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6 Wittgensteins instrumentalistische Zeichenauffassung
ОглавлениеVon einem sprachlichen Zeichen zu sagen, es habe Bedeutung, heißt zu sagen, es sei mit einer Vorstellung verbunden. Die VorstellungVorstellung des Sprechers wird mit einem sprachlichen Zeichen gleichsam versandfertig verpackt (enkodiert), und vom Hörer nach dessen Empfang wieder ausgepackt (dekodiert). Der Hörer gelangt somit in den Besitz der mit dem empfangenen Zeichen verbundenen Vorstellung. Die Bedeutung eines Zeichens ist also die mit ihm verbundene Vorstellung. So oder so ähnlich lautet die common-sense-Theorie der Bedeutung. „Die charakteristische traditionelle Zeichentheorie war eine Stellvertretertheorie: das Zeichen vertritt etwas, was auch ohne die VerwendungVerwendung dieses oder eines anderen Zeichens gegeben sein könnte – eben in der Vorstellung.“1 Eine solche Auffassung kann man generalisierend „VorstellungstheorieVorstellungstheorie“ nennen. Mit Hilfe einiger suggestiver Fragen und Bemerkungen möchte ich auf die Probleme aufmerksam machen, die mit einer solchen Theorie verbunden sind. Eine ausführliche Darstellung und Kritik der verschiedenen Varianten der Vorstellungstheorie gibt TugendhatTugendhat.2
1. Auch wenn wir unterstellen, dass es plausibel ist, anzunehmen, dass wir mit den Wörtern Kuh, Haus, trinken etc. Vorstellungen verbinden, so wäre immer noch zu zeigen, welche Vorstellung wir mit Ausdrücken wie nichts, ob, Dienstag, gut, Vetter, ähnlich oder unvorstellbar verbinden.
2. Unterstellen wir, dass die These „die Bedeutung eines Ausdrucks ist die mit ihm verbundene Vorstellung“ korrekt ist, welche Bedeutung hätte dieser Theorie gemäß der Ausdruck Vorstellung? Und welche Bedeutung hätte der Ausdruck die mit dem Ausdruck ‚Vorstellung‘ verbundene Vorstellung? Die Antwort lautet: „Die Vorstellung der mit dem Ausdruck Vorstellung verbundenen Vorstellung.“ Was bedeutet der Theorie gemäß diese Antwort?
3. Wie lehrt man andere (z.B. Kinder), bestimmte Vorstellungen zu haben, und wie kontrolliert man, ob es die richtigen sind? Wie vergleiche ich meine Vorstellung mit der eines anderen?
4. Nehmen wir an, es behaupte jemand, die Wörter fast und beinahe hätten die gleiche Bedeutung. Wie überprüft man, ob dies stimmt? Der Vorstellungstheorie gemäß sollte folgende Methode erfolgversprechend sein: Man schließe die Augen, vergegenwärtige sich zunächst die zu fast gehörige Vorstellung und dann die zu beinahe. Sodann vergleiche man die beiden Vorstellungen und überprüfe, ob es sich zweimal um die gleiche Vorstellung handelte.
5. Unterstellen wir, mein Gesprächspartner stelle sich, wenn ich zu ihm sage „Ich habe mir eine Kuh gekauft“, eine Kuh vor. Die korrekte Vorstellung zu haben, setzt doch offenbar voraus, dass er (unter anderem) den Ausdruck Kuh richtig verstanden hat. Folglich kann das Verständnis des Wortes Kuh nicht im Haben der entsprechenden Vorstellung liegen. Wenn eine Vorstellung ins Spiel kommt, kann sie nur eine Folge des Verstanden-habens sein.
6. Unterstellen wir, mein Gesprächspartner stelle sich, nachdem ich ihm sagte „Ich fahre morgen in Urlaub“, Sonne, Strand und Meer vor. Ich aber erhole mich drei Wochen in Ludwigshafen. Würden wir unter diesen Bedingungen sagen, er habe mich missverstanden? Wohl kaum; er hatte nur eine falsche Hypothese über das Reiseziel.
7. Der Begriff der Vorstellung bedürfte, um theoriefähig zu werden, einer analytischen Klärung und Explikation. Eine solche ist mir nicht bekannt; aber unterstellen wir, Vorstellungen seien so etwas wie geistige Bilder. (Wenn ich mir Hawaii vorstelle, erzeuge ich in mir eine Art geistigen Bildes.) Wenn so etwas mit dem Begriff der Vorstellung gemeint ist, wer hilft mir dann, meine geistigen Bilder zu verstehenverstehen? Und wer garantiert, dass ich sie richtig interpretiere?
Was diese sieben Suggestivfragen bzw. Bemerkungen andeuten sollen, ist folgendes:
ad 1: Die Vorstellungstheorie wird vollständig unplausibel, wenn sie auf Konjunktionen wie ob, relationale Ausdrücke wie Vetter, rein evaluative Ausdrücke wie gut oder nur strukturell definierbare Ausdrücke wie Dienstag angewendet wird.
ad 2: Die Anwendung der Vorstellungstheorie führt bei dem Versuch, sie auf den Ausdruck Vorstellung selbst anzuwenden, zu einem iterativen Regress.
ad 3: Wenn der kommunikative Gebrauch der Sprache im Austausch von Vorstellungen bestünde, müssten Vorstellungen nichtsprachlich kommunizierbar sein, um eine Sprache lehren zu können.
ad 4: Jeder, der mit einer Synonymiefrage konfrontiert wird, macht intuitiv Austauschtests, und keiner käme je auf die vorstellungstheoretische Idee, introspekive Vorstellungsvergleiche anstellen zu wollen.
ad 5: Vorstellungen sind allenfalls sekundäre Begleiterscheinungen des Kommunizierenkommunizierens, nicht aber substantieller Teil des Kommunizierens.
ad 6: Eine ÄußerungÄußerung richtig verstanden zu haben und die der Äußerungsintention des Sprechers adäquate Vorstellung zu haben, ist unabhängig voneinander. Die Aussage „Ich habe dich vollständig verstanden, kann mir aber nicht vorstellen, was du gesagt hast“ ist nicht selbstwidersprüchlich.
ad 7: Wenn Vorstellungen in irgendeiner Weise Bildcharakter haben, müssen sie selbst Gegenstand interpretativer Bemühungen sein, um verstanden zu werden. Diese Annahme führt ebenfalls in einen iterativen Regress.
Das Fazit ist: Selbst wenn wir zugestehen, dass wir beim Kommunizieren (bisweilen, stets oder bei einigen Sätzen oder Wörtern) Vorstellungen haben, so spielen sie für die Kommunikation nicht die Rolle, die ihnen die Vorstellungstheorie beimisst. Ob wir welche haben oder nicht, ist irrelevant für die Frage, was der Sprecher meint mit dem, was er sagt, und was der Hörer verstehtverstehen. Selbst wenn es systematische Vorstellungen gibt, die unser Kommunizieren begleiten, haben sie für das SpielSpiel des Kommunizierens nicht mehr Bedeutung als etwa die systematisch auftretende Freude oder Verärgerung, die einen Stich im Skatspiel begleiten mag. Sie sind nicht Bestandteil des Spiels.
Jede Theorie, die behauptet, dass Zeichen für etwas stehen, seien es Vorstellungen, Dinge oder sonst etwas, muss auf die Frage eine Antwort geben, wie dieses Repräsentationsverhältnis hergestellt und aufrechterhalten wird. Wie bringt man ein Zeichen dazu, für etwas zu stehen oder etwas zu symbolisieren oder eine Vorstellung zu repräsentieren? Soll das, wofür das Zeichen steht, Bedeutung genannt werden? Genau diese Position will ich nicht vertreten. Nicht, was kommuniziert ist, soll Bedeutung genannt werden, sondern was Kommunizieren ermöglicht. Erinnern wir uns: Wer über Zeichen, deren BeziehungBeziehung zur kognitiven Welt und zur Welt der Dinge reden will, der muss, wie dies spätestens seit AristotelesAristoteles üblich ist, drei Betrachtungsebenen vorsehen und unterscheiden: die linguistische Ebene der Zeichen, die epistemologische Ebene der Konzepte und die ontologische Ebene der Dinge und Sachverhalte. Man kann sich dann fragen, auf welcher Ebene man das ansiedeln möchte, was Bedeutung heißen soll. Teilweise ist das eine terminologische Entscheidung. FregeFrege siedelte, was er Bedeutung nannte, wie wir gesehen haben, auf der ontologischen Ebene an. Vorstellungstheoretiker siedeln sie offenbar auf der epistemischen Ebene an. Ich werde dafür plädieren, Bedeutung, dem späteren WittgensteinWittgenstein folgend, auf der linguistischen Ebene anzusiedeln. Wenn man diese Entscheidung nicht als rein terminologische Frage abtun will, muss man sich zunächst über eine andere Frage Klarheit verschaffen: Was soll der Bedeutungsbegriff leisten? Was soll mit ihm erklärt werden? Ohne eine solche Präzisierung lässt sich die Frage „Worin besteht die Bedeutung eines Zeichens?“ nicht sinnvoll beantworten. Meine Entscheidung ist die: Der Begriff der Bedeutung soll den Aspekt der InterpretierbarkeitInterpretierbarkeit des Zeichens erklären. Auch wenn man zugesteht, dass Zeichen für etwas stehen, etwas repräsentieren, etwas bezeichen und dergleichen, sei es einen Gegenstand, eine Vorstellung, ein Konzept, einen WahrheitswertWahrheitswert oder was auch immer, kommt man nicht umhin, sich die Frage zu stellen, welche Eigenschaft des Zeichens es ist, dank derer der Adressat herausfindet, wofür das Zeichen steht. Wenn wir mit Hilfe einer Sprache kommunizierenkommunizieren, vollziehen wir Äußerungen in der Absicht, den Adressaten zu einer bestimmten Interpretation zu bewegen. Eine ÄußerungÄußerung in einer solchen Absicht zu vollziehen heißt, mit dieser Äußerung etwas meinen. Wir können also auch sagen, der Bedeutungsbegriff soll der Erklärung dessen dienen, wie es dem Sprecher möglich ist, dem Adressaten erkennen zu geben, was er meint. Er soll dazu beitragen, PlatonPlatons Rätsel zu lösen: Wie gelingt es, „daß […], wenn ich dieses Wort ausspreche [und] jenes denke, […] du erkennst, daß ich jenes denke“?3 Um erläutern zu können, wie dies möglich ist, ist erheblicher begrifflicher Aufwand nötig. Ludwig Wittgenstein hat entscheidende Anstöße zur Lösung dieses Rätsels geliefert. Diese will ich nun in ihren Grundzügen erläuternd darstellen.
Wittgensteins Auffassung zur Bedeutung sprachlicher Zeichen wird gemeinhin „die GebrauchstheorieGebrauchstheorie der Bedeutung“ genannt. Eine solche Redeweise suggeriert dem mit Wittgensteins Schriften wenig vertrauten Leser, es gäbe eine theoretische Abhandlung, in der er eine Theorie der Bedeutung vorgelegt hat. Eine solche gibt es nicht. Wittgenstein hat vielmehr in einer Reihe verstreuter Bemerkungen, vor allem in dem Hauptwerk seiner späteren Philosophie, das den Titel „Philosophische Untersuchungen“ trägt, den Begriff der Bedeutung thematisiert, berührt oder auch bisweilen nur gestreift. So ist es nicht verwunderlich, dass unterschiedliche Interpretationen vorliegen. „Die philosophischen Bemerkungen dieses Buches“, schreibt er im Vorwort zu den „Philosophischen Untersuchungen“, „sind gleichsam eine Menge von Landschaftsskizzen, die auf diesen langen und verwickelten Fahrten entstanden sind.“4 Eine Gebrauchtstheorie kann nur das Ergebnis interpretativer und ergänzender Bemühungen sein. Solchen Bemühungen wollen wir uns nun unterziehen.
Als einschlägig wird im Allgemeinen der Paragraph 43 der „Philosophischen Untersuchungen“ angesehen, der in voller Länge wie folgt lautet:
Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein GebrauchGebrauch in der Sprache.
Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt. (PU § 43)
Dieser Paragraph enthält zwei Fallen und einen Hinweis. Beginnen wir mit dem Hinweis. Die Bedeutung eines Namens könne man manchmal hinweisend durch Zeigen erklären, sagt Wittgenstein. Da das Problem der hinweisenden Erklärung für unsere Zwecke nur von marginalem Interesse ist, soll eine knappe Erläuterung genügen. Man könnte annehmen, und FregeFrege, dessen Schriften der frühe Wittgenstein bewundert hatte, tut dies ja auch, dass die Bedeutung eines Namens sein Träger sei. Wittgenstein distanziert sich in den „Philosophischen Untersuchungen“ von dieser Annahme. Allerdings, so konzediert er, lasse sich die Bedeutung eines Namens, oder allgemeiner eines Wortes, bisweilen erklären durch hinweisende Definition. Warum nur bisweilen? Die Antwort ist einleuchtend: Man stelle sich vor, ich wolle einem erklären, was das Wort zwei bedeutet, indem ich auf zwei Nüsse zeige und sage „Das heißt ‚zwei‘“ (PU § 28). Woher soll der Lernende wissen, worauf ich gedeutet habe? Er könnte annehmen, ich wolle ihm die Bedeutung von Nüsse beibringen. Nehmen wir an, ich deutete auf einen roten Pullover und sage „Das heißt rot“. Wie soll der Adressat entscheiden können, ob ich nicht die Bedeutung von Pullover oder flauschig oder Wolle erklären wollte? Mit anderen Worten, um eine hinweisende Erklärung verstehenverstehen zu können, muss bereits vieles bekannt sein:
Man könnte also sagen: Die hinweisende Definition erklärt den Gebrauch – die Bedeutung – des Wortes, wenn es schon klar ist, welche RolleRolle das Wort in der Sprache überhaupt spielen soll. Wenn ich also weiß, daß Einer mir ein Farbwort erklären will, so wird mir die hinweisende Erklärung „Das heißt ‚Sepia‘“ zum Verständnis des Wortes helfen. (PU § 30)
Die hinweisende Definitionhinweisende Definition kann nicht am Anfang stehen, und sie ist nicht immer erfolgreich. Denn „die hinweisende Definition kann in jedem Fall so oder anders gedeutet werden“. (PU § 28)
Widmen wir uns nun den beiden Fallen. Missverständlich ist erstens die einschränkende Vorbemerkung im ersten Satz des Paragraphen 43 und zweitens das Schlüsselwort Gebrauch selbst. Beginnen wir mit der Einschränkung: Wittgensteins Explikation der Bedeutung von Bedeutung soll „für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ‚Bedeutung‘ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung“ gelten. Das naheliegende Missverständnis formuliert George PitcherPitcher in schöner Klarheit: „Genau das würde man von Wittgenstein erwarten: wie es viele verschiedene Sorten von SpielSpielen gibt, gibt es auch viele verschiedene Arten von Bedeutung, und nicht alle sind identisch mit dem Gebrauch des bedeutungstragenden Wortes. Es ist charakteristisch für Wittgenstein, dass er uns nicht sagt, was für Fälle er nicht unter seine allgemeine MaximeMaxime rechnen würde.“5 Das Missverständnis besagt, Wittgenstein wolle mit seiner Einschränkung zum Ausdruck bringen, dass es eine kleine Klasse von Wörtern gebe, deren Bedeutung nicht ihr Gebrauch in der Sprache sei. Wäre es dies gewesen, was er hätte sagen wollen, so hätten seine sprachlichen Fähigkeiten durchaus ausgereicht, es klar zu sagen. „Man kann für eine große Klasse von Wortbedeutungen – wenn auch nicht für alle Fälle der Bedeutungen der Wörter – das Wort Bedeutung so erklären …“ Dies hat Wittgenstein nicht gesagt. Er redet nicht von einer großen Klasse von Wortbedeutungen oder einer großen Klasse von Wörtern, sondern von einer großen Klasse von Benützungen des Wortes Bedeutung! Mit anderen Worten, er redet über die Bedeutungsvielfalt des Wortes Bedeutung. Er sagt uns, was das Wort Bedeutung bedeutet. Wir benutzen das Wort Bedeutung auf vielfaltige Weise: ‚die Bedeutung Konrad Adenauers für Deutschland‘, ‚die Bedeutung des Wortes rein für Goethes Alterswerk‘, ‚die Bedeutung des Wortes polliastre im Deutschen‘ usw. In solchen und ähnlichen Verwendungen des Wortes Bedeutung lässt es sich nicht mit „Gebrauch in der Sprache“ gleichsetzen. Die Gleichsetzung gilt nur in den bedeutungstheoretisch relevanten Fällen der Benutzung des Wortes Bedeutung: die Bedeutung des Wortes auf der Ebene der LangueLangue. Hier gilt uneingeschränkt: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.
Damit haben wir eine Überleitung zu der zweiten Falle erreicht. Wo steht, dass sich Wittgenstein auf die Langue-Bedeutung bezieht? Will er nicht gerade den Bedeutungsbegriff flexibler machen und sagen „Je nachdem wie das Wort gebraucht wird, je nach Kontext, Situation oder Umständen kann ein Wort verschiedene Bedeutungen haben“? Gisela HarrasHarras propagiert diese These: „Dies heißt, [es] gibt […] nicht die Bedeutung eines Wortes, sondern je nach Situation und Zwecken von Sprechern jeweils verschiedene Bedeutungen. Dahinter steht zugleich die Auffassung, daß der Gebrauch von sprachlichen Ausdrücken – und damit ihre Bedeutungen – abhängig ist von den Intentionen, die Sprecher jeweils haben.“6 Befürworter wie Gegner der Wittgensteinschen Auffassung bedienen sich dieses Mißverständnisses. So warnt Derek BickertonBickerton: “But we must be careful here, or we shall fall into the trap of Wittgenstein’s […] theory of ‚meaning as use‘. This approach holds that things mean what we choose them to mean – and it is a useful gambit against naive realists who believe that language merely labels what is already there.“7 Vielfach wird diese „Bedeutungstheorie“ nachgerade als die große Errungenschaft der pragmatisch orientierten Linguistik gefeiert oder von ihren Gegnern als Argument ihrer Unangemessenheit benutzt.8Bierwisch Was spricht gegen die Interpretation, dass es nicht die Bedeutung gebe, sondern dass ein Wort je nach Kontext und Sprecherintention verschiedene Bedeutungen habe? Im Paragraphen 43 der „Philosophischen Untersuchungen“ spricht nichts gegen diese Interpretation, außer dass sie das „principle of charity“ verletzt, das Prinzip der wohlwollenden Interpretation, welches besagt: „Unterstelle deinem Gesprächspartner nicht, Unsinn sagen zu wollen.“ Wenn der Begriff der Bedeutung dazu dienen soll zu erklären, wie es dem Sprecher möglich ist, in und mit einer Sprache etwas zu meinen, so kann die Bedeutung nicht gleichgesetzt werden mit dem, was der Sprecher von Fall zu Fall meint. Wenn die Bedeutung dazu dienen soll zu verstehenverstehen, was einer in einer gegebenen Situation mit seiner ÄußerungÄußerung intendiert, so kann sie nicht situations- und intentionsabhängig konzeptualisiert werden. Wenn ich den Sprecher verstanden haben muss, um die Bedeutung seiner Wörter zu kennen, so kann die Bedeutung nichts sein, was mir beim Verstehen hilft. Was Wittgenstein unter Bedeutung versteht, soll die Basis des Verstehens sein und nicht dessen Ergebnis. Daraus folgt, dass mit dem Ausdruck Gebrauch nicht einzelne Gebrauchsinstanzen gemeint sein können, sondern nur die Gebrauchsweise in der Sprache, die Regel des Gebrauchs. Aber in der Tat hat Wittgenstein, wenn ich recht sehe, versäumt, eine terminologische Unterscheidung einzuführen, um das, was ein Wort bedeutet, klar von dem differenzieren zu können, was ein Sprecher mit einer speziellen Äußerung dieses Wortes meint. Ich werde in Kapitel 10 auf diese Unterscheidung zurückkommen und eine Terminologie vorschlagen.
Was Wittgenstein mit dem zitierten Paragraphen sagen will, ist dies: Die Bedeutung eines Wortes einer Sprache L besteht in seiner Gebrauchsweise innerhalb von L. Dies gilt für alle Wörter einer Sprache. Wenn du weißt, wie ein Wort verwendet wird, wenn du die RegelRegel seines Gebrauchs in der Sprache L kennst, weißt du alles, was es zu wissen gibt. Wenn du jemandem die Bedeutung eines Wortes beibringen willst, so bringe ihm bei, wie dieses Wort in der Sprache verwendet wird. (Du brauchst ihm dabei nichts über deine Vorstellungen oder sonst etwas über dein Innenleben zu sagen!) Manchmal, wenn schon viele Vorklärungen getroffen sind, kann auch eine hinweisende Definitionhinweisende Definition die Erklärung des Gebrauchs ersetzen.
Es ist nicht nur das Prinzip der wohlwollenden Interpretation, das zu dieser Interpretation Anlass gibt. Sie ergibt sich erstens aus dem Zusammenhang mit den übrigen Schlüsselbegriffen seiner späteren Philosophie – wie dem des Sprachspiels, der Lebensform, der Regel und der Privatsprache. Auf diese Zusammenhänge will ich hier nicht näher eingehen. Zweitens ergibt sie sich aus der Reihe zusätzlicher verstreuter Erläuterungen, Bilder und synonymer Ausdrücke:
Sagen wir: die Bedeutung eines Steines (einer Figur) ist ihre RolleRolle im SpielSpiel. (PU § 563)
Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. – So verschieden die FunktionFunktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.) (PU § 11)
Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. – Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen).
Einen Satz verstehenverstehen, heißt, eine Sprache verstehen. Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen. (PU § 199)
Die Ausdrücke Rolle, Funktion, GepflogenheitGepflogenheit und TechnikTechnik machen hinreichend deutlich, dass Wittgenstein unter Bedeutung nicht das verstanden wissen will, was man bisweilen „Kontextbedeutung“ nennt. Im § 559 sagt er das explizit:
Man möchte etwa von der Funktion des Wortes in diesem Satz reden. Als sei der Satz ein Mechanismus, in welchem das Wort eine bestimmte Funktion habe. Aber worin besteht diese Funktion? Wie tritt sie zu Tage? Denn es ist ja nichts verborgen, wir sehen ja den ganzen Satz! Die Funktion muß sich im Laufe des Kalküls zeigen. (PU § 559)
Wenn Wittgenstein von Funktion, Rolle oder Gebrauch redet, so meint er dies bezogen auf den gesamten Kalkül, auf die gesamte Sprache. Die Bedeutung des Turms im SchachspielSchachspiel zu kennen, heißt, zu wissen, wie man mit ihm ziehen darf und wie nicht. Mehr gibt es bezüglich des Turms (oder einer beliebigen anderen Figur) nicht zu wissen. Die Bedeutung des Turms zu kennen, ist etwas anderes, als den SinnSinn eines bestimmten Zuges zu verstehen. Letzteres setzt ersteres voraus. Die Bedeutung ist nichts Geheimnisvolles, nichts Seelisches oder sonst etwas Inneres. Die Bedeutung ist eine TechnikTechnik, und genau deshalb können wir sie lehren und lernen und modifizieren. Die Theorie besagt nicht: Man muss die Bedeutung eines Wortes kennen, um es richtig gebrauchen zu können. (Man muss die Bedeutung des Turms kennen, um mit ihm richtig ziehen zu können.) Ein Wort richtig gebrauchen können, heißt, die Bedeutung kennen. Es gibt nichts „hinter“ der GebrauchsregelGebrauchsregel, das gleichsam die Korrektheit des Gebrauchs garantiert. Der Gebrauch „fließt“ nicht aus der Bedeutung, ist nicht eine Folge der Bedeutung, sondern er ist die Bedeutung.
Man muss aufpassen, dass man mit der Kategorie des Gebrauchs beziehungsweise der Regel des Gebrauchs nicht unter der Hand ein neues Repräsentationsverhältnis einführt: Das Wort repräsentiert nicht die Regel seines Gebrauchs; es „bedeutet“ nicht die Regel des Gebrauchs, sondern regelhafter Gebrauch macht es bedeutungsvoll.9Kutschera Das Wort verhält sich zu seiner Bedeutung nicht wie das Geld zur Kuh, die man dafür kaufen kann, sondern wie das Geld zu seinem Nutzen.10 Die Bedeutung des Wortes nein kennen, heißt zu wissen, was man mit ihm im Deutschen tun kann: etwa beipflichten auf negativ gestellte Fagen wie Gibt es in Andorra keine Universität? – Nein. Die Kenntnis der Gebrauchsregel schließt natürlich die Kenntnis der Wahrheitsbedingungen mit ein, aber sie schließt nicht-wahrheitswertrelevante Gebrauchsbedingungen nicht aus. Wahrheitsbedingungen sind Spezialfälle von Gebrauchsregeln. Pferd und Mähre mögen, um auf Freges im vorigen Kapitel zitiertes Beispiel zurückzukommen, die gleichen Wahrheitsbedingungen haben: Beide Ausdrücke können (beispielsweise) verwendet werden, um auf Huftiere einer bestimmten Gattung zu verweisen. Aber ihre sonstigen Gebrauchsbedingungen sind verschieden: Mähre wird (beispielsweise) verwendet, um eine gewisse Geringschätzung zum Ausdruck zu bringen, für Pferd gilt das nicht. Die Bedeutung eines Wortes kennen, heißt (gegebenenfalls) nicht nur wissen, welche Bedingungen ein Gegenstand erfüllen muss, damit das Wort geeignet ist, wahrheitsgemäß auf ihn applizierbar zu sein, es heißt auch zu wissen, welcher Art „Winke“, wie FregeFrege so schön sagte, man mit einem Wort geben kann. Wenn Frege schreibt: „Das Wort ‚aber‘ unterscheidet sich von ‚und‘ dadurch, daß man mit ihm andeutet, das Folgende stehe zu dem, was nach dem Vorhergehenden zu erwarten war, in einem Gegensatze“,11 so formulierte er (teilweise) die Bedeutung von aber. Denn er sagt damit: Das Wort aber wird im Deutschen dazu verwendet, das-und-das anzudeuten. Dies zu wissen heißt, die Bedeutung zu kennen.
Eine solche Bedeutungskonzeption hat allen anderen gegenüber entscheidende Vorteile:
1 Die Bedeutung ist nichts Geheimnisvolles. So wie ich den Gebrauch eines Rasierapparats oder des Turms im SchachspielSchachspiel lernen kann, und zwar ganz oder teilweise, so kann ich den Gebrauch eines Wortes lernen.
2 So wie man überprüfen kann, ob einer den Gebrauch des Turms beherrscht, kann man überprüfen, ob er die Bedeutung eines Wortes beherrscht, ohne ihm in den Kopf oder in die Seele schauen zu müssen.
3 Die Bedeutung ist kein „Teil“ des Wortes; so wenig die Gebrauchsweise ein „Teil“ meines Rasierapparats ist. Sie ist ein Aspekt des Wortes, oder allgemeiner des Zeichens.
4 Bedeutungen lassen sich formulieren, ohne seltsame Entitäten erfinden zu müssen, wie etwa semantischesemantische Merkmale, Seme und dergleichen.
5 Bedeutungen lassen sich vergleichen, untersuchen, überprüfen ohne Blick in den Kopf oder die Seele. Es genügt der Blick auf den Sprachgebrauch mit rein linguistischen Methoden: Frequenzuntersuchungen, Kommutationsproben, Implikations- und Präsuppositionstests und dergleichen.
Das Fazit ist: Bedeutungen sind nach diesem Konzept etwas sehr Handliches. Sie sind weder im Kopf noch in der Seele, und das erleichtert ihre Untersuchung enorm! “Cut the pie any way you like, ,meanings‘ just ain’t in the head!“12Putnam
Dennoch fällt es manchem schwer, zu akzeptieren, dass die Bedeutungshaftigkeit eines sprachlichen Zeichens in nichts anderem als dem regelhaften Gebrauch bestehen soll. Der Grund scheint mir der zu sein: Repräsentationistische Theorien leben stets in der tröstlichen Fiktion, einen Garanten außerhalb der Sprache selbst zu haben, der für die Richtigkeit der Verwendung eines Zeichens bürgt; sei es ein inneres Ereignis oder ein Ding der äußeren Wirklichkeit: „Wir verwenden das Wort Frustration gleich, weil wir alle die gleiche VorstellungVorstellung damit verbinden“, würde ein hartgesottener Vorstellungstheoretiker einwenden, ohne zu merken, dass sein einziges Kriterium für seine Hypothese der Gleichheit der Vorstellungen die Gleichartigkeit der Verwendungsweise ist. Wir können uns das Entstehen von Bedeutungshaftigkeit durch Entstehung von Regelhaftigkeit des Gebrauchs leicht klarmachen am Beispiel der Farbsymbolik. Betrachten wir als Beispiel zunächst schwarze Krawatten. Sie zu tragen, ist Zeichen der Trauer. Wenn wir ein Kind fragen: „Warum ist SchwarzSchwarz die Farbe der Trauer?“ so bekommen wir zur Antwort „Weil Schwarz eine traurige Farbe ist.“ Solange wir uns nicht klarmachen, dass anderswo Weiß die Farbe der Trauer ist und in der katholischen Kirche vor Ostern Violett die Farbe der Passion und Rot die Farbe der Märtyrer usw., hat diese Antwort etwas spontan Einleuchtendes. Aber sie ist von der gleichen Logik wie die These, die Schweine hießen Schweine, weil sie schmutzig seien. (AnttilaAnttila hat die Tatsache, dass wir dazu neigen, hinter den Symbolen MotiviertheitMotiviertheit zu suchen, treffend den Woodoo-Effekt der Sprache genannt.) Was Schwarz zum SymbolSymbol der Trauer macht, ist ausschließlich die Tatsache, dass das Tragen dieser Farbe hierzulande geregelt ist und darüber kollektives Wissen besteht.
Betrachten wir zur Verdeutlichung ein fiktives Beispiel der Genese der Bedeutungshaftigkeit einer Farbe in vier Phasen und nehmen wir an:
1. Ich habe eine Marotte. Immer wenn ich erkältet bin, trage ich eine gelbe Krawatte. (Dies ist noch kein Beispiel für eine RegelRegel, sondern eines für eine Regularität. Denn zum Begriff der Regel gehört es, Fehler machen zu können. Wenn ich einmal keine gelbe Krawatte trüge trotz Erkältung, könnte mir niemand den Vorwurf fehlerhaften Verhaltens machen, sondern höchsten den der Inkonsequenz. Regelhaftes Verhalten ist immer eine Sache von vielen, einer Population.)
2. Die Menschen meiner Umgebung durchschauen diese Marotte. (Damit ist meine gelbe Krawatte in gewisser Weise für die anderen ein Zeichen dafür geworden, dass ich erkältet bin. Aber es ist kein Zeichen, wie ein sprachliches Zeichen ein Zeichen ist. Auf den Unterschied werde ich in Kapitel 13 zu sprechen kommen. Die Basis der ZeichenhaftigkeitZeichenhaftigkeit ist in diesem Falle die Kenntnis einer Regelmäßgkeit; so wie mein voller Briefkasten für mich ein Zeichen dafür sein kann, dass es bereits zehn Uhr ist, nämlich dann, wenn ich weiß, dass der Postbote immer gegen zehn Uhr kommt.)
3. Die andern finden Gefallen an meiner Marotte und übernehmen sie. (Dies ist immer noch nicht der Zustand, in dem eine Regel des Gebrauchs der gelben Krawatte gilt. Es handelt sich lediglich um eine Vielzahl von Verhaltensregularitäten.)
4. Durch Beobachtungen, Gespräche, Sanktionsverhalten („Was, du trägst, obwohl du stark erkältet bist, eine grüne Krawatte?“) und dergleichen entsteht in dieser Population kollektives Wissen bezüglich dieser VerhaltensregularitätVerhaltensregularität: Jeder weiß von jedem, dass er bei Erkältung eine gelbe Krawatte trägt; und jeder weiß von jedem, dass er das von ihm selbst weiß. Damit ersteht auch eine gewisse Verhaltenserwartung auf den anderen bezogen und, resultierend daraus, eine gewisse Verhaltensverpflichtung auf sich selbst bezogen. Man trägt bei Erkältung eine gelbe Krawatte. (Damit ist aus einer individuellen Marotte eine RegelRegel entstanden. Die gelbe Krawatte ist zum Zeichen für Erkältung geworden. Nun kann nicht nur der andere erkennen, dass ich erkältet bin, sondern die Krawatte wird von nun an dazu verwendet, dem andern erkennen zu geben, dass der Krawattenträger erkältet ist. Von nun an lässt sich mit ihr auch lügen.)
Was zeigt uns dieses Beispiel? Es gehört nicht viel dazu, damit etwas bedeutungsvoll wird. Auf diese oder ähnliche Weise ist wohl die lila Latzhose zum Zeichen der Emanzipation und das lila Tuch zum Zeichen der Osterpassion geworden. Wenn ein solcher Prozess dann abgeschlossen ist und die Regelbefolgung Bestandteil der alltäglichen Lebensform geworden ist, dann geben die Kinder auf die Frage „Warum trägt man bei Erkältung eine gelbe Krawatte?“ die Antwort: „Weil Gelb so eine kranke Farbe ist.“ Und die Vorstellungstheoretiker können dann sagen: „Weil die Menschen mit Gelb die VorstellungVorstellung von Schnupfen und Erkältung verbinden, deshalb wird die gelbe Krawatte getragen, um dem andern mitzuteilen, dass man erkältet ist. Der Krawattenträger enkodiert seine Vorstellung von Erkältung in die gelbe Krawatte, und der Beobachter dekodiert sie und gelangt auf diese Weise in den Besitz der Kenntnis der Vorstellung des Krawattenträgers.“ Für Merkmalssemantiker hat Gelb von nun an die semantischen Merkmale [+ MENSCHLICH, + MÄNNLICH, + ERWACHSEN, + ERKÄLTET].