Читать книгу Seewölfe Paket 5 - Roy Palmer - Страница 44
9.
ОглавлениеPlötzlich glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Etwas bewegte sich den Seitenfluß herauf. Hasard ging hinter einem ausladenden Gesträuch in Dekkung und beobachtete voll Spannung. Tatsächlich, das waren Einbäume, Eingeborenenboote. Hasard wagte es kaum zu glauben, daß darin wirklich Schaki und die anderen Amazonen des Überfallkommandos saßen.
Doch es war so. Feine Dunstschwaden hingen über dem Gewässer, doch die Behelfsbrücke und die simplen, schlanken Boote der Frauen waren deutlich zu erkennen, und Hasard vernahm sehr genau den Ruf einer weiblichen Stimme, als sich der Bootsverband unter dem quer über den Fluß gefällten Baum befand.
Schaki verständigte sich mit den Wächterinnen der Brücke! Hasard grinste zufrieden. Er hatte also in weiser Voraussicht gehandelt, als er sich dem Baum nicht weiter genähert hatte.
Der Amazonen-Posten erwiderte irgend etwas. Der Seewolf verstand kein Wort dieser Sprache, aber er konnte sich vorstellen, um was es in der Mitteilung an Schaki ging. Um seine Flucht.
Die Stammesführerin wußte nun Bescheid und konnte sich mit ihren Untergebenen den Kopf darüber zerbrechen, wo der verdammte „Häuptling der Viracochas“ wohl stecken mochte.
Hasard packte die Gelegenheit beim Schopf. Er kauerte hinter seinem Gebüsch und schaute sich um. Nicht weit hinter ihm erhob sich ein mächtiger, von Lianen umrankter Baum. Seine mächtigen Äste spannten sich bis über das Ufer hinaus. Einer, der längste von allen, erreichte beinahe die Mitte des Wasserlaufes.
Hasard hätte von dort aus niemals auf das jenseitige Ufer springen können. Aber das hatte er auch nicht vor. Ein anderer Plan war in seinem Hirn gereift. Sofort setzte er ihn in die Tat um.
Er schlich sich zu dem Stamm des Baumes, blickte sich forschend nach allen Seiten um und begann den Aufstieg, als ihm die Luft rein erschien. Vom Dschungel aus wartete keine Bedrohung auf ihn, und die Schar der Amazonen in den Einbäumen war noch zu weit entfernt, um ihn entdecken zu können.
Außerdem klomm er an der ihnen abgewandten Seite des Baumes hoch. Die Lianen erleichterten ihm den Aufstieg erheblich. Rasch hatte er das obere Drittel des Stammes erreicht und begab sich nun auf den Ast hinüber, den er sich für sein Unternehmen ausgesucht hatte.
Hier begann der schwierigere Teil seines Vorhabens. Die Einbäume glitten näher heran. Wer von den Insassen scharfe Augen hatte, der mußte seine Gestalt auf dem ausladenden Ast entdecken.
Hasard bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer großen Raubkatze voran. Er dachte an den Jaguar, den Bewohner des Amazonas-Urwaldes. Lautlos schob er sich vorwärts und verschmolz mit dem dunklen Schattenriß des Astes.
Er verharrte und blickte zu den Einbäumen.
Fünf, nein, sechs konnte er jetzt zählen. Die Nebelschwaden rissen auf und gaben unter dem weißen Mondlicht das Boot Von Schaki völlig frei. Sie führte den kleinen, wehrhaften Verband, und – Hasard stockte der Atem – die Rote Korsarin saß unmittelbar neben ihr. Ihre rote Bluse hing nur noch in Fetzen von ihrem Leib. Die Amazonen hatten ihr die Hände auf den Rücken gefesselt und ihr einen Knebel in den Mund gesteckt.
Hasard arbeitete sich weiter vor. Schakis Einbaum würde als erster unter ihm durchfahren. Jetzt kam es darauf an, den richtigen Punkt zu treffen.
In jedem Einbaum saßen gut zwanzig Frauen, das waren also ingesamt hundertzwanzig Amazonen. Weitere Gefangene konnte Hasard nicht erkennen. Also war Siri-Tong die einzige Geisel, die die Amazonen von den Schiffen entführt hatten. Das Opfer für den Regengott! Hasard krampfte es das Herz zusammen.
Er verlangsamte seine Bewegungen. Er war jetzt fast über der imaginären Linie, die Schakis Einbaum auf dem Seitenfluß befahren würde, sie war die Fortsetzung ihres bisherigen Kurses. Hasard schob sich Zoll um Zoll weiter, bemüht, den Ast nicht wippen, sich nicht vorzeitig sichten und abschießen zu lassen.
Dann war es soweit.
Der Führungs-Einbaum schob sich auf ihn zu, war fast unter ihm und schickte sich an, unter ihm durchzugleiten.
Als der Bug die Wasserzone direkt unter dem Ast teilte, ließ der Seewolf seinen Körper abrutschen und baumeln. Er hielt sich noch für einen Augenblick fest, dann gaben auch seine Hände den Halt auf und er sauste in den Einbaum hinunter.
Ein einziger Aufschrei ging durch die Reihen der Amazonen.
Hasard landete sicher zwischen Siri-Tong und der hinter ihr sitzenden Amazone. Er fing den Aufprall in den Kniekehlen ab und balancierte. Der Einbaum schwankte bedrohlich. Die Amazonen kreischten und griffen zu ihren Waffen. Aber sie waren noch zu schockiert, um gedankenschnell reagieren zu können.
Hasard hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Der Dolch blitzte in seiner rechten Hand auf, er steckte die Klinge zwischen Siri-Tongs Hände und säbelte ihre Fesseln auf. Den Knebel aus ihrem Mund reißen konnte er nicht mehr, dazu reichte die Zeit nicht.
Er packte sie und schleuderte sie ins Wasser – auf das Ufer zu, das sie erreichen mußten, um zu ihren Schiffen fliehen zu können.
„Schwimm!“ rief er ihr nach. „Schwimm, so schnell du kannst!“
Die Amazone in seinem Rücken zog das Paddel aus dem Wasser und wollte es ihm auf den Kopf schlagen. Hasard duckte sich, langte nach hinten und entriß es ihr mit einem heftigen Ruck. Dann glitt er nach vorn und griff sich Schaki, die ganz vorn im Bug des großen Einbaums hockte.
Sie schrie und zückte ihr Messer.
Hasard warf sich vor, kriegte ihre beiden Handgelenke zu fassen und ließ sich nach Backbord fallen. Er zerrte Schaki einfach mit. Sie konnte ihm in diesem Augenblick mit ihrem Messer nichts anhaben.
Beide tauchten sie ins Wasser, und der Einbaum kenterte dabei fast. Schaki schrie und zeterte. Sie versuchte, mit ihrem Messer auf ihn einzuhacken, aber er schlug ihr die Waffe aus der Hand. Das Messer sank auf den Grund des Flusses.
Hasard schwamm auf dem Rücken und zog Schaki immer weiter mit. Sie verlor ihren Federbusch dabei. Sie sträubte sich, strampelte mit den Beinen und tat alles, um sich irgendwie aus seinem Klammergriff zu befreien.
Die Amazonen erhoben sich in den Einbäumen und legten mit Blasrohren und Pfeil und Bogen auf den Seewolf an.
„Nicht schießen!“ rief Hasard auf spanisch. „Ihr trefft nur eure Anführerin!“
Sie verhielten ratlos und wußten nicht mehr, was sie tun sollten. Schaki rief ihnen etwas zu, schluckte plötzlich aber Wasser und verstummte.
Hasard wandte den Kopf und gewahrte aus den Augenwinkeln, wie Siri-Tong das Ufer erreichte und sich in die Büsche schlug, ehe die Amazonen auf sie schießen konnten. Und er bemerkte gleichzeitig auch die länglichen, brettflachen Silhouetten, die sich von stromaufwärts auf den Fluten heranschoben.
Kaimane.
Hasard wühlte mit einem Arm das Wasser auf und bewegte die Beine auf und ab, während er die widerspenstige Schaki festhielt. Nur einen Moment lang konzentrierte er sich zu sehr auf seine Schwimmtätigkeit – und die Amazone nahm die Gelegenheit wahr.
Sie kämpfte sich frei. Hasard erhielt einen Hieb in die Magengrube, der ihn aufstöhnen ließ. Schaki tauchte von ihm weg, stieß wieder hoch und hielt auf ihren Einbaum zu.
Die Amazonen hätten auf Hasard ein Zielschießen verüben können, doch sie standen wie erstarrt in ihren Einbäumen und schrien auf.
Einer der Kaimane schoß direkt auf Schaki zu! Es war ein Schwarzalligator, wie Hasard erkannte, die mörderischste Spezies unter den Großechsen. Schaki war verloren, die Echse würde ihr den Weg abschneiden.
Hasard drehte sich im Wasser und schwamm Schaki mit gewaltigen Zügen nach. Er erreichte sie, stieß sie zur Seite weg und kollidierte mit dem Schwarzalligator. Das lange, zahnbewehrte Urweltmaul öffnete sich und gähnte ihn direkt an.
Hasard tauchte unter. Der Schwarzalligator packte mit seinen Kiefern zu. Er hatte seinen Arm schnappen wollen, aber jetzt traf er ins Leere. Hasard hatte gehörig Luft in seine Lungen gepumpt und befand sich unter seinem weißlich schimmernden Bauch.
Er drehte sich, rammte dem Krokodil das Messer bis zum Heft in den Leib und riß es wieder heraus. Sofort begann der mächtige Schwanz des Gegners zu schlagen. Hasard entzog sich mit Mühe seiner Reichweite.
Er schoß hoch, sein Kopf schob sich aus dem Wasser, und er atmete tief durch. Rechts neben ihm wand sich der Alligator unter Qualen. Er wollte in blinder Wut zubeißen, aber Hasard wich ihm wieder aus.
Und dann warf er sich dem Tier auf den Rücken, holte aus und zertrümmerte ihm mit dem Dolch die Schädelplatte. Er ließ die Waffe stekken, packte mit beiden Händen das mörderische Maul und hielt es zu. Mann und Tier wirbelten im Wasser, waren ineinander verkeilt.
Hasard wußte nicht, welchen Gegner er als gefährlicher einstufen sollte – die Anakonda oder den Schwarzalligator. Sie unterschieden sich grundsätzlich voneinander. Die Schlange brachte den schleichenden, stillen Tod, das Krokodil zuckte, keilte aus, peitschte das Wasser mit seinem Schwanz und brachte es zum Kochen.
Dann, fast unerwartet, trat Ruhe ein. Hasard hielt den Alligator umklammert, aber der regte sich nicht mehr. War es eine Finte? Hasard wartete ab, dann entließ er die Bestie aus seinem Griff. Sie löste sich und trieb mit der Strömung davon.
Er schwamm langsam auf dem Rücken zum Ufer. Er wußte, daß er jetzt eine großartige Zielscheibe für die Amazonen abgab, aber was konnte er schon dagegen tun?
Schaki war in ihren Einbaum geklettert. Sie stand aufrecht da. Das Geschrei ihrer Stammesschwestern war verstummt. Schweigend blickten die Frauen auf den großen, schwarzhaarigen Mann, aber keine von ihnen traf Anstalten, ihn zu töten.
„Hasard!“ rief Schaki plötzlich. „Häuptling der Viracochas, der weißen, bärtigen Männer, hör mich an!“
Hasard gelangte in den Uferschlick. Er kroch die Böschung hoch, immer noch rückwärts. Sein Gesicht hielt er den Amazonen zugewandt, hinter seinem Rücken hörte er Siri-Tongs drängende Stimme.
„Komm, Hasard, schnell, das ist nur ein übler Trick.“
Der Seewolf verharrte trotzdem.
Schaki sagte in ihrem holprigen Spanisch: „Du hast mir das Leben gerettet. Aber das ist es nicht allein. Wir Frauen des großen Regenwaldes am Amacunu haben etwas Derartiges noch nicht erlebt. Der Kaiman sollte siegen, die bösen Geister haben ihn geschickt, um Schaki zu strafen. Und doch mußte er sterben. Ein Wink der Götter!“
„Ein Wink der Götter“, murmelten die hundertzwanzig Amazonen ergriffen. Sie waren ein flüsternder Chor auf dem Fluß. Sie saßen wieder und tauchten ihre Paddel ein, um ihre Einbäume nicht von der Strömung davontragen zu lassen. Dies alles geriet zu einer denkwürdigen Szene, und Hasard glaubte in diesem Augenblick wirklich die Aura der Geister und Götter zu spüren.
„Komm mit uns, Häuptling der Viracochas“, sagte Schaki. „Du darfst nicht länger unser Feind sein, denn die Götter sind dir wohlgesonnen. Werde unser Freund! Schaki fleht dich darum an! Wir brauchen den Regen!“
Hasard stand auf. Siri-Tong zupfte ihn an dem Restfetzen Hose, der ihm verblieben war, aber er kümmerte sich nicht darum.
„Ich nehme an!“ rief er. „Ich vertraue euch.“
Auf Schakis Wink schwenkten die Einbäume herum und steuerten auf ihn und die Rote Korsarin zu.
Siri-Tong glaubte nach wie vor an eine List der Amazonen, sie war auf der Hut, als sie in Schakis Einbaum zum Dorf gebracht wurden. Hasard hingegen hatte das untrügliche Gefühl, wirklich gesiegt zu haben – auf der ganzen Linie.
Während sie verschlungene Flußarme befuhren, schoben sich Wolkenbänke vor die blasse Mondsichel. Als sie in der Nähe der Hütten aus den Einbäumen stiegen und zum Zentrum des Dorfes wanderten, nahm der Wind zu, und der Himmel gab ein drohendes Grollen von sich.
Sturmböen zerzausten ihre Haare, als sie die Opferstätte inmitten des Dorfrondells erreicht hatten. Wenig später fielen die ersten Regentropfen. Und hier brach der letzte Bann. Aufschreiend ließen die Amazonen sich auf die Knie fallen, verneigten sich, rutschten auf Hasard und Siri-Tong zu und küßten Hasard Hände und Füße.
Sie riefen Worte in ihrer Sprache.
Aus den Hütten stürzten die anderen Frauen herbei. Der Regen wurde intensiv und artete zum Wolkenbruch aus. Sarana stürmte auf Hasard zu und wollte ihn beißen und kratzen, aber als sie das Gemurmel ihrer Stammesschwestern verstand, ging auch sie zu Boden.
Sie drängelte sich zu Hasard durch und übersetzte ihm auf spanisch, was die Frauen sagten. „Das Zeichen des Regengottes. Du bist der Günstling Kuáts, der Sonne, Iaê, des Mondes, und des großen Regengottes. Wenn wir dir und deinem Gefolge etwas antäten, würden wir selbst untergehen.“
Der Seewolf drehte sich zu Siri-Tong um. Sie stand gegen den Opferaltar der Amazonen gelehnt. Das Haar hing ihr in klatschnassen Strähnen auf die Schultern herab, ihre letzten Kleidungsreste klebten auf ihrer Haut, und sie war praktisch nackt unter dem gewaltigen Guß.
Sie war froh, gleichzeitig aber auch eifersüchtig wegen der Ehrerbietung der wilden Frauen. Dann aber bewies sie ihre Souveränität. Sie trat auf Hasard zu, schlang ihm die Arme um den Hals und küßte ihn lange und leidenschaftlich.
Carberry, Matt Davies, Bob Grey, Bill, Ferris Tucker, Thorfin Njal und Eike waren frei. Sie wurden im rauschenden Regen zu Hasard und Siri-Tong geführt. Die Amazonen begleiteten das Zeremoniell durch Musik und kehligen Singsang, und sie reichten Krüge mit Masato, dem leicht alkoholischen Getränk aus Maniok, herum.
Der Profos näherte sich mit zerknirschter Miene seinem Kapitän.
„Sir“, sagte er. „Ich – ehm – ich ersuche dich hiermit förmlich, mich in Arrest zu nehmen und Bordgericht über mich zu halten.“
„Bist du einverstanden, wenn ich das alles gleich hier erledige?“
„Aye, aye, Sir.“
Hasards Faust explodierte unter Carberrys Kinnlade. Der Profos taumelte rückwärts, stürzte hin und stand für die nächsten Minuten nicht mehr auf. Die Amazonen verfolgten das Intermezzo ohne Erstaunen. Für sie war alles, was Hasard, der Günstling der Götter, tat, wohlgeschehen.
Als Carberry den Haken verdaut hatte und sich kopfschüttelnd aufrichtete, massierte er sich zunächst das Kinn, dann sah er Hasard wieder an.
„Danke, Sir.“
„Schon gut, Profos. Gern geschehen. Damit wäre die Sache aus der Welt geräumt.“ Hasard grinste, dann lachten sie alle zusammen.
Kurze Zeit später schickte der Seewolf eine Delegation Männer zu den Schiffen. Im strömenden Regen hetzten Carberry, Ferris und die beiden Wikinger davon, um Ben Brighton und die anderen zu benachrichtigen.
Siri-Tong hatte über Dans Krankheit berichtet. Hasard hatte sich daraufhin sofort mit Schaki, Nabona und Marita besprochen und seine Entscheidung gefällt.
Carberry, Ferris und die Wikinger wußten mittlerweile auch, wie der Wasserweg vom Dorf zu dem Hauptstrom verlief, und sie benutzten daher einen der Einbäume als Fortbewegungsmittel. Auf dem Weg durch den Dschungel hätten sie nur kostbare Zeit verloren.
Es war nach Mitternacht, als der Einbaum und die Beiboote der „Isabella“ und des schwarzen Seglers an der Amazonen-Siedlung eintrafen. Dan O’Flynn wurde auf einer Trage in Schakis Hütte geschafft. Schaki schickte sofort die Zauberin des Stammes, ein verhutzeltes Weib unbestimmbaren. Alters, zu ihm. Auch die vier Amazonen, die verletzt an Bord der „Isabella“ zurückgeblieben waren, wurden von den Seewölfen antransportiert.
Der Kutscher als hervorragender Feldscher hatte die Mädchen bereits vorbildlich verarztet.
„Sir“, sagte er zu Hasard. „Für keine der vier besteht Lebensgefahr.“
„Und Dan?“
Der Kutscher blickte verzweifelt drein. „Ich weiß nicht – wenn nicht ein Wunder geschieht, übersteht er diese Nacht nicht. Mein Gott, diese gemeine Krankheit, diese verdammte Malaria.“
Hasard, Siri-Tong, Ben, Old O’Flynn und der Kutscher begaben sich in Schakis Hütte. Die Zauberin hatte sich im Schein einer trüben Talglampe über Dan gebeugt, murmelte Beschwörungen, gab ihm aus Krügen zu trinken und rieb seinen Körper ein.
Die Krankheit war akut, Dan wurde von Fieberanfällen geschüttelt. Auf den ersten Blick geriet das Bestreben der Zauberin zu einer albernen Farce, aber im Verlauf der nächsten Stunde begriffen die Männer, daß sie doch etwas ausrichten konnte. Wo des Kutschers Latein am Ende war, setzte ihre Naturheilkunde ein, wobei es sicherlich eher ihren Kräutermixturen und dampfenden Essenzen als ihren magischen Formeln zuzuschreiben war, daß Dans Zustand sich besserte.
Schaki, Nabona und Marita waren ebenfalls eingetreten. Auch Sarana durfte auf ihren ausdrücklichen Wunsch bei der Beschwörung mit dabeisein.
Nach über einer Stunde, die sich in die Ewigkeit auszudehnen schien, wandte sich die Zauberin an Schaki, und Schaki sagte zu Hasard: „Häuptling der Viracochas, Günstling der Götter – es ist überstanden. Dein Freund wird leben und wieder völlig gesund werden.“
„Hurra!“ schrie der alte O’Flynn. „Mann, das ist der schönste Tag in meinem Leben!“
Die Zauberin warf ihm einen tadelnden Blick zu und wies zur Tür. Dan brauchte Ruhe, viel Ruhe. Die Seewölfe und die Amazonen gingen ins Freie und ließen sich wieder vom Regen nässen.
Sarana war zunächst traurig, daß sie sich Hasard nun nicht mehr nähern durfte. Darüber wachte Siri-Tong mit Argusaugen. Wenig später aber fand Sarana an Batuti Gefallen, und sie stufte ihn als eine Art „Nebengott“ ein – wegen seiner schwarzen Haut. Dem Gambia-Neger war es vergönnt, den Rest der Nacht mit Sarana in einer der Hütten zu verbringen.
Und so verschwanden die Männer in dieser bewegten Regennacht einer nach dem anderen in den Schilfmattenhütten, um auf freiwilliger Basis zu vollziehen, was die Amazonen von ihnen hatten erzwingen wollen. Was vor der großen Läuterung der braunhäutigen Frauen geschehen war, war vergessen. Es gehörte schon der Vergangenheit an.
Im Morgengrauen kehrten Ben Brighton und die meisten der Männer auf die Schiffe zurück. Die Nacht über hatten sich nur Blacky, Gary Andrews und zwei Männer Siri-Tongs als Deckswachen auf den beiden Seglern befunden – Gary zur Strafe, weil er vor dem Angriff der Amazonen wider Ben Brightons Befehl den Großmars verlassen hatte.
Diese vier durften nun mit einem Boot zum Dorf pullen. Sie brachten die Geschenke mit, die Hasard zu schicken angeordnet hatte: eins der beiden gegerbten Jaguarfelle, Perlen, Goldschmuck und Silber aus dem „Nachlaß“ des Tyrannen Chano.
Schaki, Nabona und Marita nahmen diese Gaben entgegen. Sie verneigten sich wieder tief vor Hasard. Es hatte aufgehört zu regnen, doch der Himmel war immer noch wolkenverhangen, und es würde sicherlich bald weitere Güsse geben. Es war ein Zufall, daß die Wetteränderung mit dem Auftauchen der weißen Männer zusammengetroffen war, aber für die Amazonen war es der größte Zauber aller Zeiten.
Hasard sah keinen Grund, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
„Danke“, sagte Schaki. „Jetzt beschenkst du uns auch noch, großer Freund der Götter. Wie sollen wir das gutmachen? Wir haben nichts, das wir dir und deinen Begleitern mit auf den Weg geben können. Wir sind arm, und die Ernte hat noch nicht ihre Früchte getragen.“
Hasard lächelte. „Bereite dir darüber keine Sorgen. Ihr habt meinen Männern schon genug Gutes getan.“
Kuát, die Sonne, hatte sich zwar aus ihrem Bett erhoben, aber sie hielt sich versteckt. Es wurde ein schummriger Morgen, und aus dem Osten, vom Atlantik her, schob sich eine indigoblaue Wolkenbank heran, die bald in drohendes Schwarz überwechselte, sich mit den Wolken über dem Amazonas verbündete und bizarre Türme bildete.
Das friedliche Beisammensein im Dorf der Amazonen dauerte nicht lange an. Hasard hatte gerade wieder Schakis Hütte aufgesucht, um nach Dan zu sehen.
Der Kutscher, der auf Hasards Anweisung hin hiergeblieben war, schaute ihn an und sagte: „Das Fieber ist weg. So was habe ich noch nicht erlebt. Wenn ich das eines Tages Sir Anthony Abraham Freemont, meinem Lehrmeister, erzähle …“
Die alte Zauberin hockte neben Dan O’Flynns Lager und lächelte. Sie brabbelte unaufhörlich vor sich hin und nickte dazu.
Plötzlich ertönte ein Donnergrollen, das Hasard nur zu genau kannte. Entsetzt sah er den Kutscher an. „Das ist kein neues Gewitter – das sind die Kanonen der ‚Isabella‘, Kutscher!“
Er wirbelte herum und stürzte ins Freie. Der Kutscher rannte ihm nach. Draußen hatten sich inzwischen schon Blacky, Gary und ein paar Amazonen versammelt. Ferris Tucker, Shane, Old O’Flynn und Siri-Tong – die anderen, die noch im Dorf hatten verweilen dürfen – näherten sich ebenfalls besorgt.
Wieder dröhnten die Kanonen.
„Knüppeldicker Verdruß“, sagte Hasard. „Wer weiß, was jetzt schon wieder los ist. Wir nehmen das Boot und stoßen zu Ben und den anderen, um ihnen zu helfen.“
Schaki stand plötzlich hinter ihm. „Hasard, ich begleite dich mit meinen besten Kriegerinnen. Nein, du darfst es nicht verbieten. Die Frauen vom Amacunu haben die heilige Pflicht, den Günstling der Götter zu schützen.“
„Dann nichts wie los!“ rief der Seewolf.
Er lief allen voran zu den Booten, jumpte in eins und turnte über die Duchten zur Heckducht. Siri-Tong war sofort bei ihm, dann folgten Blacky, Gary und die anderen Männer – und vom Dorf aus stürmte unter Schakis Führung eine halbe Heerschar Amazonen heran.
Wie sie die in so kurzer Zeit mobilisiert hatte, war ein Rätsel.
Der Kutscher wollte auch mit in die Schaluppe, aber Hasard rief ihm zu: „Du bleibst bei Dan! Das ist keine Feigheit vor dem Feind, das ist deine Pflicht und Schuldigkeit Dan gegenüber!“
Der Kutscher blieb von Sorgen geplagt in der Siedlung zurück, während Hasard in seinem Boot den Verband aus Einbäumen zum Nebenfluß des Amazonas dirigierte.
Er hatte die Spitze übernommen. Siri-Tong saß neben ihm auf der Achterducht. Die Männer pullten wie besessen.
Als sie die Baumbrücke passierten, wummerte der Geschützlärm in noch größerer Dichte zu ihnen herüber. Hasard begann zu fluchen. Er bangte um seine Crew, um die Mannschaft der Roten Korsarin – und um die beiden Schiffe. Denn er hatte nicht vergessen, wer ihm auf den Fersen saß.
Die Bestätigung für seine dumpfen Ahnungen fand er, als sie kurz vor der Mündung des Nebenflusses in den Amazonas verhielten.
Spanier hatten die „Isabella“ und den schwarzen Segler angegriffen. Drei Karavellen. Bis hierher waren sie also vorgedrungen, und jetzt griffen sie auf Teufel komm ’raus den Todfeind an, um ihn endgültig zu vernichten. O, sie hatten nicht vergessen, was er, der „Lobo del Mar“, ihnen alles angetan hatte. Und jetzt steckten die „Isabella“ und Siri-Tongs Viermaster tatsächlich in der Klemme, so, wie Della Latta es bei der Zitadelle vorausgesagt hatte.
„Übersetzen“, befahl Hasard. „Wir riskieren, zu den Piranhas geschickt zu werden, aber wir haben keine andere Wahl.“
Die Karavellen lagen etwas oberhalb der Nebenflußmündung quer zur Strömung des Amazonas, und zwar in Kiellinie. Sie verfuhren nach einem einfachen, aber wirksamen Schlachtplan: Zuerst feuerte die eine, dann die nächste, dann die letzte Karavelle, und wenn sie ihre Breitseiten auf die Gegner abgesandt hatten, manövrierten sie und drehten sich mit Hilfe der Strömung und des Windes, um auch die gegenüberliegenden Geschützbatterien zum Einsatz zu bringen.
Erbittert schossen die Seewölfe und die Siri-Tong-Piraten zurück. Aber sie hatten keinen leichten Stand, erstens, weil ihre Mannschaftsstärke reduziert war, zweitens, weil die geringe Wassertiefe an ihren Ankerplätzen ein rasches und effektvolles Manövrieren nicht zuließ. Mühsam genug hatten sie die „Isabella“ und das schwarze Schiff quer zur Strömung gelegt.
Die mittlere Karavelle gab ihre Breitseite ab. Dem Donnerschlag nach zu urteilen, mit dem das geschah, mußte sie gut bestückt sein, ungewöhnlich gut für eine Karavelle. Sie verfügte über Zwölfpfünder, wie Hasard schätzte, vielleicht sogar über Culverinen, also 17-Pfünder.
Wasserfontänen wuchsen aus dem Amazonas hoch, es heulte, dröhnte und zischte. Mitten in den Beschuß des Spaniers hinein fiel die Gegenattacke der Seewölfe. Vier Culverinen der Steuerbordseite spien ihre Ladung aus. Zwei Treffer erwischten die mittlere Karavelle, Holz splitterte, Trümmerteile wirbelten durch die Luft. Schreie wehten zu den Booten herüber.
„Gut so“, stieß Blacky aus. „Weiter so!“
Schaki hatte ihren Einbaum neben Hasards Boot gleiten lassen.
„Hör mich an“, sagte sie. „Ich kenne einen Schleichweg, um euren Feinden, den Schwarzbärten, in den Rükken zu fallen.“
„Schaki, ich muß zu meinen Männern. Sie können die Schiffe nicht wenden, verstehst du? Sie haben nur die eine Breitseite, und wenn sie nachladen müssen, dann ade, du schöne Welt.“
Sie ließ nicht locker. „Komm“, sagte sie.
So drehten sie bei und drangen unter Schakis Leitung in einen überwucherten Seitenkanal ein. Er verlief mitten durch den Dschungel und verknüpfte sich mit einem labyrinthähnlichen Gewirr von kleinen Seitenflüssen. Hasard hörte das Krachen der Schiffskanonen, das Geschrei der Männer, das Krachen, Bersten, Tosen, und er glaubte, den Verstand verlieren zu müssen.
„Schaki – kommen wir hier denn nie wieder ’raus, verdammt noch mal?“ rief er.
Sie antwortete nicht, sondern bog nur mit ihrem Einbaum nach rechts in einen weiteren Nebenarm ab. Hasard sah Siri-Tong an. Zweifel befielen ihn. Die Amazonen – wollten sie ihn jetzt noch hereinlegen?
Schakis Frauen paddelten mit großer Gelassenheit. Der Kampf auf dem Fluß schien sie nicht zu berühren. Was hatte dieses Verhalten zu bedeuten?
Hasard wollte aufbegehren, aber jäh öffnete sich der triefende, dampfende Blätterwald, und der große Strom mit seinem lehmbraunen Wasser lag wieder vor ihnen. Das Boot und die Einbäume schoben sich hinein und stemmten sich gegen die Strömung.
„Wir befinden uns unterhalb einer Biegung“, stellte Siri-Tong fest. „Die Spanier können uns nicht sehen. Wir sie auch nicht, aber wir wissen ja, wo sie liegen.“
Schaki lächelte ihnen zu. „Ist Schakis Rat gut?“
„Ja und nein“, gab Hasard grimmig zurück. „Wir haben nur Musketen und Pistolen, um gegen die Dons vorzugehen.“
„Hasard!“ rief Gary Andrews plötzlich. Er wies nach achtern, stromabwärts.
Der Seewolf schaute zurück. Und sein Herz vollführte einen wahren Sprung! Was sich da breit und behäbig vor dem steifen Wind flußaufwärts schob, ein Ding mit drei Masten, Rahsegeln, langen, tief eintauchenden Riemen zu beiden Seiten und einem fürchterlichen Rammsporn vorn am Bug – das war nichts anderes als die venezianische Galeasse!
Della Latta stand auf der Plattform des Vordecks und winkte ihnen zu. Er hatte sie erkannt.
Hasard winkte zurück.
„Himmel“, sagte er. „Natürlich haben die Italiener die Spanier von der Zitadelle aus anrücken sehen. Einen Boten konnten sie nicht schicken, er wäre nicht vor den Dons bei uns eingetroffen. Aber diesen Hundesöhnen nachschleichen, das konnten sie.“
Er ließ das Boot zur Strommitte pullen. Die Amazonen blieben in Ufernähe zurück und beobachteten jetzt nur noch. Hasard ging längsseits der Galeasse. Della Lattas Kommandos hallten über Deck. Er ließ Fahrt aus dem Schiff nehmen, die Steuerbordriemen wurden hochgenommen. Das Boot des Seewolfes wurde mit einem rasch ausgeworfenen Tau achtern angehängt.
Hasard und seine Männer enterten an Bord der Galeasse. Die Begrüßung war stürmisch, aber kurz, weil der Kampflärm oberhalb der Flußbiegung alle Wiedersehensfreude überschattete.
„Kapitän Killigrew“, sagte Della Latta, „ich übertrage dir hiermit das Kommando über mein Schiff.“
Hasard nahm an. Er stürmte aufs Achterdeck.
Wenig später passierte die venezianische Galeasse die Biegung. Hasard ließ dem Gegner keine Chance und fiel sofort über ihn her.
Unter seinem Befehl verwandelte sich das gut bestückte Ruderschiff in eine feuerspeiende Festung. Die Kanonen entluden sich brüllend. Mitten in den Rauchschwaden, die über Oberdeck zogen, stand breitbeinig Philip Hasard Killigrew und leitete den Angriff.
In diesen Minuten war er wahrhaftig ein gnadenloser, reißender Wolf.