb war er schließlich auf dem Bau gelandet.
Wir kamen also nicht weiter mit dieser Unternehmung, die Mutter zufolge nicht zu seinen Händen passte, bis sie ihn eines Abends ganz offen fragte, nachdem er – pünktlich – die Miete für den ersten Monat bezahlt hatte.
»Ich bin vor allem mit Gewerkschaftsarbeit beschäftigt«, sagte er kurz und ging auf sein Zimmer, und Mutter und ich blieben stehen und sahen einander fragend an.
»Himmel«, sagte meine Mutter.
Damit wurde dieses Mysterium von einem anderen abgelöst. Warum konnte Kristian nicht so wie wir die Karten auf den Tisch legen, wo er schon bei uns wohnte und auf eine Weise sympathisch wirkte, die uns dazu brachte, ihn zu mögen?
Jetzt war es Mutter, die sich ängstigte. Ich hatte mich längst mit Kristian dem Seemann und Werkzeugmacher abgefunden, so sehr, dass auch das zum Problem wurde, nämlich, weil Mutter mir untersagte, zu ihm zu gehen, wann ich wollte, und das war so gut wie jeden Abend. Ich klopfte an, er sagte »herein«, und ich ging hinein und starrte ihn an, bis er von seiner Zeitung aufschaute und zu dem Stuhl hinübernickte, für den Platz neben dem Sessel war, in dem er selbst saß. Dann las er noch ein oder zwei Minuten, während ich mit den Händen zwischen den Knien dasaß und seine Bücher ansah, den Beutel mit den Stahlkugeln, der an einem Haken in der Wand hing, das Schachbrett, bis er mit Lesen fertig war und fragte, ob ich meine Hausaufgaben gemacht hätte.
»Ja«, sagte ich.
»Ich habe nie Hausaufgaben gemacht«, sagte er.
Das beeindruckte mich nicht sonderlich. Ich hatte eine Menge Freunde, die keine Aufgaben machten, und das brachte ihnen nur Ärger ein; Wörter und Zahlen waren außerdem witzig, und das sah er mir wohl an.
»Du bist ein komischer Vogel«, sagte er.
»Du auch«, sagte ich. »Können wir durchs Mikroskop schauen?«
»Ja, ja, nimm es nur heraus.«
Ich nahm das Mikroskop aus dem Kasten und brachte Spiegel und Gläser an, und wir betrachteten die Oberfläche eines Kronenstückes; sie sah unmöglich aus, kreuz und quer Kratzer so tief wie Gebirgsschluchten, alles, wofür man mit bloßem Auge blind ist.
»Weißt du, was das da ist?«, fragte Kristian.
»Nein.«
»Das ist die Geschichte dieser Münze, schau her, die Jahreszahl 1948; seit damals ist sie durch Tausende von Händen gegangen, hat in Spardosen und Kassen und Taschen und Automaten geklappert und ist vielleicht aus einem Taxi gefallen und durch die Storgata getanzt, in einer Nacht, voller Regen, und ein Bus hat sie überfahren, ehe ein kleines Mädchen sie am nächsten Morgen auf dem Schulweg gefunden und in die Sparbüchse gesteckt hat. Das alles sind Spuren, es ist die Geschichte der Münze, weißt du, was Geschichte ist, Junge? Geschichte ist Abnutzung. Sieh zum Beispiel her, schau mir in die Visage, die ist voller Falten, obwohl ich erst achtunddreißig bin, und sieh dir deine eigene an, glatt wie ein Kinderpopo, und der Unterschied zwischen uns besteht nur aus Abnutzung, knapp dreißig Jahren Abnutzung, wie der Unterschied zwischen dieser Münze dort und einer Krone, die gestern erst geprägt worden ist, wie diese hier, zum Beispiel«, er zog eine ganz neue Münze hervor, mit einem Pferd, wo auf den früheren die Krone gewesen war, und die durfte ich unter das Mikroskop legen. Und sie war wirklich so glatt wie ein Meer ohne Wind. Bis wir das Objektiv austauschten und sie noch genauer ansahen, nun stellte es sich heraus, dass sogar die Oberfläche einer neuen Münze matt ist, bedeckt von Milliarden von winzigen Partikeln, die Kristian »kristalline Späne« nannte und die von der Abnutzung entfernt werden sollten – eine neue Münze hat mit anderen Worten ihren glattesten Zustand noch nicht erreicht, mit anderen Worten, ihren Höhepunkt als Münze, wenn sie vom Prägestock ausgespuckt wird, sondern dann, wenn so in etwa der sechsundzwanzigste oder dreiundvierzigste Besitzer sie aus der Tasche fischt und damit bei Åsbua in Bjerke für eine Wurst mit Fladen und Senf bezahlt – das ist der Höhepunkt in der Geschichte der Münze, wenn sie aus der Hand eines hungrigen Kunden gleitet und auf dem Tresen eines satten Würstchenverkäufers landet. Von nun an geht es bergab mit ihr, unerbittlich, auch wenn es seine Zeit dauert, hast du je eine total verschlissene Münze gesehen?
»Nein.«
»Dann geh ins Wohnzimmer und hol den Lexikonband mit dem S auf dem Rücken.«
Ich gehorchte und wir schlugen König Sverre nach, ein Höhepunkt an sich, was die Abnutzung unseres Landes angeht, aber Sverre war nicht nur Krieger und König gewesen und hatte die Nation vollständig auf den Kopf gestellt, er hatte auch Münzen prägen lassen, die im Lexikon abgebildet waren. Darauf stand Suerus Magnus Rex, was Latein war; sie waren hauchdünn, so schimmernd zart, dass, wenn man sie in den Himmel hielt, die Sonne hindurchscheinen könnte. Aber hier war natürlich auch die Rede von nicht weniger als achthundert Jahren Abnutzung, wir können also ganz beruhigt sein, wenn es um Münzen geht, meine ich, endete Kristian überaus vielsagend.
Ich blickte ihn verständnislos an.
»Und wann würdest du, nachdem du das hier gehört hast«, sagte er philosophisch, »den Höhepunkt für einen Menschen ansetzen?«
Ich überlegte.
»In deinem Alter vielleicht«, sagte er mit listigem Lächeln.
Am selben Abend ging ich mit dem Lexikon ins Bett und las den ganzen Artikel über König Sverre, und obwohl es dort etliche Wörter gab, die nicht einmal Kristian benutzte, war mir doch klar, dass er vollkommen recht hatte.