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Der Weg in die Aggression

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Dem Rückzug, der Regression, steht die Flucht in Aggression als extrovertierte Reaktion gegenüber. Aggression muß – und so kann man das auch auf die Regression beziehen – keinesfalls destruktiv sein, sondern kann zu sehr produktivem Handeln führen. „Angst und Aggression sind wesentliche Triebkräfte zur Vergesellschaftung des Menschen", schreibt Raymond Battegay8, und fügt hinzu: „Ohne die ihm eigene Aggressivität und Verängstigung würde ihn kaum etwas dazu bringen, nach gleichermaßen Betroffenen, Gleichgesinnten, Kameraden, Freunden zu suchen. Angst und Aggression geben Individuen und Gruppen den Impetus, Kulturwerte zu schaffen, aus sich heraus zu gestalten, der Zeitlichkeit zu trotzen, Dämme gegen Naturkräfte zu errichten, sich zu behaupten." Dieser Schritt zur Verwirklichung seines Selbst kann also nur gelingen, wenn der Mensch in Kontakt mit seiner Mitwelt tritt.

Eine grundlegende Weise der Kontaktnahme ist aber die Kommunikation, in der der Mensch zum Menschen wird. Sie zeichnet ihn in hohem Maße und in besonderer Weise vor der Tierwelt aus, denn mit der Sprache kann der Mensch sich und seine Gefühlswelt darstellen. Der Mensch verwirklicht sich nicht in der Vereinsamung, weder in der zivilisatorischen, ja auch nicht in der kulturellen Einöde. Wer nicht fähig ist, sich seiner Angst zu befragen, wird unfähig sein der zwischenmenschlichen Kommunikation. Angst als dumpfes Grundmuster seiner Wünsche und Handlungen endet in gedankenschwerer Schwachheit und Not, die das Leben sinnentleert und hohl begreift. Hierher gehört der Melancholiker, der, als hippokratischer Temperamentstyp, zu Traurigkeit bzw. Schwermut neigende Mensch. Andere kommen oft im Gewand von Nüchternheit und Beredsamkeit daher, wenden sich aber, oft in bedrohlicher Weise, blindwütig und gewaltsam gegen Personen, Tiere und auch Sachen.

In der Ambivalenz von Abwehr und Aggression kann die Angst dem Menschen einerseits helfen, die Nähe und Geborgenheit des Mitmenschen zu suchen, andererseits ihn veranlassen, sich von ihm zu entfernen und in sich zurückzuziehen. Er kann – ob berechtigt oder nicht – den anderen feindlich einschätzen oder ihm freundlich gesinnt gegenübertreten. Er kann, er muß sich zwischen einem von beidem entscheiden. Er tut das im Augenblick emotional und intuitiv gesteuert, daher für andere schwer versteh- und oft unvorhersehbar.

Die Balance zwischen dieser unserer Angst und unserem Wissen um unser Selbst und unseren Möglichkeiten wird entscheiden, ob wir unseren Aggressionen freien Lauf lassen oder unseren Ängsten souverän begegnen können. Wenn wir persönlich nur über unzulängliche Mittel verfügen, um die Tragweite und die Art der Verwicklungen der Situation zu erkennen, werden wir sicherlich auch eher dazu neigen, unseren Aggressionen freien Lauf zu lassen. Unzulänglichkeit kann im Charakter oder in der Bildung eines Menschen begründet sein. Ein Mensch kann immer nur so handeln, wie es seinem Wissen, seinen Kenntnissen und Erkenntnissen entspricht. Auch ein „studierter" oder sonstwie ruhiger und besonnener Mensch kann in eine derartige Lage geraten, daß seine Emotionen mit ihm durchgehen, weil er gerade nicht über jenes Wissen, über jene Kenntnisse und Erkenntnisse verfügt, die hier erforderlich wären. Zu viele augenblickliche Faktoren spielen bei der Konfrontation mit einer Angst eine Rolle und können jedem ein Schnippchen schlagen! Mit einer zunächst unterschwelligen, dann zunehmend mehr an die Oberfläche dringenden Aggressivität sind aber Konflikte vorprogrammiert.

In Abbildung 6 wird Aggression unter anderem als Folge unbefriedigter Bedürfnisse gesehen. Solche wie Essen, Trinken und Hausen sind sehr essentiell, oder jenes wie das sexuelle Verlangen ist wegen des biologischen Arterhaltungstriebes anderweitig existentiell. Der richtig bewertete und anerkannte Befriedigungstrieb je eines Bedürfnisses führt zu einem sublimierten Aggressionstrieb, der, solange Befriedigung möglich ist, aufgrund seiner urwüchsigen Kraft zielgerichtet und zielgerecht eingesetzt werden kann und infolge erfolgreicher Befriedigung positiv erlebt wird. Mangelnde Möglichkeiten der Befriedigung oder, was aufs Gleiche herauskommt, subjektive Überbewertung führen zu einem ungesättigten Trieb, der sich entfesseln kann und in Angst oder Wut umschlägt. Wenn beklagt wird, daß Aggressivität so sehr das öffentliche Klima beherrscht, dann hat das sicher teilweise in den ungenügend befriedigt geglaubten oder tatsächlich ungenügend befriedigten, eventuell subjektiven libidinösen Bedürfnissen seine Wurzeln.

Unter Furcht wird eine Angst vor bekannten oder bestimmten Situationen, vor Gefahrensituationen verstanden, während Angst unbestimmt ist. Beide sind Quelle für Wut. Bei den in den nächsten Sätzen erwähnten Ereignissen ist mehr Wut vor Unbestimmten im Spiel als vor Konkretem. Im Grunde genommen sollte niemand sich davor fürchten müssen, daß seine essentiellen Bedürfnisse nicht gedeckt werden könnten, denn grundsätzlich ist in unserer reichen Gesellschaft genug da. Wie gleichgültig unsere Gesellschaft gegenüber diesem aber ist, zeigt die hohe Rate der in der neuen Armut lebenden Menschen.

Tagtäglich lesen und hören wir in den Medien, daß Menschen ihrer Aggression mehr oder weniger ungehemmt freien Lauf lassen. Heute sind es Rassisten und Fremdenhasser, die Unterkünfte anzünden (Angst, die sich auf Fremde fokussiert), am anderen Tag die Bauern wegen vermeintlich ungerechter Agrarhandelspreise oder die Fischer, weil Streit um Fischgründe oder Fangquoten ausgebrochen ist (Furcht vor vermindertem Einkommen), dann ziehen wieder Schlägertrupps durch unsere Städte, weil jungen Menschen irgend etwas nicht passt oder verquer gekommen ist (zumeist also eine eher diffuse Angst), oder Demonstrationen schlagen in Krawalle um. Hooliganismus ist ein böses Zeichen unserer Zeit. Können die beteiligten Menschen wirklich ihre Ängste und ihre Wut nicht reflektieren und ihnen rational begegnen, fragt man sich. Sehen diese Menschen keine Möglichkeiten, ihre Konflikte anders zu lösen? Wenn es wenigstens Konflikte wären! Oft wird aus purem Lustgewinn auf andere eingeschlagen bis das Blut fließt.

Berechtigterweise kann man aber auch fragen, was die Gesellschaft unterlassen hat, daß solche aggressiven Kräfte zum Ausbruch kommen. Tatsächlich sind in unseren Repräsentativdemokratien die Entscheidungsprozesse auf allen Ebenen langsam und undurchsichtig geworden und benachteiligen oftmals einzelne Interessengruppen, deren gutes Recht es ist, ihre Wünsche durch Demonstrationen und andere Aktionen zu artikulieren. Aber eines ist dabei nicht statthaft: die Anwendung von Gewalt. Jedoch wird wegen einer zu niedrigen Frustrationstoleranzschwelle und einer erhöhten Bereitschaft zur Instrumentalisierung der Gewalt zu oft die Grenze des Annehmbaren überschritten.

Eine andere Frage ist freilich, warum die Frustrationstoleranzschwelle gegenüber den täglichen Problemen häufig so niedrig ist. Man kann sich fragen, ob wirklich die Ansprüche an uns im modernen, technisierten Leben so enorm gestiegen sind, dass nur verdeckte oder offene Gewalt uns weiter helfen, wo doch von den Meisten von uns der eigentliche ökonomische Druck für die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse des Lebens weggenommen ist.

Der Lärm und die allgegenwärtige, aufdringliche Werbung, die beträchtliche Unruhe in unsere Alltagswelt gebracht haben, sind ein unleugbarer und sehr ernst zu nehmender Stressor geworden. Die Werbung hat nur ein Ziel: Sie will Aufmerksamkeit für sich und in uns Wünsche und Begehrlichkeiten nach Dingen erzeugen, die wir im Grunde genommen nicht brauchen. Die Sexualisierung des öffentlichen und privaten Raumes – wozu Werbung in nicht unerheblichem Maß beiträgt – führt gerade in diesem so intimen Lebens- und Erfahrungsbereich zu fehlgeleitetem Verhalten. Der äußere Lärm läßt keine innere Stille zu.

Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Menschen nicht mehr ohne den Hörerknopf im Ohr durchs Leben gehen können. Wir sind umtriebig, nervös. Die Angst, etwas zu verpassen, treibt uns hierhin und dorthin. Die zunehmende Unruhe steigert erneut unser Unbefinden. Kein Wunder dann, wie oft wir aggressiv werden, wir aus der Haut fahren und in uns die Geduld platzt, weil wir selbst bei Kleinigkeiten oder Nebensächlichkeiten mit unguten Gefühlen, die in uns aufsteigen, nicht mehr fertig werden und sie nicht mehr unter Kontrolle haben. Ohne daß wir es merken, fokussiert sich unsere Aggression gegen etwas, was vordergründig bedeutsam und änderbar erscheint, aber nicht die wirkliche Ursache ist. Nun fällt es uns schwer, zwischen den täglichen Problemchen und den wirklichen Problemen zu unterscheiden. Es fehlt uns eine gewisse Gelassenheit und wir wissen nicht mehr, wann wir das, an dem wir uns stoßen, hinnehmen müssen oder uns vor ihm wehren können. Deshalb bedarf es oft nur noch eines kleinen Anstoßes, daß wir unserer Aggression freien Lauf lassen.

Viele Konflikte in dieser Welt beruhen auf dieser Kadenz von Streß – Angst – Aggression, gleichviel, ob es sich um personale Konflikte oder um Intra- oder Intergruppenkonflikte handelt. Letztere werden oft mit Gewalt, unter Völkern oder ethnischen Gruppen meist mit Waffengewalt aufs brutalste ausgefochten. Häufig sind dies Konflikte der wertmäßig-kulturellen Dimension, die ursächlich sind, seltener Mittel- oder Zielkonflikte.

Beispielhaft für diese Gedanken sei auf Jugendliche hingewiesen, die nach Beendigung ihrer Ausbildung keine Arbeit finden können. In der heutigen Zeit keinesfalls ein Stigma für persönliches Unvermögen, aber trotzdem so in den Köpfen wirksam. Wer nämlich den Einstieg ins Berufsleben verpasst hat, oder auch anders gesagt, wem einmal der Einstieg ins Berufsleben verwehrt wurde, dem sind für die Gestaltung seines weiteren Lebens schwer überwindbare Hindernisse in den Weg gestellt. Kein Zweifel, das löst in vielen Jugendlichen Angst aus. Eine schwere soziale Auseinandersetzung steht uns in die Lande, wenn der Jugendarbeitslosigkeit nicht frühzeitig begegnet und den Jugendlichen Perspektiven für ihr Leben gegeben werden. Die Geschehnisse in den Pariser Banlieues gaben und geben warnende Signale.

Was uns Älteren so selbstverständlich war, Schulbildung – berufliche Ausbildung – berufliches Leben, ist ein schwerwiegendes Problem für die Jüngeren geworden. Bedenken wir, daß wir ihnen diese Kadenz als natürlich und selbstverständlich mit auf ihren Lebensweg gaben. Ein Lebensentwurf, wie früher gang und gäbe gewesen, ist heute nur noch selten möglich. Von den Jungen wird wie selbstverständlich verlangt, ihren Lebensentwurf umzuschreiben. Was wir Älteren nicht gekannt haben, ist für sie Realität. Wenn wir wegsehen, sollten wir uns nächstens nicht über sehr belastende Konflikte beklagen.

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