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V.

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Also nun ist das hohe Haus glücklich umgezogen!“ sagte der alte Herr, während er sich mit seinen drei Kindern und Herbert behaglich an einem Speisetisch seines Hotels niederliess, „und ihr beiden Mädels könnt euch rühmen, dass ihr einen Maskenball am hellichten Tag mitgemacht habt. Denn was andres war der Zauber heute vormittag weiss Gott nicht!“

Er scherzte absichtlich, um ein gewisses sonderbares Gefühl los zu werden, das er zuweilen in Gegenwart seiner Kinder empfand, eine Art innerlicher Beklemmung über ihren leichten Weltton und ihre vornehmen Manieren, die ihm, dem rauhen Selfmademan, innerlich imponierten. Es erschien ihm, dessen Jugenderinnerungen in ein düsteres Krämergewölbe, auf dumpfige Schlafstellen und spärliche Mahlzeiten, auf alle Roheit und Plumpheit des Volkslebens zurückwiesen, zuweilen wie ein Rätsel, dass er so elegante Töchter haben könne — dass ihm eine wirkliche Gräfin den Suppenteller reichte und eine blonde Schönheit wie Ellen die entfallene Serviette aufhob.

Und nun gar erst sein Sohn ihm gegenüber — dieser blutjunge, schweigsame Klubmann mit der Gardenia im Knopfloch des Smoking-Coats und der schwarz-grünen Binde über der weitausgeschnittenen plissierten Hemdbrust, auf der, in einen schwarzen Knopf gefasst, ein einzelner mächtiger Diamant blitzte. Alfred war ihm der Vertreter eines neuen Geschlechtes, das er nicht verstand. Keine einzelne Erscheinung — denn er wusste, dass ihm viele Erbsöhne der rheinischen und mitteldeutschen Grossindustrie aufs Haar glichen —, sondern der Typus einer Generation, die nur das eine Bestreben hatte, sich von dem Boden des Kaufmannsstandes, in dem sie wurzelte, so rasch wie möglich loszulösen und in den alten Herrenkasten des Urpreussentums aufzugehen — sei es, dass sie als Kavallerieoffiziere und Regierungsassessoren sich mit dem Schwertadel verschwägerten, wie ihre Schwestern, vom bunten Tuch gelockt, überall im Lande mit ihrer Mitgift ehrwürdig eingerostete Wappen vergoldeten, — sei es, dass sie — hier als Bürgerliche doch überall empfindlich zurückgesetzt, aus den Hofstellen, den vornehmsten Regimentern und vielen Verwaltungsämtern trotz ihres Reichtums bis zu der in der Ferne winkenden Nobilitierung ausgeschlossen — sich, von der goldenen Jugend Hamburgs her, den Begriff eines independent gentlenman schufen, eines unabhängigen jungen Rentners, der darum durchaus nicht müssig zu gehen brauchte, sondern in Matterhornersteigungen und afrikanischen Expeditionen, in Anlegung von Gestüten und Kunstsammlungen, als Gelehrter oder Nimrod rastlos arbeiten, sein Leben aufs Spiel setzen und Namhaftes leisten konnte — nur eben nicht um Geld! Denn damit hörte eben die Unabhängigkeit auf und man sank in die Schicht der Erwerbenden, der Handelswelt zurück, der in dem neuen, durch das Schwert gegründeten Reiche eben nur die zweite Rolle und — als Brücke zu dem herrschenden preussischen Kriegsadel — der neuzeitliche Ritterschlag des Reserveoffiziers übrig blieb.

Alfred Banners war nichts weniger als beschränkt. Sein regelmässiges, leidenschaftsloses Gesicht mit dem wohlgepflegten Schnurrbärtchen und der von Narben zerfetzten Wetterseite der linken Wange machte einen intelligenten und sympathischen Eindruck. Er hatte auf Studienreisen durch die englischen und belgischen Fabriken zu viel gesehen und erlebt, um, wie manche seiner Genossen, völlig in dem alten Corpsstudenten und Reserveleutnant aufzugehen. Im Gegenteil — es reizte sein angelsächsisch geschultes Selbstbewusstsein, bei Gelegenheit im Bräu einen von der ganzen Gesellschaft ehrerbietig begrüssten Prinzen von Kaulquappenhausen schlecht zu behandeln und, im Manöver vor seinem Zuge reitend, irgendeinen wegen seiner Grobheit verrufenen Kommissmajor durch seine medisante Physiognomie zu stillem Wahnsinn zu bringen. Sein Leben war inhaltreich und geregelt in athletische Übungen und Sport aller Art, gesellschaftlichen Verkehr und wissenschaftliche Studien eingeteilt, die ihm die Anlegung einer mit gutem Blicke ausgewählten Kunstsammlung ermöglichten. Einer Wette auf dem Rennplatz, einem Jeu ging er gerade nicht aus dem Wege, aber im ganzen konnte man nicht sagen, dass er die Renten sinnlos vergeudete, die ihm aus dem Stampfen der Maschinen, dem Feuerschein der Hochöfen seines Vaters zuflossen. Seiner Gesinnung nach war er Reaktionär durch und durch.

„Ich hoffe, lieber Papa!“ sagte er in dem beinahe ehrerbietigen Ton, den er stets seinem Vater gegenüber bewahrte, „ich hoffe, dass der ‚Zauber‘, wie du selbst diesen ganzen Reichstagskrempel nennst, nicht mehr lange dauert! Über kurz oder lang schliessen wir doch die Bude zu und die ganze Herrlichkeit ist gewesen!“

„Das ist Unsinn!“ sagte der alte Herr.

„Hälst du es nicht eher für Unsinn,“ hub Alfred nach kurzer Pause mit seiner kühlen, halblauten Stimme wieder an, „die allgemeine Gleichheit von Vernunft und Urteilskraft, die doch ein klarer Nonsens ist, gesetzlich festzustellen? Ein polackischer Analphabet hat bei der Wahl genau dieselbe Stimme wie Bismarck! Er weiss nicht, wo Afrika liegt, aber er wählt einen Kolonialgegner! Den Unterschied zwischen seinen zwanzig Mark Wochenlohn und den zwanzig Milliarden, die ein verlorener Krieg. Deutschland kosten würde, ahnt er kaum — aber sein Vertreter stimmt unentwegt gegen die Schlagfertigkeit des Heeres. Von Kunst und Wissenschaft hat er ...“

„Mein lieber Alfred,“ unterbrach ihn der Kommerzienrat und schlürfte seine Suppe, „ich bin bei Tisch und will meine Ruhe! Wir haben oft genug davon gesprochen. Wenn du einmal so alt bist wie ich, wirst du einsehen, dass oft in dem scheinbar Törichten die tiefste Weisheit liegt. So ist’s auch mit dem Wahlrecht.“

„Schön!“ sagte Alfred, und lehnte sich resigniert zurück. „Aber mich sieht keiner im Reichstag!“

Eine kurze, etwas unbehagliche Pause trat ein. Der alte Herr warf einen missbilligenden Blick auf das einzige leere Kuvert am Tisch.

„Oskar muss doch immer auf sich warten lassen!“ sagte er, „wo steckt dein Mann denn nur wieder, Mary?“

Mary zuckte lässig die Schultern. „Ich weiss nicht. Heute nacht kam er um vier aus dem Klub, erklärte, während er den Paletot auszog, er und der kleine Meier seien die Creme der Erde, und schlief sofort ein wie ein Toter. In aller Gottesfrühe ist er wieder weg — zur Schafschur, wie er sagte —, die Lämmlein blökten schon nach ihm und seiner Kuponschere — und seitdem hab’ ich ihn nicht mehr gesehen!“

„Jetzt schimpfen sie doch wieder alle über mich!“ sagte ein wohlbeleibter, kaum mittelgrosser Herr mit starker Glatze und jovial lächelndem, vollem Gesicht, in dem über einem stattlichen Schnurrbart die Äuglein heiter und listig blinzelten, während er an den Tisch herantrat, „die Geschäfte, lieber Schwiegerpapa ... die Geschäfte! ... Es gibt so böse Menschen auf der Börse! Ein blondlockiger Jüngling, wie ich, muss sich da vorsehen — sonst sitzt er da mit dem Schlussschein, er weiss nicht wie — Israel aber spottet seiner, und die Mäkler lachen! ‚Tag Schatz!‘“ Er klopfte seiner Frau auf die Schulter und reichte über den Tisch hinüber Ellen und Alfred die Hand. Dann wandte er sich zu Herbert: „Na ... sehen wir uns auch mal wieder, Schwager!“ sagte er kühl, und die beiden Männer wechselten einen förmlichen Händedruck, ohne sich erst zu einem Lächeln der Begrüssung zu bemühen.

Der Graf de Grain setzte sich, schob die Schösse seines Fracks, den er jeden Abend nach englischer Sitte trug, zurecht und winkte dem Oberkellner. „Sind Sie mein Freund?“ forschte er vertraulich.

„Zu Befehl, Herr Graf!“ Der Kellner, der einem hageren englischen Lord glich, lächelte diskret.

„Das ist recht!“ sagte Oskar. „Bleiben Sie dabei und Sie werden bei meinem Aufbruch tanzen und springen. Denn ich verweise meine Wohltäter nicht auf den himmlischen Lohn, sondern zahle die Trinkgelder hienieden bar! Und nun ... Hand aufs Herz ... ist eine Möglichkeit ... ich betone: eine entfernte Möglichkeit vorhanden, hier etwas zu essen zu bekommen?“

„Vielleicht vorerst ein Dutzend gemästete Austern und etwas Yquem? Inzwischen spreche ich mit dem Chef de Cuisine!“

„Hm! ...“ Oskar runzelte die Stirne. „Heben Sie die Hand auf, alter Freund, und schwören Sie ...“

„Was denn, Herr Graf?“

„Dass die Austern frisch sind!“

„Aber, Herr Graf!“ Der Frackträger machte eine beschwörende Gebärde, und ein Zug edler Entrüstung erschien auf seinem verwitterten Gesicht.

„Dann her damit!“ Oskar versank in tiefes Grübeln. „Den Karpfen will ich!“ rief er dann plötzlich laut, als der Kellner in unhörbaren Schritten schon fast bis zur Türe geglitten war. „Einen grossen Karpfen, blau! ... melden Sie das dem Chef! ... Den Karpfen, den ich nachmittags telephonisch bestellt hätte!“

„Sehr wohl, Herr Graf!“

„Und zu trinken? ... Füllen Sie immer noch Leonhardis Tinten in Ihre Bordeauxflaschen, wie neulich, oder welche Substanz ist jetzt darin ...?“

„Herr Graf ... unser Mouton-Rothschild ...“ Der Oberkellner blinzelte verzückt lächelnd, mit dem schwärmerischen Augenaufschlag eines Verliebten, zur Decke.

„Gut! Ich will es noch einmal probieren!“ entschied der dicke Graf, „aber wenn es wieder eiskalte Tinte ist ... sagen Sie, es sei für einen Kranken!“ rief er dem enteilenden Frackträger nach, „... für einen armen Mann, mit dem sie an der Börse ein unschönes Spiel treiben!“

„Ist das wirklich wahr?“ fragte der Kommerzienrat, der die ganze Zeit zwischen Lachen und Ärger dagesessen hatte.

„Ach nein!“ Graf Oskar tätschelte zerstreut die Hand seiner Frau. „Es macht sich so weit! Ich bin mit dem deutschen Volk zufrieden. Es arbeitet ordentlich für mich. Ich muss ihm das lassen. Es ist ein gutes und emsiges Volk. Wenn ich so morgens aus dem Klub komme und sehe diese braven Leute im Morgendämmern zur Arbeit gehen, das Handwerkszeug im Arm und mit hochgeklapptem Rockkragen, dann wird’s mir ganz weich ums Herz und ich zerdrücke eine Träne. Ganz zerknirscht komm’ ich zu Hause an und taste nach der Kuponschere. Mary kann’s bezeugen!“

Aber seine Frau sagte nur: „Du weisst, dass ich diesen Ton nicht ausstehen kann!“ und starrte auf das Tischtuch.

„Ja ... ich selber auch nicht!“ bestätigte der Graf. „Im Grunde bin ich eine tiefernste Natur. Man merkt’s bloss nicht, weil mir der Deubel immer im Nacken sitzt, und dann muss ich faule Witze machen. Aber ich gräme mich innerlich darüber — glaub’ mir’s! Die Verhältnisse bringen es eben so mit sich. Wie oft habe ich schon zu meinem Geschäftsfreund, dem kleinen Meier, gesagt: ‚Mann ... haben Sie denn gar keinen Idealismus? Sehen Sie mich an ... da lernen Sie’s!‘ Aber bei diesen Leuten ist Hopfen und Malz verloren!“

Er brach bekümmert ab, und der Kellner brachte die Milchaustern, die dickgemästet wie kleine Säcke in ihren Schalen ruhten. Bezüglich des Karpfens sei alles in Ordnung. Der Chef habe selbst die Zubereitung überwacht. Was der Herr Graf nachher ...

„Eine Omelette à surprise!“ sagte der Graf und schickte ihn fort.

„Es ist schwer, Mensch zu sein!“ plauderte er weiter, die Austern kunstgerecht lostrennend und aus der Schale schlürfend, „und dass nächstens in Berlin W eine Hungersnot unter uns oberen Zehntausend ausbricht, steht ganz ausser Zweifel. Die Austern sind auch wieder unter aller Würde — sonst hätte ich dir natürlich davon angeboten, Mary; aber so esse ich sie als selbstverleugnender Ehegatte allein. Es gibt einfach keinen Ort mehr, wo man menschenwürdig speisen kann. Die hungernden Millionäre irren schon in Rudeln durch die Tiergartenstrasse und fallen schliesslich blindlings in einer Kutscherkneipe ein — es herrschen trostlose Zustände ... trostlos,“ wiederholte er, goss sich ein Glas Bordeaux ein und schlürfte es in kleinen Schlücken, während seine Augen zwinkernd durch den ganzen Raum gingen.

„Es gibt ein schönes Bild, ‚Schafschur in Oberhessen‘,“ sagte er dann absetzend, „das könntest du eigentlich für mich als Sachverständiger kaufen, Alfred! Ich will es in mein Arbeitszimmer hängen. Es wird mir neuen Mut geben, wenn ich an eine Emission nicht recht ’ran will oder der kleine Meier mich geärgert hat. Dann blicke ich andächtig zu dem Bilde empor und ...“

Mary wandte sich ihm plötzlich zu. „Bitte, höre jetzt auf!“ sagte sie bestimmt. „Es ist langweilig, wie du dich immer verstellst und den Spassmacher spielst! Du bist gar nicht so! ... Das wissen wir hier doch alle!“

„Das ist eine Frau!“ Der Lebemann schüttelte bekümmert den Kopf. „Aber bloss der Ärger, weil sie keine Austern gekriegt hat.“ Er schob den Teller mit den Schalen von sich. „Schön. Ich werde ernsthaft sein. Also heute habt ihr das neue Reichshaus eingeweiht, Schwiegerpapa?“

„Ja,“ erwiderte der alte Herr kurz. Die ganze Art des Börsengrafen war ihm mehr denn je ein Greuel.

„Habt ihr denn auch schon ’ne Inschrift oben an das Gebäude?“ forschte der unbekümmert weiter, „nachdem’s mit ‚Dem deutschen Volke‘ nichts ist? Ich würde was Biblisches nehmen: ‚Eure Rede sei Ja — Ja!‘ das ‚Nein — Nein!‘ lassen wir weg! Das liebt die Regierung nicht. Der kleine Meier freilich meinte, man solle für die Abgeordneten lieber einen Kernspruch aus dem täglichen Leben wählen. Etwa: ‚Quatsch’ nicht, Krause!‘ in flammenden gotischen Riesenlettern über dem Hauptportal! Das wäre ...“

Jetzt wurde der grauköpfige kleine Reichsbote ernstlich erzürnt. „Es gibt immer noch Leute, mein lieber Oskar,“ sagte er scharf, „die ernste Dinge ernst zu nehmen gewohnt sind. Dazu gehöre auch ich. Also verschone mich, bitte, mit diesen Witzen und bringe sie dort an, wo sie am Platz sind — in der Börsenkulisse.“

„Schön!“ antwortete Graf Oskar in unerschütterlicher Ruhe. „Ich schweige. Der Karpfen, den mir mein einziger Freund auf der Welt, der hiesige Oberkellner, eben bringt, ist auch stumm und doch ein vortreffliches Wesen.“

Er widmete sich mit Eifer und Sachkenntnis dem Fisch, und eine unbehagliche Pause trat in dem Tischgespräch ein.

Der alte Herr schaute auf seine beiden Schwiegersöhne. Er hatte es wohl bemerkt, dass die beiden seit der Begrüssung noch kein Wort miteinander gesprochen, ja es geflissentlich vermieden hatten, auch nur einen Blick zu tauschen. Auch Mary, die zwischen ihrem Vater und ihrem Manne ihren Platz hatte, war stumm. Mit einem leeren, müden Ausdruck sass sie da, die Augen in die Weite gerichtet, und berührte nur zum Schein etwas von den Speisen und Getränken.

„Diesen Fisch habe ich mir vor zwei Stunden von der Börse aus telephonisch bestellt,“ sagte plötzlich in die tiefe Stille hinein der unbekümmert kauende Graf. „Es war das letzte Aufblitzen meines Geistes am heutigen Tag. Versuch ihn ’mal, Mary. Er ist gut. Der Chef hat seine Schuldigkeit getan.“

Mary machte eine abwehrende Gebärde. „Lass nur,“ sprach sie wie geistesabwesend und ohne ihren Mann anzusehen.

Aber der legte ihr schon ein Stück auf den Teller. „Ich will, dass du den Karpfen kostest!“ beharrte er im Ton eines jovialen Tyrannen, und sie fügte sich, ohne weiter ein Wort zu verlieren.

Inzwischen war der Kellner herangetreten. Diese Depesche sei eben für den Herrn Grafen abgegeben worden.

„Aha ... aus Boulogne sur Mer.“ Er überflog rasch die paar Worte: ‚The Ascot stakes in New Market ... Randown erster mit zwei Längen ... Wetten 1:2½ ...‘ „Also fünfundzwanzig Pfund Sterling Plus für mich ... schön ... fünfhundert Mark sind überall auf der Welt fünfhundert Mark ... so macht man’s! Arbeiten! meine Herrschaften ... Arbeiten! ... das sag’ ich immer wieder! Wir sind zum Arbeiten auf der Welt; was, Kellner?“

„Zu Befehl, Herr Graf!“

Mary hob den blassen Kopf. „Ich dachte, du hättest auf Palafox gewettet!“ sagte sie tonlos und mit schleppender Stimme.

„I wo!“ Ihr Gatte schien einen Augenblick etwas verwirrt. „Optische Täuschung, Kind! Randown hiess der Gaul meines Herzens!“ und er versenkte sich mit doppeltem Eifer in die kunstgerechte Zerlegung des Karpfenkopfes. „Wie ihr dies Tagesmenü hier speisen könnt,“ plauderte er dabei — „das ist mir einfach rätselhaft. Überhaupt ... ich gehe nächstens in die Volksküche. Das ist der einzige Ort in Berlin, wo man noch anständig diniert!“

Niemand antwortete. Der Kommerzienrat liess stumm seine Augen über die drei Gesichter gleiten, und sein Sohn lehnte sich nervös in den Stuhl zurück. Ihm, dem reservierten jungen Klubmann, waren dies lärmende Gebaren, diese Witze, diese Vertraulichkeiten mit dem Kellner einfach ein Greuel. Und das ein Graf — allerdings aus keinem vornehmen Haus, sondern Abenteureradel des achtzehnten Jahrhunderts — aber immerhin ein Graf so gut wie andere! Unwillkürlich dachte Banners junior daran, wie viel besser ihm die neunzackige Krone stehen würde als diesem Börsenplebejer, der geflissentlich und zynisch eben in jene Kreise des Handels und Wandels hinabstieg, aus denen sich der vornehme junge Kaufmannssohn mit allen Kräften emporzuarbeiten suchte.

Auch Ellen war unmutig. Ein Schatten lag über ihren junonisch schönen Zügen und verscheuchte daraus das gewohnte, freundliche Lächeln.

„Siehst du, Papa!“ sagte sie endlich. „So ist das nun. Es ist unmöglich, gemütlich beisammen zu sein. Immer gibt’s nach fünf Minuten Verstimmung und Verdruss. Ich bin wahrhaftig nicht daran schuld — ich vertrag’ mich doch mit aller Welt — und Mary erst recht nicht. Es sind nur unsere Männer! Da sitzen sie einander gegenüber, reden keinen Ton und ärgern sich einer über den andern. Das nennt man dann Familienleben!“

Eine leichte Bewegung ging durch die kleine Tafelrunde. Herbert entschloss sich, zum erstenmal seit einer Viertelstunde, zu sprechen. „Ich finde, Oskar redet genug,“ sagte er, „... und ich höre eben zu. Allerdings nicht immer mit Beistimmung. Dazu sind unsere Charaktere nun einmal zu verschieden.“

„Ach ... das ist’s nicht!“ schmollte Ellen. „Ihr müsst ’mal was miteinander gehabt haben. Ihr sagt’s uns bloss nicht. Und statt euch nun endlich ’mal wieder auszusöhnen ...“

„Mein Ehrenwort ...“ sagte der Graf in gleichgültigem Ton und liess das silberne Fischmesser sinken ... „mein Ehrenwort, das der Schwager mir gewiss bestätigen wird: wir haben nie etwas miteinander gehabt ... niemals ... keine Aussprache ... keinen Zank ... keinen Briefwechsel ... gar nichts! Ist’s so, Herbert?“

Herbert nickte. „Du machst dir wirklich unnütz Sorgen!“ wandte er sich zu seiner Frau. „Es ist gar nichts vorgefallen!“

„Ja ... aber warum seid ihr denn dann so zu einander?“

„Weil wir uns nicht recht verstehen. Das kann doch zwischen Männern vorkommen!“

„Nun ja!“ Ellen neigte, etwas beruhigter, ihr rosiges Goldhaupt wieder über den Teller ... „... aber ungemütlich ist’s und bleibt’s, und wir Frauen leiden sehr darunter. Nicht wahr, Mary?“

„Ja, gewiss!“ erwiderte Mary halblaut, und wieder trat ein beklommenes Schweigen ein.

„Aha ... die Omelette à surprise!“ Graf Oskar wischte sich befriedigt den Mund. „Der letzte Triumph der Kochkunst ... Himbeergefrorenes in heissem Teig gebacken. Wer will, kann davon haben! Niemand? Ihr wisst nicht, was gut ist! Aber ’nen Kaffee nimmst du, Mary! Einen Liqueur auch. Kein Widerspruch, Weib meines Herzens! das gehört sich so nach Tisch. Also, Kellner ... zwei Mocca double, ein Henessy Dreistern für mich, eine grüne Chartreuse für meine Frau, desgleichen etwas halbwegs Rauchbares ... Bock und Kyriazi ... flugs, Kind Gottes ... sind Sie noch nicht wieder da? ... Mary raucht nämlich jetzt Zigaretten,“ wandte er sich stolz zu den andern ... „Ich hab’s ihr angewöhnt!“

„Wenn du sie nichts Besseres lehrst!“ sagte Ellen.

„Nur Schönes und Gutes! Sie versteht ein Schnäpschen mit Anstand zu kippen ... sie spielt des Nachts Poker mit mir und meinen Freunden — meistens räubern wir sie da freilich noch aus — sie sieht mir die Kurse nach und verhandelt in Hoppegarten mit dem Buchmacher, dass es ’ne Art hat. Sie kann kutschieren, sie kann reiten, sie zieht sich entzückend an und macht hinter meinem Rücken Schulden,“ schloss er triumphierend ... „... kurz, sie ist einfach fin de siècle ... Fine fleur de Berlin W ... Kein Mensch merkt ihr an, dass sie aus der Provinz Sachsen kommt!“

Mary erwiderte darauf gar nichts, sondern sass stumm da.

„I nu hären Sie mal, meine Kuteste!“ drängte ihr Mann in sie. „Hab ich recht oder nicht?“

Mary hob den Kopf. „Du siehst doch, dass sich Papa über dich ärgert!“ sagte sie ruhig.

Der Börsengraf machte ein zerknirschtes Gesicht. „Frivol bin ich nur, solange ich Hunger hab’!“ erklärte er und schob die Teller mit Früchten und Käse so energisch beiseite, dass sie der Kellner gerade noch auffangen konnte. „Sowie ich satt bin, ringen sich bei mir Tugend und Moral unaufhaltsam an die Oberfläche, und ich fange an, von Politik zu reden. Also nochmals, Schwiegerpapa ... wie geht’s dem hohen Hause ... was treibt’s ... was tut’s?“

„Es wird in den nächsten Tagen Wahlprüfungen erledigen!“ erwiderte der alte Herr ... „... darunter auch meine ... du erinnerst dich ...“

„... dass ich damals in meiner Dummheit deinen Wahlaufruf als Beamter unterhauen hab’ ... Ja ... vor ein paar Jahren war ich noch ein Kind ... ein preussischer Regierungsassessor ... wusste nicht ein noch aus ... schliesslich ... was macht’s? du wirst ja sicher wiedergewählt!“

„Ich kandidiere aber nicht mehr! der Arzt erlaubt’s nicht!“

Graf Oskar pfiff leise durch die Zähne und warf einen Blick freudigster Überraschung auf seine Frau. Auch Mary war zusammengezuckt, und ihr Gesicht belebte sich.

„Das ist ja eine kolossale Neuigkeit, lieber Schwiegerpapa! Und du bleibst fest bei diesem Entschluss?“

„Ich kann mich nicht erinnern,“ erwiderte der alte Herr trocken ... „... dass ich in meinem langen Leben einem Vorsatz untreu geworden bin! Aber warum regt dich denn das so auf? du strahlst ja förmlich!“

„Na ja ... verzeihe, Papa,“ der Lebemann rückte näher zu ihm heran ... „... aber wenn man so plötzlich ganz unvermutet vor dem grossen Schlag steht ...“

„Vor dem grossen Schlag ...?“

„Freilich! Was ich jetzt hier so in Berlin treibe, das sind doch Bagatellen ... pour passer le temps ... bis ... eben die richtige Zeit gekommen ist. Dass mein Ehrgeiz höher hinaus geht, das weisst du ja ...“

„Du hast wenigstens zuweilen Andeutungen gemacht, dass die deutsche Nation dir eine Vertrauensstellung schuldig sei,“ meinte der alte Herr und ein leises, kaustisches Lächeln umspielte seine Lippen.

Sein Schwiegersohn bemerkte das nicht. „Was für eine Vertrauensstellung ich darunter verstehe,“ fuhr er fort und suchte etwas unsicher die Worte ... „das ... ist ja wohl klar. Während der Zeit, wo ich Regierungsassessor in deinem Wahlkreis war, habe ich die engsten Verbindungen mit dem Grossgrundbesitz und den Landräten angeknüpft ... na ... die Pfarrer ... die sehen mich ja wohl noch ein bisschen skeptisch an ... aber die krieg’ ich ’rum ... und was schliesslich den sogenannten kleinen Mann betrifft, dies Scheusal ... da musst du mir eben helfen ...“

„... in den Reichstag zu kommen?“

„Ja, du kannst, wenn du nur willst!“

„Hab’ ich es dir aber jemals versprochen?“

„Na ... das nun freilich nicht!“ sagte Graf Oskar etwas verblüfft. „... ich hab’ ja nie davon angefangen. Eine gewisse Schüchternheit hielt mich zurück. Ich wollte dich doch nicht drängen, sondern warten, bis du von selbst einmal gingst!“

„Danke!“

„Und da das nun also der Fall ist ... Es liegt doch eigentlich eine Art moralische Verpflichtung vor ... verwandtschaftliche Rücksichten ... ich hab’ von Anfang an so kalkuliert: du hast zwei Schwiegersöhne, der eine ist Militär, hat also mit dem Reichstag nichts zu tun; der andere ist Zivilist, der muss hinein!“

„Aber Herbert ist nicht mehr Militär!“

„Ja ... nun ... und?“

„Und infolgedessen erscheint er mir als mein geeigneter Nachfolger — schon als Schwiegersohn, wie du sehr richtig bemerkst — und ich werde seine Wahl mit allen Kräften unterstützen!“

Der gräfliche Lebemann fuhr zurück. Sein Mund stand halb offen. Er rang mühsam nach Worten.

„Und ich ...“ keuchte er ... „... was wird aus mir?“

Der alte Herr zuckte die Achseln.

„Auf den Wahlkreis spekuliere ich seit Jahren ...“ Oskar holte sein Taschentuch heraus und fuhr sich über die Stirn ... „... das ist mein grosser Schlag ... auf den hab’ ich gewartet.“

„Da hättest du mich früher um meine Meinung fragen sollen. Ungebeten wollte ich dir die nicht aufdrängen.

„So! ... die muss ja recht nett sein ... da du mich in dieser Weise zurücksetzt. Was hast du denn eigentlich gegen mich?“

„Soll ich dir’s sagen?“ fragte der kleine Kommerzienrat. „Jetzt wäre ja freilich der rechte Augenblick!“

„Ja! Jetzt muss Klarheit in die ganze Sache kommen. Und auch zwischen mir und meinem Herrn Schwager da drüben!“

„Schön!“ sagte der alte Herr ruhig. „Also mit einem Wort: du missfällst mir! Als Mensch, als Geschäftsmann und als Politiker. Als Mensch bist du ein Zyniker. Die Sorte mag ich nicht. Ich hab’ in meinem ganzen schweren harten Leben mir den Glauben an was Höheres und Besseres bewahrt. Wenn ich bloss sehe, was du aus meiner Tochter gemacht hast! Wie sie jetzt dasitzt und raucht und gedankenlos vor sich hin starrt ... da erinnert sie mich mehr an irgendeine eurer Turfzigeunerinnen, an eine Treibhauspflanze eurer ungesunden Salons als an das freie, ehrliche, sorglose Mädel, dessen Hand ich dir vor fünf Jahren gegeben hab’ ...“

„Was soll das?“ Ein spöttisches Lächeln lief über das sich allmählich zornig rötende Gesicht des Lebemannes ... „... sie ist meine Frau und ...“

„... und daran ist nichts mehr zu ändern! Bleiben wir also bei dir! Als Geschäftsmann bist du eine Drohne. Ein Mensch, der vom Wechsel der Kurse lebt, indes wir für ihn arbeiten. Ausserdem schneidest du, wie ich überzeugt bin, was deine Erfolge betrifft, ganz gewaltig auf. Als Politiker endlich würdest du ein ganz skrupelloser Beutejäger sein. Unsern Landwirten geht es in Wahrheit sehr schlecht. Und nun gedenkst du von ihrer Not recht gut zu leben und ihnen vorzuspiegeln, du seiest selbst einer ihrer Leidensgefährten, der ...“

„Genug!“ Der Graf de Grain hatte sich erhoben. Er war jetzt ganz ruhig. Aber in seinen kleinen Augen funkelte ein boshaftes Licht, und über die früher so jovialen, fast unbedeutenden Züge hatte sich der jähzornige Wagemut des Glücksjägers gelegt. Es war, als fiele eine Maske von ihm und stände der stämmige, stiernackige Mann jetzt erst in seiner wahren Gestalt da, ein grausamer Desperado im Kampf ums Dasein.

„Genug!“ wiederholte er. „An die Worte wirst du dich noch erinnern!“

„Ich bin schon mit vielen Leuten fertig geworden!“ erwiderte der alte Handelsherr trocken. „Es wird mir wohl auch mit dir glücken!“

Der andere hörte ihn nicht mehr. Er hatte sich zu Herbert gewandt. „Mein Schwager!“ sagte er und lachte kurz auf, „mein teurer Schwager! Überall steht er mir im Weg, wo ich hinkomm’ und er nicht hingehört! Aber ich weiche nicht ... das weisst du! weder anderswo noch hier! Ich hab’ meinen Anhang im Wahlkreis, der mich nicht verlässt! Mögen sie denn dort das Schauspiel erleben, dass zwei Schwäger gegeneinander kämpfen! Ich halte meine Kandidatur aufrecht, und wer zuletzt lacht, das bin ich!“

Schon halb zum Gehen gewendet blieb er noch einmal stehen. „Es sind noch ein paar Tage Zeit bis zur Wahlprüfung,“ sagte er ... „... überlegt es euch inzwischen. Ich gebe nicht nach. Wenn es zum Kampf kommt, bin ich ein rücksichtsloser Gegner. Das merke dir gefälligst, mein lieber Schwager Herbert! Und nun guten Abend allerseits. Komm, Mary!“

Mary stand reglos neben ihrem Stuhl.

„Aber so komm doch, Mary,“ wiederholte der Graf in ruhigem, freundlichem Ton. „Du siehst doch, dass ich warte! Kellner ... die Rechnung zahle ich das nächste Mal. Hier haben Sie unterdessen Ihr irdisches Trinkgeld.“

„Ich danke untertänigst, Herr Graf!“

Mit einer raschen Bewegung neigte sich Mary über ihren Vater und küsste ihn. „Gute Nacht, Papa!“ stiess sie hervor und nickte dann hastig ihren Geschwistern zu. „Gute Nacht!“

Mit eiligen Schritten ging sie hinter ihrem Manne her und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen, mit ihm durch die Türe. Die anderen blickten ihr stumm nach.

„Die arme Mary!“ unterbrach Ellen endlich das Schweigen. „Er hat sie doch ganz in seiner Gewalt. Man sollt’ es nicht glauben. Aber sie zittert geradezu vor ihm!“

Niemand antwortete.

„Schliesslich ...“ die schöne Frau senkte betrübt den Kopf ... „... sie hat’s ja selbst so gewollt! ... Arme Mary ...“

Die letzte Wahl

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