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GRÜNDUNG DES ZENTRUMS FÜR SYSTEMISCHES DENKEN

Ab dem Jahr 2010 war mir das Nachdenken über Sinn und Zweck von Erfolg und Misserfolg besonders wichtig. Zusammen mit einem Netzwerk von Menschen aus unterschiedlichen Berufen, Religionen, Kulturkreisen, mit verschiedenen Talenten und Weltanschauungen gründete ich das „Zentrum für Systemisches Denken“4, nachfolgend ZfSD genannt. Wir begannen, ein Denken zu erforschen, das vor allem in der Wirtschaft und Politik für viele Menschen neu oder ungewohnt war: das systemische Denken.

Vielen Psychologen und Soziologen war dieses Denken schon länger vertraut5. Sie haben verstanden, dass die Probleme eines Menschen nicht nur von ihm allein erzeugt werden, sondern immer das Ergebnis eines ihn umgebenden Systems sind (z.B. Beziehung, Familie, Gruppe, Firma, Gesellschaft, etc.). Entsprechend wichtig war es für sie, nichtlineare Beziehungen und multikausale Abhängigkeiten deutlich zu machen. Ein schönes Beispiel dafür ist das Arbeiten, Fühlen und Denken mit Hilfe der sog. Familienaufstellungen. Dabei werden die Konflikte oder Probleme von Personen dargestellt durch unbeteiligte Stellvertreter mittels einer räumlichen Aufstellung. Obwohl die Darsteller nicht persönlich im Konflikt involviert sind, können sie in ihrer räumlichen Konstellation meist verblüffend zutreffende Aussagen über die Beziehungen und Wechselwirkungen im realen System machen.

Dieses systemische Denken von Therapeuten konnte sich jedoch kaum über ihr Fachgebiet hinaus verbreiten. Aus der Sicht des ZfSD ist dieses Denken gleichwohl für alle Berufsgruppen und Gesellschaftsbereiche wichtig. Es sollte jedoch nicht so verstanden werden, dass das systemische Denken das bisher gewohnte Denken ersetzen könne, sondern dass das systemische Denken zusätzlich gelernt werden muss und schließlich das fachspezifische Denken wie ein übergeordnetes Denken leiten soll.

Die erste Schwierigkeit, sich mit dem systemischen Denken vertraut zu machen, ist zunächst ein sprachliches Verständnisproblem. Es besteht darin, dass sich die Interessenten dem systemischen Denken zwar aufgeschlossen zuwenden, aber dass sie es zunächst mit dem besser bekannten „systematischem Denken“ verwechseln. Letzteres ist aber ein grundsätzlich anderes Denken, dessen Gedankenabläufe einer ordnenden Regel, einer Systematik oder einer Struktur folgen, wie z.B.: „der Reihe nach“, „ohne Ausnahme“, „schrittweise eine vorgegebene Methode abarbeitend“ oder „konsequent logisch“.

Die meisten Missverständnisse beim Versuch, systemisch zu denken, bestehen darin, dass das zu betrachtende System (wie z.B. Partnerschaft, Familie, Gemeinde, Unternehmen, Wirtschaft, Finanzsystem, Erdklima) als ein aus Einzelteilen zusammengesetztes Gesamtwerk gesehen wird (ähnlich wie ein Uhrwerk aus Zahnrädern). Man meint, dass man die Einzelteile des Systems und ihre Wirkungen aufeinander analysieren müsse und dass man auf diese Weise systemisch denken würde. Das ist zu wenig.

Man kann das systemische Denken wie folgt charakterisieren:

- Es ist ein weitstirniges Denken (i. Ggs. zum engstirnigen Denken, das auf bestimmte Arten von Gedanken fokussiert, wie z.B.: Logik, Ratio, Analyse, Kausalität, Strategie, Politik, Egoismus, Optimismus, Opportunismus, Aktionismus, Fundamentalismus, u.v.a.m.). Es versucht zudem, alle Einflüsse im Zaum zu halten, die den geistigen Horizont einengen, wie z.B. Ideologien, Zeitgeist, Angst, Vorurteil.

- Es ist ein fächerübergreifendes Denken (i. Ggs. zu den alten fachspezifischen Denkarten, wie z.B.: kaufmännisches, politisches, juristisches oder naturwissenschaftliches Denken).

- Es zielt darauf ab, das Wesentliche eines Systems zu verstehen (wie z.B.: Art, Struktur, Paradigmen, Tabus, Stärken und Schwächen, Sinn) und weniger auf die Auffälligkeiten zu achten (wie z. B. Aussehen, Titulierungen, Größe, Kosten).

- Es reflektiert mehr die größeren Zusammenhänge (wie z.B.: das übergeordnete System, Wechsel- und Fernwirkungen, Vulnerabilitäten, Resilienzen, Nachhaltigkeit) und befasst sich nicht nur mit den Details (wie z.B.: Systemelemente, Daten, Informationen, Methoden, Prozesse).

- Es achtet mehr auf zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten (Trends, Impulse, Umbrüche, Langzeitwirkungen, Perspektiven) als auf die Fortschreibung des gegenwärtigen Zustands (Sicherheit, Stabilität, Berechenbarkeit, Norm, Tradition).

- Es macht Freude (Überraschungen, Witz, Aha-Effekte, Begeisterung, Zuversicht u.v.a.m.), anstatt quälend zu sein.

- Es ist eine Vorstufe zu einem globalen Denken "Think global, act local". Es ist die – bislang vielerorts fehlende – geistige Voraussetzung dafür, dass eine Welt ohne Grenzen, Kriege, Folter, Hunger, Armut und Unterdrückung geschaffen werden kann.

- Es hat den Sinn, dass wir nicht nur die technologische Entwicklung und die künstliche Intelligenz vorantreiben (was der Menschheit in den letzten 100 Jahren in phantastischer Weise gelungen ist!), sondern dass wir auch die menschliche Intelligenz weiterentwickeln. Das gilt zunächst einmal für unsere Konfliktlösefähigkeit, Kreativität, Weitblick, Weisheit, Menschenbild, Weltanschauung.

- Darüber hinaus soll das systemische Denken dazu anregen, neue geistige Fähigkeiten zu entwickeln, die heute unterschätzt oder noch völlig unbekannt sind.

Man könnte die Arbeit im Zentrum für Systemisches Denken auch so beschreiben: wir beschäftigten uns mit einem Denken, wie es schon vor langer Zeit erfolgreich angewendet worden ist, wie z.B. von Konfuzius, Aristoteles, Leonardo da Vinci, Johann Wolfgang von Goethe, Alexander von Humboldt. Es war uns klar, dass man kein Genie von Weltrang sein muss, um systemisch zu denken. Schließlich wird es auch heute von manchen Menschen tagtäglich ausgeübt, ohne dass es ihnen bewusst ist und ohne dass sie darüber reden oder Bücher schreiben. Dazu gehören beispielsweise eine alleinerziehende Mutter, die ihren Kindern eine glückliche Kindheit ermöglicht, oder Lehrer und Lehrerinnen, die ihren Schülern Freude am Lernen vermitteln.

Ob nun speziell dieses systemische Denken unsere Erwartungen und den Bedarf der Gesellschaft nach einem grundsätzlich neuem Denken erfüllt, das muss ausprobiert und erforscht werden. Das braucht Zeit. Auf jeden Fall ist es notwendig, dass wir uns die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wie wir ansonsten neu denken könnten. Das soll auch mit diesem Buch geschehen.

Der Verhaltenswissenschaftler, Psychologe und Theologe Bojan Godina hat, zusammen mit 11 anderen Autoren, dem systemischen Denken noch ein weiteres Attribut hinzugefügt, nämlich das „finale Denken“6. Damit meinen sie ein „Denken vom Ende her“ anstelle einer gegenwartsbezogenen und nicht nachhaltigen Sichtweise. Die von ihm beschriebene „Systemisch finale Intelligenz“7 soll als Bindeglied zwischen dem traditionellen Intelligenzkonzept und der psychologischen Weisheitsforschung wirken.

Seine Definition von Weisheit umfasst auch Aspekte der Spiritualität, Religiosität und einer moralischen Werteorientierung. Letztere soll die Menschen unterschiedlicher Religionen befähigen, einander zu tolerieren. Er fordert die Intelligenzforscher auf, universal minimale moralische Strukturen zu schaffen. Sie sind notwendig, um die immer komplexer werdenden Probleme der Neuzeit (Klimawandel, Radikalismus, Flüchtlingskrise, Cyberkriminalität, etc.) leichter lösen zu können.

4 http://www.zentrum-systemisches-denken.de/

5 https://www.beltz.de/fileadmin/beltz/leseproben/978-3-407-29490-6.pdf, https://www.dgsf.org/, https://systemische-gesellschaft.de/, http://www.wuerzburger-institut.de/index.php?article_id=2

6 Beispiel: Schadstoffe, wie z.B. Plastikmüll, sollen am Ende ihres Lebenszyklus nicht entsorgt werden, sondern sie sollen gar nicht erst hergestellt werden.

7 Bojan Godina, “Systemisch finale Intelligenz”, Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2018, ISBN 978-3-658-20580-5, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20581-2

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