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II.

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Die kalte Winterluft des Dezembermittags schlug ihnen entgegen, als sie durch das südliche Portal ins Freie traten. Es war ein jäher Übergang aus der Märchenpracht da innen in die graue Wirklichkeit Berlins. Dort trug die Welt ihr Feiertagsgewand, hier den schmutzigen Arbeitskittel des Alltags. Graue Wolken am Himmel, zwischen denen die Sonne wie eine blinde rote Scheibe stand, die kahl zum Himmel sich aufreckenden Äste des Tiergartens, rauhe bis ins Mark erkältende Windstösse, die kleine Staubwirbel über den Asphalt dahintanzen liessen, Schornsteine und graue Dächer in der Ferne — das alles wollte so gar nicht zu dem sonnigen Glanz der eben verflossenen Feier passen.

Beendet war die Feier eigentlich noch nicht ganz, denn der Kaiser war auf einer Besichtigung der inneren Reichstagsräume begriffen und viele der Festgäste und Tribünenbesucher standen, seiner Abfahrt harrend, in plaudernden Gruppen vor den weissen Riesenwänden des Prunkbaus beisammen.

Man konnte glauben, sich im Innern eines Feldlagers zu befinden! Militär ringsum. Der ganze Reichstag war von Gardetruppen umgeben. Zu Hunderten flatterten an aufrecht im Sattelschuh gehaltener Lanze die weiss-schwarzen Fähnchen der Dragoner, von der kaiserlichen Freitreppe her nickten in ganzen Wäldern die vom Winde schiefgewehten weissen, schwarzen und roten Haarbüsche des Fussvolks und davor schaukelten über den dunklen, haarscharf gerichteten Linien der Rosseleiber die fliegenden Adler der Kürassierhelme auf und nieder, wenn einer der frierenden Gäule ungeduldig mit den Hufen scharrte.

Hinter diesen starren Mauern, deren tiefes Schweigen nur das eintönige Käuen der Rosse an den Kandaren, das leise Klirren der Säbel und ab und zu der gedämpfte Zuruf eines Unteroffiziers unterbrach, dehnten sich in der Ferne, zwischen den kahlen, von Frost bereiften Stämmen des Tiergartens lange, stumme Menschenreihen, schwarzgrau, unansehnlich, endlos, wie der Winterhimmel über ihnen, wie die arbeitsrussige Stadt, die sie gesandt. So standen sie seit Stunden in stiller Erwartung, der Absperrung gewohnt und schon froh, wenn das Vorübertraben eines Adjutanten, die Grobheit eines Schutzmanns oder der faule Witz eines Eckenstehers das Stilleben einer Festlichkeit unterbrach, von der sie nichts sahen und hörten und doch nicht lassen wollten.

„Brr ... ist das kalt!“ sagte Ellen und wickelte sich fester in ihren Pelz ... „... sieh nur all die komischen Leute da hinten ... wie wir kamen, standen sie schon da, und nun sind sie immer noch nicht nach Hause gegangen! Und dabei sehen sie doch gar nichts!“

„Das ist das Volk!“ erwiderte Herbert trocken. „Das wohnt der Feier als Zaungast bei.“

Der alte Dalchow hatte das gehört und wandte sich kopfschüttelnd zu seiner Begleiterin. „Ihr Schwager hat sich sehr verändert, Gnädigste! Damals als Generalstabsoffizier ... na ja ... er war ja immer ein bisschen scharf und schroff und ein Streber, wie er im Buch steht. Aber dabei doch ’n zufriedener Mensch ... hat ja ’ne Riesenkarriere vor sich ... Wenn einem der Kommandierende General todsicher ist, dann ist es der uns beiden nicht unbekannte Generalstabshauptmann Herbert von Haldern ... und nun sehen Sie mal sein Gesicht ... gelb ... mager ... und so etwas merkwürdig Verbissenes in den Mundwinkeln ... unter dem Schnurrbart, der auch seinen Schwung eingebüsst hat ... nee ... hören Sie mal ... das gefällt mir nicht ... der Ehrgeiz ... der reibt ja den Menschen auf ... man lebt doch nicht bloss, um seine Vordermänner zu überholen ...“

„Bemerken Sie denn nichts?“ sagte Mary und deutete auf ihren Schwager, der, auf einen leichten Stock sich stützend, langsam zu ihnen herantrat.

„... dass er ’n bisschen lahmt? ... natürlich ... deswegen trägt er ja Urlaubszivil! Bin selber auch drei-, viermal unterm Gaul gelegen. Kommt mal vor. ’n paar Wochen Wiesbaden, und ’s ist wieder gut.“

„Oder auch nicht.“ Herbert hatte die letzten Worte gehört und prüfte, während er sprach, scheinbar zerstreut mit fachmännischem Blick das in der Kälte dicht vor ihnen bockende und sich bäumende Pferd eines Gardeducorps-Leutnants ... „... ich habe mehr Pech gehabt. Mein Knie war entzwei, und wie’s wieder ganz war, blieb’s steif für immer!“

„Nanu!“ der alte Junker war ganz erschrocken ... „... wie können Sie denn dann reiten?“

„Gar nicht mehr!“

„Ja ... aber wie dienen Sie denn dann?“

„Auch nicht mehr. Seit zwei Jahren bin ich offizieller Reichskrüppel mit zwanzig Taler Schmerzensgeld im Monat. Nun kann sich ein anderer für mich schinden!“

Der dicke, kleine Krautjunker pfiff leise durch die Zähne. „Na ... das sind ja nette Chosen ...“ sagte er stockend, mit unsicherer Stimme ... „... also wirklich invalide?“

„Ja.“

„Und was tun Sie denn jetzt?“

„Nichts.“

„Aber Sie müssen doch als ... als Zivilist eine Beschäftigung haben!“

„Das Zivil wirft sich, nach Ihrer treffenden Beobachtung, bei festlichen Anlässen in einen Frack. Das hab’ ich, wie Sie sehen, getan und damit mein Tagewerk erschöpft.“

„Ja ... und morgen ...“

„Morgen sehe ich irgendwo anders zu! Es muss doch auch Publikum auf der Welt geben.“

„Na ... hören Sie mal ... Sie lächeln dabei so sonderbar ... so spöttisch ... gerade als wollten Sie sich über mich lustig machen ...“

„Eher über mich selbst!“ Herbert prüfte immer noch das unruhig tänzelnde Tier des Gardeducorps. „... sehen Sie mal ... der Bengel da kann noch nicht ordentlich reiten ... und bleibt doch ganz hübsch oben im Sattel. Ich kann reiten ... sehr gut sogar ... und würde doch mit meinem lahmen Beine beim ersten Galoppsprung vom Pferde gleiten. Das ist, was man eine tragikomische Existenz nennt. Na ... und wenn was komisch ist ... dann lacht man eben drüber.“

„Ich, weiss Gott, nicht.“ Der alte von Dalchow fingerte unsicher suchend in der Luft herum, in Ungewissheit, wie sein Gegenüber einen Händedruck des Mitleids aufnehmen würde ... „... Sie tun mir höllisch leid. Das ist ja ein furchtbarer Schlag für einen Mann wie Sie!“

„Da kommt mein Schwiegervater ...“ sagte Herbert gelassen. „Auf Wiedersehen, Herr von Dalchow, aber, wenn möglich, ohne Beileid. Das hab’ ich nämlich noch von niemand verlangt. Guten Morgen!“

Auf seinen Stock gestützt folgte er den beiden Damen. Der andere schaute zweifelnd der hochgewachsenen Gestalt nach, die mit den strengen, hartgeschnittenen Zügen des von Wind und Wetter gebräunten Gesichts, in ihrer straffen Magerkeit und aufrechten Haltung ein Urbild zäher preussischer Soldatenkraft war. „Schade, schade!“ murmelte er und trat zu ein paar pommerschen Reichstagsabgeordneten, die, als Dragoner und Husaren gekleidet, in der Nähe standen. „... Mahlzeit, Ihr Herren! ... na ... nu sagen Sie mal ... kennen Sie Haldern? ... Das ist ja schrecklich ... der Mann lahmt ... kann einfach nicht mehr gehen ...“

„Na ... bis durch die Türe da langt’s noch vielleicht!“ lachte einer der Granden, der in seiner hageren Länge und dem weissblonden Schnurrbart deutlich seinen schwedischen Ursprung aufwies und deutete auf das Portal des Reichstags hinter ihnen.

„Aber das ist ja der Eingang für die Abgeordneten,“ sagte der alte Herr erstaunt.

„Na ... und Haldern will in den Reichstag ... kommt auch ’rein ... über kurz oder lang! ... jeden Tag war er ja drüben bei uns im Foyer ... und sah, wie die Chancen stehen ... glauben Sie denn, dass ein Mensch wie er das Stilliegen aushält?“

Der kleine Uckermärker zog die Augenbrauen hoch. „... So? ... so? ...“ sagte er ... „... na ja ... wenn ein Mensch zu was anderem nicht mehr zu brauchen ist ...“ Er brach ab. Denn es fiel ihm ein, dass die beiden Offiziere vor ihm auch Mitglieder des Reichstags waren und er selbst auch schon als Zählkandidat fungiert hatte. „... Na ... adieu!“ meinte er ohne besondere Verlegenheit ... „... ich höre da die wohlbekannten Klänge des Parademarsches. Das muss man sehen!“

Auf der grossen westlichen Freitreppe des Reichstagsbaus stand der Kaiser und liess die Ehrenkompagnien seiner Garderegimenter an sich längs des Palastes vorbeidefilieren, der in Zukunft den Männern der Reden und Majoritätsbeschlüsse gehören sollte. Die Pauke donnerte, die Pfeifen schrillten, in das Gellen der Hörner und den Trommelwirbel klingelte silbern der glöckchenreiche, mit Rossschweifen gezierte Schellenbaum, und in dröhnendem Gleichschritt, von den auf und nieder schwankenden Helmbüschen und den glitzernden Linien der Gewehrläufe überragt, marschierten die Sektionen vorbei, dass die Wände des Reichshauses von dem Stampfen der gleichmässig herausgeworfenen Beinreihen widerhallten und der Schall bis zu der Siegessäule hinwanderte, auf der, ein goldener unförmlicher Klumpen, die Viktoria in einsamer Höhe zu ihrer Schwester auf dem Brandenburger Tor hinüberblickte.

„Du schaust ja gar nicht hin, Papa?“ fragte Ellen und hob sich auf die Fussspitzen, um nichts von dem militärischen Schauspiel zu verlieren.

Der unscheinbare alte Herr lächelte. Ein kluges, mildes Lächeln, das leise über die Fältchen und Runzeln seines Gesichtes lief und sich still in dem weissgrauen, wenig gepflegten Vollbart verlor. Aber er tat seiner schönen Tochter doch den Gefallen, rückte die goldene Brille zurecht und warf einen scharfen prüfenden Kaufmannsblick auf die Truppen, als wolle er deren Preis und Marktwert abschätzen. In seinen Augen war noch helles Leben. Über das Antlitz aber legte das Greisenalter schon jenen Zug von gleichmütigem Frieden, in dem ein langes, arbeitsreiches Leben ausklingt, ein Leben, von dessen Sorgen und Kämpfen, in Zweifeln durchwachten Nächten und schlau berechneten Siegen die Hunderte von feingestrichelten, im Laufe der Jahre eingemeisselten Linien um Stirn und Augen sprachen. Auch seine Gestalt war schon gebeugt, wie gedrückt von dem kostbaren Biberpelz, der um sie schlotterte, und seine Bewegungen schienen wenigstens hier inmitten dieser straffen, bunt uniformierten Riesen langsam und beinahe unbeholfen.

„Ich kann nichts sehen, Kinder!“ sagte der Kommerzienrat Banners nach kurzer Weile. „... Für die Wachtparade bin ich nun einmal zu klein geraten. Ich erkenne gerade noch die Rossschweife der Grenadiere ...“

„Das sind doch keine Grenadiere, Papa!“ Ellen war ganz erschrocken ... „... sie haben doch schwarze Haarbüsche ...“

„Ach so ... und die Grenadiere sind die roten da nebenan?“

„Das ist ja die Musik!“ Die gewesene Offiziersfrau warf einen ganz erschrockenen Blick zur Seite, ob niemand ihr Gespräch belausche. Der alte Herr aber schüttelte freundlich den Kopf. „Das werde ich wohl nicht mehr lernen,“ sagte er. „Ich bin zu alt dazu.“

Die beiden Schwestern sahen sich an. Sie begriffen nicht, dass all dieser Prunk und Pracht auf den Vater gar keinen Eindruck zu machen schien.

„... Wenn ihr euch nur amüsiert habt, Mädels!“ fuhr der kleine Kaufherr fort und machte einem baumlangen Adjutanten Platz, der sich mit flüchtiger Entschuldigung an ihm vorbeidrängte ... „... ich hab’ eure strahlenden Gesichter oben auf der Tribüne gesehen!“

„Aber wir dich nicht, Papa! Und wir haben so ausgeschaut!“

„Ich hab’ mich so ein wenig abseits gehalten. Ein alter Mann im einfachen Frack ohne alle Orden ... man kommt sich da immer ein bisschen überflüssig vor bei so glänzenden Gelegenheiten ... Erinnerst du dich, wie unser Papagei einmal fortflog und ein Schwarm Raben ihn gleich tothackte? Umgekehrt hab’ ich mich vorhin gefühlt, wie ein schwarzer Rabe in einem Haufen von bunten Papageien. Da gehör’ ich nicht hinein.“

„Ja ... aber man kommt doch in so eine Stimmung ...“ Mary sah aus ihren grossen, grau leuchtenden Augen auf ihren Vater herunter ... „... all die Pracht und Herrlichkeit ... ich bin förmlich wie berauscht. Es zittert alles in mir. Geht dir denn das nicht auch so?“

Der alte Banners erwiderte nichts, sondern lächelte bloss. Und es war Herbert, der ihn verstohlen beobachtete, als verblasse vor diesem nachdenklichen, fuchsklugen Lächeln des Kommerzienrats all die Gold- und Silberpracht umher, als verwandele sich das Farbenspiel in Alltagsgrau, als verhalle die triumphierende Musik in weiter Ferne. Und durch die verwehenden bunten Schleier ragte ernst die wirkliche Welt, das Reich der Tatsachen, der Zahlen und der Arbeit, in dem Hermann Banners seit zwei Menschenaltern lebte.

„Du bist ja nun eine Gräfin, Mary,“ sagte der alte Banners endlich, „und ich bin ein reicher Mann und Reichstagsabgeordneter und Kommerzienrat und Ehrenbürger und was weiss ich. Das alles ändert aber an der Tatsache nichts, dass ich mit zwanzig Jahren hinterm Ladentisch gestanden und die Nächte durch Englisch und doppelte Buchführung gelernt und mich als Kommis in der Welt herumgestossen und teures Lehrgeld bezahlt hab’, bis es dann endlich, einschlug und der Erfolg kam. In derselben Zeit, mein Kind, sind die Leute hier um uns herum allerhand geworden ... nicht nur Offiziere ... die mein’ ich nicht ... denn das sind redliche, tüchtige Arbeiter wie wir anderen Bürger, die die Steuern dafür zahlen ... aber Erbküchenmeister sind solche Leute geworden, Baillis des Johanniterordens, Mitglieder der Mecklenburger Ritterschaft, Kammerherren, Majoratserben, Hofmarschälle, Vertreter des alten und befestigten Grundbesitzes und manches andere. So leben sie hin, und wenn durch unsere Mühe und Arbeit etwas fertig geworden ist, dann kommen sie und weihen es ein! So auch heute den Reichstag. Schön. Ich gönne ihnen das Vergnügen für heute. Arbeiten will ich von morgen ab drin. Punktum. Sela.“

„Aber es ist doch so etwas Schönes ... so eine Feier ...“

„Kind ...“ sagte der alte Herr ... „... mir hat die Natur jeden Sinn für Feierlichkeit versagt. Es kommt mir komisch vor, wenn die Menschen plötzlich besondere goldgestickte Röcke anziehen und geheimnisvolle Gesichter machen und sich von grossen Trompeten das Trommelfell sprengen lassen. Es steckt nichts dahinter, glaub’ mir, und hat keinen Sinn. Ich bin ein Mann des matter of fact. Während der ganzen Zeremonie vorhin hab’ ich immer an meine anatolischen Bahnen denken müssen und die Emission unserer Anleihe in Venezuela. Da ist Geld drin. Auf die Rede von so einer Exzellenz bekommt man nicht ’nen Groschen.“

Er nahm mit einer raschen Bewegung den Zylinder ab. Ringsum entblössten sich trotz des kalten Windes die Köpfe, die Offiziere fuhren mit raschem Ruck zusammen und legten, mit der Linken die Säbelscheide suchend, die Rechte an den Helmrand, die Damen sanken in tiefem Hofknicks zusammen, während das Kaiserpaar in schnellem Trab von der Rampe des Reichstags zur Siegesallee dahinfuhr. Ein paar Züge von Panzerreitern mit donnernden Hufen vor und hinter der Karosse, der flammendrot gekleidete Stallmeister neben ihr — dann unter dem kahlen Geäst des Tiergartens das dumpfe Brausen der Hoch rufenden Massen, geschwungene Hüte und flatternde Taschentücher über langen, dunklen Menschenmauern — damit war das letzte Augenblicksbild der Feier vorbei, die Reichstagseinweihung zu Ende.

Der Rest des Militärs marschierte, die Absperrung lösend, davon und hinter ihm strömte in Schwärmen das Volk über den bis dahin halb verödeten, nur von den spärlichen Gruppen der Festgäste belebten Platz vor dem Reichstag. Das wimmelnde Getriebe des täglichen Lebens erfüllte ihn, der Strassenverkehr begann und an Stelle der Posaunenfanfaren klang das Knarren der Mörtelfuhrwerke, das Geklingel der Pferdebahn, das Gekläff der Ziehhunde vor den Milchkarren in die Ohren der von der Zeremonie Kommenden, die, in dunkeln Mänteln ihren Kleiderprunk vor der Kälte und den neugierigen Blicken der Menge schützend, so rasch wie möglich ihre Wagen zu gewinnen suchten.

Herbert und seine Frau waren vorausgegangen, um eine viersitzige Droschke aufzutreiben. Der alte Herr blieb indessen mit Mary wartend auf der Bordschwelle stehen.

„Kommt dein Mann nachher ins Hotel?“ fragte er.

„Jedenfalls,“ sagte Mary. „... Wenn Oskar gefrühstückt hat und mit seinen Börsengeschichten fertig ist ... mit ’nem Pferd wollt’ er, glaub’ ich, heute auch jemand hineinlegen ... Das alles kann noch ein paar Stunden dauern ...“

„Um so besser!“ Der Kommerzienrat schaute sie von der Seite an ... „... ich möchte euch Mädels mal ein bisschen für mich haben. Dich besonders, Mary.“

Die junge Frau erwiderte darauf nichts und ihre Gesichtszüge blieben gelassen wie zuvor.

Der alte Banners räusperte sich: „Hör’ mal ...“ sagte er nach einer Weile scheinbar gleichgültig ... „... Das war Oskar also recht, dass du mit Herberts in den Reichstag gegangen bist?“

„Nein. Ich war allein. Wir hatten ja nur die eine Karte, und Oskar sagte, er mache sich nichts daraus. Ich solle gehen. Und wie ich auf der Tribüne war, sah ich Ellen, und sie winkte mir zu. Das bemerkte der Herr neben ihr, und aus Höflichkeit bot er mir an, die Plätze zu tauschen. Abschlagen konnt’ ich das doch nicht gut. Es sassen zu viel Bekannte herum. Denen wäre das aufgefallen.“

„Also war es nur Zufall, dass ihr euch getroffen habt?“

„Natürlich,“ sagte Mary. „Wir verkehren ja fast gar nicht miteinander. Es ist gewiss ein halbes Jahr, dass wir zuletzt irgendwo zusammen waren.“

„Du meinst ... mit den Männern?“

„Ja. Ellen und ich ... wir treffen uns oft ausserhalb!“

„Aber Herbert und dein Mann können sich nun einmal nicht zueinander stellen?“

„Nein,“ sagte die junge Frau knapp. „Wenn’s dir recht ist, Papa, gehen wir dem Wagen entgegen. Er kommt so schwer durch in dem Gedränge ...“

„Schön!“ Der alte Herr war im Begriff, sich leicht auf den Arm seiner Tochter stützend, die Bordschwelle zu überschreiten, als er wieder stehenblieb, die Stirne runzelte und die goldene Brille zurechtschob.

„Wahrhaftig ... der Mensch lebt noch ...“ sagte er dann halblaut.

Dicht vor ihnen stand ein langer, hagerer Mann in den Dreissigern. Sein Äusseres verriet einen jener Daseinskämpfer von Berlin, von denen man nicht weiss, wie sie sich eigentlich vom Morgen bis zum Abend vor dem Verhungern schützen, die man nicht vermisst, wenn sie eines Tages spurlos verschwunden sind, und über die man sich nicht wundert, wenn sie plötzlich Millionäre werden — Menschen, die man zu allem für fähig hält, ohne ihnen auch nur die geringste Übertretung des Strafgesetzes nachweisen zu können, — denen viele das Zuchthaus prophezeien und doch den Handschlag auf der Strasse nicht verweigern — Gläubiger der Zukunft, die in der Volksküche über Riesenspekulationen brüten und aus denen alles werden kann, nach oben und unten, im Guten und Bösen, wie eben die Wirbel der Weltstadt mit ihnen spielen.

Schon die Kleidung — dieser tadellos elegant geschnittene, aber ganz abgeschabte und vom Regen verwaschene Winterpaletot, wie man ihn als „von Kavalieren nur vier Wochen getragen“ in den Trödelläden kauft, der nicht unmoderne, aber zerbeulte und stachelhaarige Zylinder, die modisch spitzen, zerrissenen Stiefel und die leicht ausgefransten, aber noch mit einer Bügelfalte gezierten Beinkleider — wies auf einen Mann hin, der seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden hat, und ebenso zweifelhaft blieb sein Gesicht. Vollkommen bartlos, von langen Haarsträhnen umwallt und mit einem mephistophelischen Zug um den Mund, konnte es einem brutalen Abenteurer gehören. Aber die Augen blickten darüber stark und fest in die Weite, und die breite Stirn zeugte von ernster Gedankenarbeit.

„Sind Sie’s wirklich, Herr Queetz?“ fragte der Kommerzienrat etwas unsicher, „na, wie geht’s Ihnen denn?“

„Danke! Soso!“ — der Mephisto lüftete nachlässig lächelnd den Hut — „und Ihnen? ... na, ’nen Kommerzienrat braucht man nicht erst zu fragen!“

Herr Banners runzelte die Stirn, als wolle er sagen: „Immer noch die alte Frechheit! ...“ aber er bezwang sich und forschte wohlwollend weiter: „Sind Sie immer noch Hauslehrer?“

„Ich bin Journalist!“ sagte Dietrich Queetz ... „... schon seit damals ... ’s schützt einen wenigstens vor dem Verhungern.“

„Da berichten Sie wohl jetzt über die Einweihung des Reichstags?“

„Ja. An ein paar Provinzblättchen; Zeile zehn Pfennige, halbe nicht gerechnet.“

„Hatten Sie denn einen guten Platz?“

„Ich war doch nicht drin!“ sagte Dietrich Queetz erstaunt. „So leicht kriegt unsereins doch keine Karte. Darauf kommt’s ja auch nicht an.“

„... na ... auf was denn?“ fragte der alte Herr verblüfft.

„Dass man weiss, wovon man morgen sein Diner in der Volksküche zahlt ... Herr Kommerzienrat haben heute wohl schon gefrühstückt?“

„Adieu!“ sagte Herr Banners ärgerlich. „Aber wissen Sie ... ich hab’s als junger Mensch niemand gesagt, wenn ich kein Geld hatte! Das hilft nämlich zu gar nichts!“

Damit ging er weiter. „Existenzen sind das ...“ klagte er zu seiner Tochter, die, den Gruss des Journalisten kaum erwidernd, ihm gefolgt war, „... Existenzen! ... Kerle, die in den Dreissigern noch kein Geld haben ... lächerlich ... aber freilich ... das sind die richtigen Weltstadtpflanzen ... ein Mensch, der halb wie ein Schmierenkomödiant aussieht, halb wie ein stellenloser Kammerdiener ... und noch so ’n Schuss Landpfarrer mit langer Mähne dazwischen — und dann erst frech gegen alle Welt und selbstbewusst wie der Hahn auf dem ...“

Er verstummte plötzlich mit einem Blick auf Mary und schritt auf den Wagen zu, der mitten im Gedränge der anderen Fahrzeuge hielt.

„Wer war denn dieser sonderbare Heilige, mit dem Papa eben sprach?“ fragte unterdessen im Wagen Herbert seine Frau.

„Hauslehrer bei uns ...“ erwiderte Ellen. „Für meinen Bruder. Vor acht oder neun Jahren. Ein Kandidat der Theologie! Weil er so frech war, hat ihn Papa weggejagt!“

„Na ... so sieht er auch aus!“

„Aber es hatte, glaub’ ich, noch einen andern Grund!“ fuhr Ellen fort ... „... freilich, Mary ist ja so verschlossen. Sie redet ja nie von sich und ihren Sachen ...“

„Mary?“

„Ja ... denk dir nur ... aber ganz im Vertrauen ...“ Ellen legte ihre Hand auf die des Gatten ... „... sie war damals ja noch ein halber Backfisch ... ich glaube ... er war der einzige Mann in ihrem ganzen Leben, der jemals wirklich Eindruck auf sie gemacht hat! Denn Oskar ... nun ... darüber brauchen wir ja eigentlich ...“

„Hör’ mal, Herbert!“ sagte der kleine Kaufherr, noch etwas erhitzt von der Begegnung, an den Wagenschlag tretend. „Du bist ein vernünftiger Mensch und nimmst’s nicht übel ... ich möchte eigentlich gern mal mit meinen Mädels ein paar Worte im Vertrauen reden ...“

„Ich verstehe schon.“ Herbert stützte sich vorsichtig auf seinen Stock und stieg aus ... „Wo treffe ich dich nachher?“

„Hol’ mich doch zum Mittagessen ab ... im alten Reichstag ... so nach vier ... da haben wir die letzte Sitzung! Also nichts für ungut! Los, Kutscher!“

Der Wagen rasselte davon. Herbert schaute ihm nach. Neben dem Graukopf des alten Herrn schimmerte Ellens Goldhaar, die, obwohl die jüngere Schwester, auf dem Rücksitz sass. Gegenüber Mary. Er wunderte sich, in wie weiter Entfernung die festen, kühnen Linien ihres leicht zurückgeneigten Hauptes deutlich erkennbar blieben, und ihm schien es, als blickten aus dem blassen Antlitz ihre grauen Augen unruhig in die seinen.

Ob das eine Täuschung war, konnte er nicht unterscheiden. Weiter und weiter rollte der Wagen, in dem sie reglos, das Gesicht ihm zugewendet, sass, und verschwand dann um die Ecke der Dorotheenstrasse.

Die letzte Wahl

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