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I.

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„Pro gloria et patria!“

Die Stimme des deutschen Kaisers klang anders als das Gemurmel der Würdenträger, die vor ihm ihre Festreden zur Einweihung des neuen Reichstags gehalten hatten. Diese hüstelnden, stockenden und sich räuspernden Exzellenzen waren schon auf wenige Dutzend Schritt im Umkreise des sie umringenden, goldgestickten und ordenprunkenden, leise sporenklirrenden und verstohlen gähnenden Gewühls unhörbar gewesen. Eine gewisse Resignation, jene feierliche Ergebung in das Schicksal, das die Mitwirkenden jedes grossen offiziellen Staatsaktes kennzeichnet, lag auf allen Gesichtern.

Und nun plötzlich — hell und scharf, wie ein Kommandoruf auf dem Exerzierplatz, rings in dem Riesenraum alles zum Leben erweckend, dies „Pro gloria et patria!“ aus dem Munde des Kaisers.

Ein Rauschen wie das Wehen des Windes in Roggenfeldern ging in bunt zitternden Wogen durch den Festsaal unten und die Tribünen der Zuschauer oben unter der Kuppel, und durch das unbestimmte verhaltene Brausen klangen silberhell drei Schläge.

„Jetzt legt der Kaiser den Schlussstein zum Reichstag,“ hörte Ellen hinter sich die gedämpfte Stimme ihres Mannes und drehte sich zu der neben ihr sitzenden Schwester: „... Mary ... hast du gehört? Jetzt legt der Kaiser ...“

Sie konnte nicht weitersprechen, und Mary nickte nur stumm, ohne den Blick von dem Gefunkel und Gewimmel unten abzuwenden. Die Posaunenfanfaren, die gleichzeitig mit den Hammerschlägen des Kaisers wieder losbrachen, erstickten jedes Wort und verschlangen jeden andern Laut in ihren schmetternden, gellend wie der Schlachtruf vor dem Treffen durch Kuppel und Hallen brandenden Klangwellen.

Es war etwas Nervenaufrüttelndes, etwas von elementarer Kraft in diesen langgezogenen, jauchzenden Tönen. Mary fühlte, dass ein leichtes Frösteln sie überlief, während sie sich so weit wie möglich über das rote Tuch der Tribünenbrüstung lehnte und, wie man aus der Loge ein prunkvolles Ausstattungsstück geniesst, mit weit offenen Augen die Farbenorgie des nach dem Kaiser tief da unten am Schlussstein hämmernden offiziellen Deutschlands in sich aufnahm.

Was da eigentlich unter der Kuppelwölbung sich in Hunderten und Tausenden von glitzernden Punkten drängte und zwecklos in eintönigem, leisem Summen hin und her schob — sie hätte es nicht sagen können. Es war ein Rausch für die Augen, ein papageienfarbener Traum von Gold und Silber, der keine Überlegung und Unterscheidung zuliess.

Doch! Da, wo es in der Mitte des Gedränges licht war und neben dem viereckigen grossen Marmorwürfel des Schlusssteins die Steinmetzen in langen Schurzfellen, die silberne Mörtelkelle und den goldenen Hammer von Hand zu Hand gebend, standen — da, gerade unter ihr, war der Kaiser. Sie sah den Silberadler der Gardeducorps auf seinem Helm blitzen und dahinter goldig schimmernd die Pickelhauben der Flügeladjutanten, hünenhafter Erscheinungen in lichtgrauen, von der Silberschärpe eng gegürteten Mänteln.

Neben dem Kaiser die Kaiserin und die Prinzessinnen, alle in tiefer Trauer, mit langwallendem Flor. In seltsamem Widerspruch zu allem Gewohnten standen da inmitten der bunt herausgeputzten, in Silber, Gold und Scharlach gleissenden tausendköpfigen Männerwelt die wenigen Frauen als schwarzgekleidete, düster wirkende Gestalten da.

„Das ist der Reichskanzler!“ vernahm Mary hinter sich die leicht befangene Stimme ihres Schwagers. „... Da der kleine alte Herr ... er sieht wie ein Knabe aus, wie er da zwischen all den Potsdamer Riesen hintrippelt. ... Der breitschulterige, derbe Mann neben ihm ist der Minister des Innern ... ein merkwürdiger Gegensatz ... das feine, alte und müde Süddeutschland und das robuste Ostelbiertum, das noch von keines Gedankens Blässe ...“

„Davon will ich jetzt auch nicht angekränkelt werden,“ sagte Mary, ohne den Kopf zu wenden. „Was liegt mir daran, wie die Leute alle heissen! Ich will bloss schauen!“

Die Farbenpracht mit durstigen Sinnen schlürfen, die da unten wogt und zittert — ein regenbogenfarbiger Ameisenschwarm, den die Silberfluten des elektrischen Lichtes überspülen. Silber und Gold — das ist der Grundton auf dieser lebendig gewordenen Malerpalette, in der alle Farben durcheinanderwirren und sich zu neuen blendenden Tönen einen. Das Gold spiegelt sich auf den Kragen der Garde, es rankt sich als gesticktes Eichenlaub um ordenklirrende Generalsröcke und schlingt sich in breiten Tressen um die Frackuniformen, in funkelnden Borten um die Dreimaster des Zivils, dessen edelmetallene Pracht heute beinahe das bunte Tuch der Kriegswelt überstrahlt. Sind doch manche der wohlbeleibten Würdenträger vom Hals bis zu den Knien förmlich in Gold gepanzert, jenen grossen Käfern gleich, die in der Sommersonne metallisch schillernd am Wegrain dahinschlüpfen.

Freilich hat auch das Militär sein Bestes getan. Schaukelnde weisse Straussenfedern an den Generalshelmen, feuerrote und karmoisinfarbene Beinstreifen über spiegelnden Lackstiefeln, schwarzsammetener, ziegelroter und silberner Halsbesatz, schneeweisse Kürassierkoller und kornblumenblaue Dragonerröcke, purpurne, blutfarbene, kaffeebraune und grasgrüne Attilas, graues Pelzwerk über silberner Verschnürung, Bärenmützen mit bunten Lappen neben turmhohen Potsdamer Blechmützen — eines schlingt sich ins andere und mischt sich im Wellenspiel der Farben mit den schreiendroten Johanniter- und Malteserfräcken, dem flammenden Scharlach der Mecklenburger Ritter. Ein violetter Punkt dazwischen, die Soutane des Armeebischofs, gemengt mit dem Gold der Kammerherren und Stände, die nachtschwarzen Talare der Geistlichkeit, die blau und weiss leuchtenden Tropenuniformen der afrikanischen Pioniere, die weissen Westen, die Dreispitze und goldknöpfigen Fräcke der Admiralität. Und um jeden einzelnen dieser unruhigen Farbenpunkte schlingen sich noch einmal breite bunte Streifen und ein schmales, in Gold und Edelstein glitzerndes Band. Alle Orden der Welt — vom Schwarzen Adler bis zum Weissen Elefanten, vom Eisernen Kreuz bis zum Stern von Bagamoyo — schaukeln und klimpern da in bunter Reihe und ziehen ihre mattgelben, himmelfarbenen und purpurdunklen Bahnen über die Brust des Trägers.

Und in das summende, unruhig wogende, die Augen blendende Regenbogenspiel immer wieder hoch von oben die gellenden, zornig aufschreienden Posaunenfanfaren, das eintönige Hämmern der in langem Zuge heranwallenden Exzellenzen — Mary schwindelte der Kopf. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück.

Ihre Schwester neben ihr war nicht so ergriffen. Das gewohnte freundliche Lächeln auf dem junonischen Gesicht, die Hände im Schoss über dem Fächer gefaltet sass sie zufrieden da wie ein Kind, dem man eine Freude gemacht, und wartete, was nun noch weiter kommen sollte.

Das endlose Klopfen der Würdenträger auf den Schlussstein langweilte sie. „Wie lange dauert denn das noch?“ fragte sie ihren Mann.

Auf Herberts Gesicht lag der spöttische Zug, den sie nun schon seit zwei Jahren an ihm kannte. „Bis alle durch sind,“ sagte er.

„Und dann kommen die Abgeordneten?“

„Welche Abgeordneten?“

„Die vom Reichstag. Für die ist doch das Haus gebaut!“

„Ja.“

„... und da dacht’ ich mir ... wenn der Schlussstein fertig ist, dann kommt Papa und die anderen Reichstagsmitglieder und nehmen Besitz von dem Haus!“

„So könnte es ja auch sein!“ sagte ihr Mann. „Aber es ist nicht so. Die Abgeordneten sind schon da!“

„Wo denn?“

„Unten unter all den anderen Uniformen!“

„Das ist aber komisch ...“ Die schöne Frau kramte ihren Operngucker aus dem Täschchen und schraubte ihn zurecht. „... so wie Papa immer redet ... ich dachte ... da müssten sich die Abgeordneten als ein Ganzes fühlen ... so in einem Haufen beisammen sein ... ich weiss nicht recht, wie ich’s ausdrücken soll ... ich meine ... denen gehört doch der Reichstag ... und nicht all den Herren in Uniform ...“

„So? und wer hat ’s Reich jejründet, Jnädigste?“ hörte sie da hinter sich eine hölzerne Stimme, „wir ... die Leute von Versailles ... die Leute mit ’m Säbel und hohen Stiebeln ... und Strassenkot dran bis oben ’rauf ... und da vorne das Eiserne Kreuz unsres allergnädigsten Herrn und Königs ... wir waren so frei, bei Sedan und da unten vor Orleans, bei fünfzehn Grad Kälte und Franktireurs und noch nicht mal trocken Brot im Mantelsack das Reich zu jründen. Das Zivil ... das kam erst später ... wie alles glücklich vorbei war und der Rummel mit Ehrenjungfrauen und Triumphpforten und Jedichten anjing ... da hab’ ich die ersten Kerls im Frack jesehen ... früher nich!“

Das Ehepaar hatte sich erschrocken umgedreht und in dem hinter ihnen sitzenden spitzbäuchigen kleinen Greis, aus dessen lederfarbenem Gesicht ein schlohweisser Schnurrbart rechts und links in dolchscharf gedrehte Spitzen auslief, den alten von Dalchow auf Messow erkannt. Aus der Zeit, da Herbert als Generalstabsoffizier einer märkischen Division fungiert hatte, kannten er und seine Frau den zornmütigen alten Herrn. Er war berühmt wegen seiner Taktlosigkeit und hatte sich wohl deswegen gleich nach Siebzig mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse vom Exerzierplatz auf sein Gut zurückziehen müssen.

Soweit die lächelnde Sanftmut ihrer Züge überhaupt von Unmut verfinstert werden konnte, glitt, während sie dem kleinen Krautjunker die Hand reichte, eine Wolke über Frau Ellens blühendes Gesicht. „O ... Sie hier?“ sagte sie, „... wie nett! ... also Sie wollen sich auch die Feier anschauen ...“

„Ja, von hier oben,“ erwiderte der alte Husar verdriesslich, „unten herein lassen sie mich ja nicht ... dreimal hab’ ich jetzt schon kandidiert,“ fuhr er fort und sein Gesicht wurde böse, „aber die Bande wählt mich nu mal nicht in den Reichstag ... i wo ... ’nen Tüncherjesellen aus Altruppin ... ausjerechnet ’nen Tüncherjesellen ... was sagen Sie dazu, Verehrtester?“

„Nichts,“ sprach Herbert.

Seine Frau wandte sich zu ihm, das Opernglas in der Hand. „Glaubst du, dass wir Papa da unten finden können ... in dem schrecklichen Gewühl?“

„Na ... der einzige Mensch ohne Orden muss doch da unten auffallen,“ erwiderte Herbert und drehte sich zu dem alten Dalchow. „Mein Schwiegervater gehört nämlich auch zu den ‚Kerls im Frack‘, wie Sie die Reichstagsabgeordneten nennen!“

„O wirklich?“ sagte der alte Herr, nicht im mindesten verlegen, „für welchen Wahlkreis denn?“

„Für Reiningen-Lüningen-Heidenfeldt.“

„Also im Thüringschen? ... und für welche Partei?“

„Eigentlich gar keine! Gegen den Umsturz .. als Vertrauensmann aller Parteien. Es ist eine rein persönliche Angelegenheit. Mein Schwiegervater hat durch seine grossen industriellen Anlagen und Unternehmungen den Kreis erst zu dem gemacht, was er ist ... und geniesst dadurch ein Ansehen dort, wie es eben nur ein Selfmademan seiner Art haben kann.“

Die schöne Frau drehte sich zu ihnen. „Sie kennen doch gewiss die Firma Banners, Heimgut und Compagnie?“ fragte sie, und es lag ein ernstes Selbstbewusstsein in der Art, wie sie den Namen des Welthauses aussprach.

Aber der alte von Dalchow erwiderte nur: „Ich verstehe leider jar nichts von derlei!“ und sie bog sich ärgerlich wieder über die Brüstung.

Dort unten spielte und glitzerte immer noch das leichtbewegte Farbenmeer und wie der Ruf des Windes über den Wellen fuhren, von oben kommend, die Posaunenstösse darüber hin. Der Hammer wanderte von Hand zu Hand, eine Exzellenz reichte ihn mit verbindlichem Lächeln der nächsten, und die herumstehenden Gold- und Silbermänner lächelten seelenlos mit. Etwas Ermüdendes, etwas Totes kam allmählich in das glänzende stumme Spiel. Es war, als trieben Tausende von aufgeputzten Marionetten, einem geheimnisvollen Mechanismus gehorsam, da unten ihr Wesen. Und ebensolche Wachsfiguren schienen die reglos und feierlich dasitzenden Zuschauer auf den grossen, rot ausgeschlagenen Tribünen zu sein, die, wie Riesennester voll bunter Vögel, an den Wänden der Kuppelwölbung klebten.

Frau Ellen spähte immer noch durch das Opernglas, um ihren Vater zu entdecken. Aber sie fand ihn nicht in diesem bunten Kreis, der, in der Mitte dicht und undurchdringlich, nach dem Rande zu sich lichtete und endlich in vereinzelten, abseits plaudernden Gruppen verlor. Hinter diesen kam dann das Nichts — grosse leere Flächen von Steinboden, der Beginn der nach rechts und links sich erstreckenden, jetzt ganz verödet daliegenden Wandelhalle.

„Komisch!“ meinte Ellen, „da stehen ganz, ganz hinten an der Säule versteckt ein Postbeamter und ein Telegraphenbote. Wozu sind denn die hier?“

„... um das ‚Volk‘ zu markieren!“ sagte ihr Mann.

Der alte von Dalchow blinzelte ihn misstrauisch von der Seite an. Solch freigeistige Redensarten waren ihm bei Herbert neu. Ellen aber war von der Erklärung befriedigt.

„Jetzt hämmern schon die letzten!“ rief sie, „siehst du ... da vor dem grossen Herrn mit der goldenen Halskette ...“

„Das ist der Oberbürgermeister von Berlin ...“

„Da der kleinere Herr im Frack mit dem Vollbart, der hat jetzt den Hammer ... jetzt schlägt er ... wer ist denn das?“

„... o, der hat dies Haus in den letzten zehn Jahren gebaut ... sonst nichts!“

Ellen machte grosse Augen. „Ja, aber warum kommt er denn jetzt erst an die Reihe? ... nach all den anderen, die dabei gar nichts zu tun gehabt haben?“

„Da musst du Herrn von Dalchow fragen,“ erwiderte ihr Mann. „Er wird dir sagen: ‚weil er bloss ’nen Frack anhat‘!“

„Na ... warum sind denn Sie in Zivil?“ brummte der Alte etwas ärgerlich. Aber gleich darauf beugte er sich dicht zu Herberts Ohr. „Sagen Sie mal ...“ raunte er, auf Mary blickend, die sich von Ellen das Opernglas ausgebeten hatte ... „wer ist denn die Dame neben Ihrer Frau Gemahlin?“

„Gefällt sie Ihnen?“

„Na ... wissen Sie ... so schön wie Ihre Frau Gemahlin ist sie ja nicht, die ist ja ... wenn ich so sagen darf ... rosig und blühend wie ’n Sommertag ... apropos ... was machen Ihre Kinder?“

„Danke. Sie sind alle drei wohl.“

„... recht so ... ja ... was ich sagen wollte ... also die andere da drüben ... so schön ist sie lange nicht! Aber die Rasse! Donnerwetter! Sehen Sie mal den Rassekopf! Diese Profillinie! trotzig wie ’n hübscher Raubvogel ... und die grauen Augen dazu mit dem grünen Schimmer ganz tief drinnen ... und wie die Nasenflügel zittern ... das Temperament, wenn das so mal auflodert ... dann gute Nacht! Deubel auch! Glauben Sie mir, das ‚Mollete‘, wie der Wiener sagt, das ist das Richtige an den Frauenzimmern! dann sind sie gut und freundlich und lachen ... wie — wenn ich so sagen darf — Ihre Frau Gemahlin ... aber die mageren, nervösen ... die lachen nicht ... die schauen die Männer ganz ernst an und machen sie ganz schweigend und ganz selbstverständlich verrückt, wenn sie gerade den Richtigen treffen. Aber ... um auf die Dame zurückzukommen ... kennen Sie sie?“

„Natürlich kenn’ ich sie!“

„Rasse! Rasse!“ sagte der alte Dalchow noch einmal kopfschüttelnd. „Na ... nu sagen Sie mal: wer ist es denn?“

„Meine Schwägerin ... die Gräfin de Grain!“

Der alte Junker pfiff leise durch die Zähne. „Also verheiratet?“ fragte er dann.

„An einen früheren Regierungsassessor im Kreise Lüningen, wo mein Schwiegervater seine Eisengiessereien hat.“

„So, so!“ Herr von Dalchow musterte tiefsinnig eine Weile die überschlanke, hochgewachsene Gestalt vor ihm.

„Kann der Assessor a. D. Pistolen schiessen?“ fragte er dann plötzlich.

Herbert musste wider Willen lachen. „Ich denke wohl!“ sagte er.

„Na ... dann ist’s ja gut!“

„Hör’ mal, Männe!“ ... Frau Ellen drehte sich sanft lächelnd um ... „ist das eigentlich wahr: Mary behauptet, Bebel sei nicht hier! der käme nicht zu so was!“

„Nein. Das tut er auch nicht!“

„Und Windthorst ist wirklich schon tot?“

„Schon lange.“

„Und Bismarck war eingeladen und hat abgesagt?“

„Ja.“

„Nun ... dann hat Mary wieder einmal recht!“

„Warum glaubst du mir’s denn nicht gleich?“ sagte Mary gelassen und halblaut zu ihrer Schwester. „Nun lachen sie wieder ringsum über dich!“

„Das ist sehr unrecht!“ Die schöne Frau unterdrückte ein leichtes Gähnen. „Ich versteh’ doch nichts von Politik und lese nicht den ganzen Tag Zeitungen und Broschüren wie du. Wenn du Kinder hättest, tätest du’s auch nicht!“

Mary erwiderte nichts, sondern warf nur hinter Ellens Rücken ihrem Schwager einen Blick zu. Der zuckte nur mit unmerklichem Lächeln die Achseln, und ein ebensolches Lächeln überlegenen Mitleids glitt wie ein Widerschein eine Sekunde über ihr kluges, von glänzenden Augen erhelltes Gesicht. Gleich darauf lenkte sie den Blick wieder in das Gewühl des Saales hinab und er schaute gleichgültig, beinahe gelangweilt, zu der Glaskuppel hinauf, durch deren Wölbung grau und grämlich der Winternachmittag in den vom Glühlicht sonnenhell strahlenden Raum hineinschielte.

Eine kurze Pause trat ein, in der der alte von Dalchow über etwas nachzusinnen schien.

„Wie Sie sich verlobt haben ...“ fragte er dann ganz unvermittelt seinen Nachbar ... „haben Sie da eigentlich Ihre Schwägerin schon gekannt?“

„Nein. Ich stand doch damals in Berlin. Ich hab’ sie erst auf der Hochzeit gesehen.“

„Aber sie war damals auch schon verheiratet?“

„Ja. Interessiert Sie das so?“

„I wo!“ sagte der alte Herr. „Ich kam nur so gerade drauf, weil ...“

Da setzten die Posaunen wieder ein, die letzten Worte einer unhörbaren Rede unten verschlingend, und in das Schmettern der Fanfaren hallte aus Tausenden von Männerstimmen ein Ruf ... und noch einmal ... und zum drittenmal, an den Wänden und Wölbungen dahinrollend, das Hurra auf den Kaiser.

„Heil dir im Siegerkranz!“ die Musik setzte mit der feierlichen Weise ein. Auf den Tribünen ringsum waren die Zuschauer aufgestanden und sangen mit, die hellen Soprane der Offiziersfrauen klangen durch das stossweise Schmettern der Nationalhymne, und unten aus dem Saal tönte das Rauschen, Scharren und Sporenklirren der aufbrechenden Farbenmassen.

Das Kaiserpaar schritt durch eine bunte Gasse von Präsidenten und Generalen davon, gefolgt vom Zug der schwarzgekleideten Prinzessinnen. Dahinter strömte in regellosen Wogen das offizielle Deutschland und versickerte als immer dünner werdendes Farbengerinnsel durch den Wandelgang und die Ausgangspforten. Schon klafften breite weisse Steinlücken an den Stellen, wo eben noch Schwärme von Exzellenzen leise flüsternd gestanden, schon konnte man die letzten Gruppen, die einzelnen Gestalten zählen, die den scheinbar in seiner Leere immer riesiger werdenden Kuppelraum belebten, dann verschwanden auch diese, die Posaunen verstummten, das neue Reichshaus war eingeweiht.

Auch die Tribünenbesucher durften nun, nachdem die schillernde Seifenblase der Festversammlung zergangen, ihre Plätze verlassen und auf die Strasse niedersteigen. Die meisten Bänke lagen bereits menschenleer im Glanz des roten Tuches da, als Herbert mit den beiden Damen in den Garderoberaum heraustrat. „Mache rasch!“ flüsterte er seiner Frau zu, während er ihr den Pelzmantel umhing, „dass wir den alten Dalchow loswerden. Der Mensch ist grässlich mit seinen ewigen Taktlosigkeiten!“

Aber da hörte er schon die heiser-joviale Stimme hinter sich: „Darf ich um den Vorzug bitten, mich Ihrer Frau Schwägerin zu präsentieren?“ und musste das wohl oder übel tun.

Dann stiegen sie im Schwarm der anderen Zuschauer die Treppe hinunter.

„Jerade wie wenn’s Theater aus is!“ sagte der alte von Dalchow ... „... jrosse Oper oder so was! Schade, jnädigste Gräfin, dass Ihr Herr Gemahl nicht auch das in Berlin mit ansehen konnte!“

„Mein Mann ist in Berlin. Wir leben ja hier!“ erwiderte Mary.

„... und er versäumt dies Schauspiel? ... nicht möglich ... ja ... was tut er denn jetzt?“

„Er frühstückt bei Töpfer. Oder ist auf der Börse oder sonstwo. Aber kommen Sie ... sonst verlieren wir die anderen aus den Augen.“

„So ... er frühstückt bei Töpfer?“ murmelte der alte Herr, warf einen verstohlenen Blick auf Mary, dann auf die beiden vor ihnen und trabte, so gut es seine etwas gichtbrüchigen Beine erlaubten, neben seiner rasch und biegsam ausschreitenden Begleiterin dahin.

Die letzte Wahl

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