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Variation Nr. 1

Leitmotiv meines Lebens

Im November 1960 schrieb mir mein wunderbarer Lehrer Bruno Seidlhofer mit einem blauen Kugelschreiber auf die Wiener Urtext-Ausgabe von Beethovens Variationen für Klavier folgende Widmung: »Meinem lieben Rudolf Buchbinder mit den besten und herzlichsten Wünschen für die Zukunft.« Der Musikwissenschaftler und Leiter der Gustav Mahler Gesellschaft, Erwin Ratz, hatte das Heft damals herausgegeben, Seidlhofer hatte die Fingersätze beigetragen. Und nun widmete er mir, seinem Schüler, ein Exemplar. Zwei Jahre, nachdem ich in seiner Meisterklasse an der Musikhochschule in Wien aufgenommen worden war. Ich war damals 13 Jahre alt. Seidlhofer, zu dessen Schülern auch Martha Argerich und Friedrich Gulda gehörten, nannte mich in der Regel weder Rudolf und schon gar nicht Buchbinder – ich war für ihn einfach der »Burli«. Und für den »Burli« lagen die Diabelli-Variationen, die er mir an diesem Tag überreichte, als Aufführungsstücke noch in weiter Ferne.

Zwei Jahre später kam Seidlhofer erneut mit Diabelli zu uns Schülern – dieses Mal mit einer wunderbaren Idee. Er wollte einen Diabelli-Abend veranstalten, und dafür sollte der »Burli« die ersten 25 der 50 Variationen des sogenannten »Vaterländischen Künstlervereins« spielen (da sie alphabetisch geordnet sind, waren es die Variationen von »A« wie Ignaz Aßmayer bis »M« wie Joseph Mayseder). Ein Kommilitone übernahm den zweiten Teil (von Ignaz Moscheles bis Johann Hugo Worzischek), und eine finnische Studentin durfte schließlich Beethovens 33 Veränderungen spielen.

Erst heute wird mir bewusst, was für einen Eindruck dieser Aufführungsabend bei mir hinterlassen hat. Diabellis Walzer und seine verschiedenen Variationen sollten mich ein Leben lang begleiten, ja sie wurden ein Schlüsselwerk für mein Verständnis von Beethoven und des Klavierspiels an sich.

1973, elf Jahre nach unserem studentischen Diabelli-Aufführungsabend an der Musikhochschule, war es für mich selbstverständlich, dass ich in den Berliner Teldec-Studios nicht nur Beethovens Diabelli-Variationen einspielte, sondern auch die 50 Variationen des »Vaterländischen Künstlervereins«. Das war ich meinem Lehrer Seidlhofer schuldig. Soweit ich weiß, war es damals die einzige Einspielung aller 50 Variationen, und viele Menschen bekamen diese weitgehend unbekannten Stücke nun zum ersten Mal zu hören.

Mein größtes Ziel in jener Zeit war es aber, irgendwann einmal sämtliche Sonaten Beethovens aufzunehmen. Doch ich wusste, dass ich diesen Gipfel behutsam stürmen musste, und hatte mir vorgenommen, zunächst einmal alle anderen Klavierwerke Beethovens in Angriff zu nehmen. Die ersten Stücke wurden auf sechs Langspielplatten dokumentiert, und 1976 bekam ich die Möglichkeit, erneut sechs Platten einzuspielen – dieses Mal mit sämtlichen Beethoven-Variationen. Ich entschloss mich, auch die Diabelli-Variationen erneut aufzunehmen, da es mir falsch schien, eine alte Aufnahme in das groß angelegte Beethoven-Projekt einzuschmuggeln. Also hieß es: noch einmal Diabelli – zum zweiten Mal in drei Jahren.

Viel später, als einer meiner eigenen Schüler mir von seiner Begegnung mit dem großartigen bulgarischen Pianisten Alexis Weissenberg erzählte, musste ich sehr lachen. Denn durch ihn erfuhr ich, welchen Spitznamen ich inzwischen bei meinen Kollegen hatte. Mein Schüler hatte Weissenberg berichtet, dass er bei mir studierte. Weissenberg soll ihn angeschaut und geschmunzelt haben, um dann trocken zu sagen: »Ah, bei Monsieur Diabelli!«

Tatsächlich hat mich in dieser Zeit kein anderes Werk Beethovens so sehr beschäftigt und herausgefordert wie die Diabelli-Variationen. Mein Onkel hat früh damit begonnen, all meine Auftritte in einem schwarzen Leitz-Ordner zu verzeichnen, und ich habe dieses kleine Ritual mit viel Spaß fortgesetzt. Jedes halbe Jahr trage ich meine letzten Auftritte in diesen Ordner ein. Und so kann ich nun feststellen, dass ich die Diabelli-Variationen bislang genau 99 Mal öffentlich gespielt habe. Der Zufall will es, dass ausgerechnet die Aufführung im Wiener Musikverein zum 250. Beethoven-Jubiläum und zum Auftakt des Projektes Diabelli 2020 das 100. Mal sein wird, dass ich diese Stücke öffentlich spiele.

Als ich beschlossen habe, Beethovens 33 Veränderungen 44 Jahre nach der letzten Einspielung erneut aufzunehmen (dieses Mal für die Deutsche Grammophon), war mir sofort klar, dass sich mein ganz persönlicher Diabelli-Kreis nur schließen würde, wenn ich die Variationen erneut – so wie einst mit Bruno Seidlhofer – mit jenen Variationen der Komponisten des »Vaterländischen Künstlervereins« zusammenbringen würde. Mit dieser Überlegung ging die Idee des Projektes Diabelli 2020 einher, in dem sich die Vergangenheit und die Gegenwart miteinander vereinen sollten: Warum nicht Komponisten unserer Zeit vor jene Herausforderung stellen, der sich einst auch der junge Franz Liszt, der jugendliche Franz Schubert und der weise Carl Czerny gestellt haben? Warum nicht mit Diabelli-Variationen unserer Zeit den Bogen in die Vergangenheit schlagen?

Vor mir liegen die Noten, die Bruno Seidlhofer mir vor 60 Jahren geschenkt hat: ein unscheinbares weißes Heftchen, das für mich aber eine große Bedeutung hat. Mit gelber Farbe hat mein Lehrer, als wir später gemeinsam an Beethovens Diabelli-Variationen gearbeitet haben, hier seine Anmerkungen für mich eingeschrieben: Pedal-Anweisungen, Pausen und Gestaltungsvorschläge. Wenn ich heute, mit 73 Jahren, daran zurückdenke, wie Bruno Seidlhofer mir, dem 13-jährigen »Burli«, mit seinem Kugelschreiber seine Widmung auf die Beethoven-Variationen kritzelte, frage ich mich, ob er sich damals schon vorstellen konnte, welch großen Einfluss dieses Geschenk auf mich, auf mein Musizieren und mein Leben haben würde. Kaum eine andere Komposition Beethovens verfolgt mich so lange, so intensiv und fordert mich noch heute immer wieder zu einer neuen, tiefen Begegnung mit diesem einzigartigen, in allen Formen Grenzen überschreitenden Komponisten heraus wie das op. 120. Beethovens letzter Walzer ist, wenn man so will, eines meiner Lebens-Leitmotive geworden.

Der letzte Walzer

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