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IV.

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Der frühe Winterabend dämmerte bereits über Berlin, als Herbert langsam durch die Leipziger Strasse dahinschritt, um seinen Schwiegervater aus dem alten Reichstag abzuholen. Aber der Weltstadt bringt die Nacht keine finsteren Schatten — im Gegenteil, erst wenn der Himmel oben zu grauen beginnt, kleidet sich unten das Häusermeer in strahlenden Glanz. Was den Tag über farblos und verdriesslich in dem Nebelprickeln des Dezembers dalag, schmückt sich jetzt mit künstlichem Licht, die Schaufenster werfen ihre hellen Vierecke weit hinaus in das Menschengewühl der Gassen, die mattbläulichen Sonnen des Bogenlichtes strahlen in langen Reihen darüber, die roten, grünen und weissen Laternen der Pferdebahn gleiten eilfertig dazwischen hin und her und oben am Himmel spiegelt sich rötlich wie der Widerschein einer mächtigen Feuersbrunst der abendliche Schimmer des Berliner Westens.

In diesen späten Nachmittagsstunden zwischen fünf und acht Uhr, und zumal jetzt, in den Wochen vor Weihnachten, geht der Puls der Weltstadt in den schnellsten Schlägen. Ein eilfertiges Gewimmel der paketbeladenen, gewandt aneinander vorbeischlüpfenden, in ewigem Wechsel eilig dahinflutenden Menschenwellen auf dem Bürgersteig, ein Gewirr vierfacher, von den hohen Verdecken der Pferdebahn und Omnibusse überragter Wagenreihen auf dem Fahrdamm, ein unbestimmtes Brausen, Rasseln und Klingeln in taghellem Licht — man konnte sich von dieser Strömung dahintragen lassen, wie der Schwimmer von den Fluten, in einer Art Selbstvergessenheit, traumverloren in dieser rastlosen und doch eintönigen, gleichförmig rauschenden und treibenden Welt.

Herberts Züge waren finster, während er, mit seinem lahmen Bein fortwährend von Vorauseilenden angestossen und gedrängt, seinen Weg durch die Menschengruppen suchte. Ein jeder dieser Leute, die da hinhasteten, als sei die nächste Sekunde Goldes Wert, hatte seine Stelle im Leben, ein Ziel, dem er zustrebte, Tagesarbeit und Feierabend, der kalkbespritzte Maurer da in klappernden Holzpantinen so gut wie die kleine, behende hinschlüpfende Konfektioneuse, der Chinese da hinter dem Ladentisch der Teehandlung wie der Offizier vor ihm in Helm und Mantel und umgegürteter Schärpe. Er aber — ihn hatte das Schicksal gewaltsam aus den Reihen der Arbeiter herausgerissen. Sein Tageslauf war ein Nichtstun — ein müssiges Schlendern durch die Strassen, ein Auf- und Niedergehen im Zimmer und Zigaretten rauchend im Schaukelstuhl liegen und grübeln und träumen.

Die Schärpe des vor ihm gehenden Leutnants hing ein wenig schief. Er sah es, und ein bitteres Lächeln der Erinnerung lief über seine harten, gallig getönten Züge. So lotterig hatte sie ihm sein Bursche, der verfluchte bummelige Polacke, auch umgeschnallt an jenem noch halbdunklen Manövermorgen, da er zum letzenmal ein Pferd bestiegen. Schon gegen Ende der Übung war das Pferd merkwürdig unruhig gewesen. Er achtete nicht auf sein Ohrenspitzen, Bocken und Gewieher und trabte zu der Kritik, die die berittenen Offiziere um seinen General versammelte.

„Vergegenwärtigen wir uns die Stellung der Batterie, meine Herren ...“ hatte Exzellenz gesagt und nach einer Windmühle zur Linken gedeutet. Alles wandte sich rasch im Sattel — auch er — und dann ein plötzliches Wiehern und Bäumen, ein Sturz, ein Schlag mit dem Knie gegen einen Prellstein — er lag am Boden, den Zügel in der Hand, und vor ihm stand, lammfromm wie sonst, sein Pferd.

Und nun klärte es sich auf. Beim Reiten hatte sich die zu lose gegürtete Schärpe nach hinten verschoben und mit ihren Quasten den Rücken des Gaules gekitzelt, bis das Tier die Geduld verlor und sich durch einen unvermuteten Satz des unbekannten Störenfrieds zu entledigen suchte.

Im ersten Augenblick lachte alles über das kleine Missgeschick, und er selbst bat, wenn schon mit schmerzverzogenem Gesicht, den General um Entschuldigung. Aber schon als der eilig herbeigerufene Assistenzarzt das Bein untersuchte, wurde die Sache ernster, ein noch ernsteres Gesicht machte am Abend der Oberstabsarzt, der von sofortigem Transport in die nahe Garnison und Urlaub auf ein viertel bis halbes Jahr sprach, und einige Wochen darauf liess das Kopfschütteln der aus Berlin an das Krankenlager gerufenen medizinischen Grösse keinen Zweifel mehr: das Knie musste steif bleiben. Eine nur einen Zentimeter zu weite Schärpe hatte alle Zukunftsträume eines ehrgeizigen Mannes vernichtet.

Es dauerte lange, bis Herbert das wirklich begriff und die Hoffnung endgültig verabschiedete. Aus seinem bisherigen, von seiner Kadettenzeit bis zum Eintritt in den Generalstab dem Dienst und der Pflichterfüllung gewidmetem Leben war er gewohnt, eine selbstverständliche Verbindung zwischen Arbeit und Belohnung, zwischen Schuld und Strafe zu sehen. Das war der Geist seines Elternhauses wie der des blutarmen, preussischen Kleinadels überhaupt, dem er entstammte, der Geist, in dem er selbst lebte und zu dem er seine Söhne zu erziehen gedachte.

Arbeit war sein ganzes Dasein gewesen, rastlose Arbeit. Vor ihr verschwand alles andere. Die Kahlheit und Kargheit seiner Leutnantsjahre in einem bescheidenen Infanterieregiment der Provinz berührten ebensowenig wie der plötzliche Wohlstand durch die Heirat sein Inneres. Er hatte, als er in Berlin zur Kriegsakademie kommandiert war, Ellen liebgewonnen und geheiratet, ohne bei dem alten Kommerzienrat nach mehr als dem Kommissvermögen zu fragen, das ihnen die Verbindung ermöglichte. Dass Herr Banners seine Tochter weit reichlicher ausstattete, war ihm gleich und änderte in nichts seine nüchterne Selbstzucht. Mässig in allem hatte er nur ein Lebensziel gehabt: den Dienst und die Karriere. Alles andre waren nur Episoden in seinem Leben, auch die Heirat, zu der er geschritten, als es eben an der Zeit war und sich ihm eine willkommene Gelegenheit bot. Aber tiefe seelische Erschütterungen hatte ihm auch dieser wichtigste Entschluss des Daseins nicht gebracht. Er lebte in ruhiger, freundlicher Ehe. Zu Leidenschaften und Stürmen liess ihm der Dienst keine Zeit, der Dienst, in dem er aufging und der ihn durch eine glänzende Laufbahn entschädigte.

Und nun war dies alles dahin durch den Seitensprung eines Pferdes, und er stand auf seinen Stock gestützt als lahmer Zivilist auf der Leipziger Strasse gegenüber dem Reichstag.

Die lärmende Verkehrsader trug hier ein seltsam doppeltes Gesicht. Auf einer Seite glänzte und strahlte alles von dem Lichtschein der grossen, mehrstöckigen Kaufhäuser, der Prunkläden und Schleuderbazare, vor denen sich die Menschenmasse in dicken Klumpen staute. Auf dem andern, weit weniger belebten Ufer herrschte Finsternis und tiefes Schweigen. Mit langen dunklen Fensterreihen standen da die mächtigen Gebäude der Reichspost und des Kriegsministeriums, des Herrenhauses und der Porzellanmanufaktur in demselben schroffen Gegensatz zu dem betriebsamen Gewimmel des Geschäftslebens gegenüber, wie der düstere altpreussische Beamtenstaat zu dem mächtig pulsierenden Handels- und Industriereich des neuen Deutschlands.

Nur ein niedriges, mit breiter Freitreppe versehenes Gebäude drüben zeigte hell erleuchtete Fenster. Herbert schritt, vorsichtig das Wagengewühl der Leipziger Strasse kreuzend, darauf zu und ging an dem Pförtner vorbei, der vor dem ihm bekannten Herrn grüssend die Hand an den roten Mützenrand legte, in das Foyer des alten Reichstages.

Der schmale, lange Raum erschien heute lächerlich klein und unbedeutend im Vergleich zu dem riesenhaften, viele Tausende von Menschen fassenden Umfang der Wandelhalle in dem am Morgen eingeweihten Palast. Und einen ebenso alltäglichen, nüchternen Eindruck, gegenüber dem Farbenrausche jener Feier, machten die Männer, die ihn erfüllten. Die Reichsboten hatten ihre bürgerliche Gewandung wieder angelegt. An Stelle der bunten Husarenattilas und weissen Kürassierkoller, der roten Ritterkleider, der Kammerherrenfräcke und goldgestickten Beamtenuniformen waren die grauen und schwarzen Röcke, die schlotternden Hosen getreten, wie sie draussen auf der Strasse alle Welt trug. Äusserer Glanz und Prunk waren aus diesen Gruppen geschwunden. Wie sie da halblaut plaudernd beisammen standen, waren es eben Männer aus dem Volk, aus verschiedenen Schichten und Berufen, der eine sorgfältiger, der andre verwahrlost gekleidet und doch alle von einem gleichmässigen Anstrich, wie ihn etwa auch die Geschworenen im Sitzungssaal, die Mitglieder eines Kriegervereins, die Stadtverordneten in irgendeinem Rathaus tragen. Das Foyer war dicht gefüllt, dichter als sonst an „grossen“ Tagen, die über das Sein oder Nichtsein eines wichtigen Gesetzes entscheiden. Denn heute lag für keinen Reichsboten eine Veranlassung vor, sich durch Fernbleiben zwanglos der Verantwortung für eine folgenschwere Abstimmung zu entziehen. Zum letztenmal konnte man heute die charakteristischen Erscheinungen des Reichstags, die sich in dem Labyrinth von Korridoren und Hallen des neuen Hauses unrettbar vereinzeln und verlieren mussten, alle beisammen mit einem Blicke übersehen. Die hageren, braungebeizten Physiognomien der ostelbischen Junkerschaft und die behaglich glatten Gesichter des Klerus, die meist recht nichtssagenden, noch jugendlichen Züge der Sozialdemokratie, zwischen ihnen noch vereinzelt ein paar graue, charakteristische Verschwörerhäupter aus der alten Schule, durchgeistigte Gelehrtenköpfe neben brutalen Bierwirtsantlitzen, Vollbart und Brille der wohlwollenden und satten Männer des goldenen Mittelwegs — heute waren alle Parteien vertreten und scharten sich, der Eröffnung der letzten Sitzung harrend, vor den grünverhangenen Saaltüren.

Soweit es bei dem Reichstag, der skeptischsten und blasiertesten Körperschaft Deutschlands, überhaupt möglich war, lag beinahe eine gewisse Feierlichkeit über diesem so unheimlich vollen, von gedämpftem Geplauder und dem leisen Knarren der im Teppich versinkenden Fusstritte erfüllten Foyer, in dem, dicht über den Köpfen der Abgeordneten, eine bläuliche Schicht von Zigarrenqualm reglos wie eine Wolke stand.

Es dauerte eine Weile, bis Herbert den alten Banners entdeckte, der, die Hände in den Hosentaschen, die Havanna im Mundwinkel, zwischen einigen Gesinnungsgenossen auf einem der braunen Ledersofas sass.

„Du kommst zu früh!“ sagte der alte Herr ... „Es hat noch nicht mal angefangen! Aber tröste dich. Es wird ein kurzer Schmerz. Die Sitzung dauert nicht lange. Namensaufruf und damit basta! Und immerhin erlebst du hier inzwischen einen historischen Moment. Viele Jahre haben wir doch hier gesessen und geredet und zuweilen sogar gehandelt und uns im allgemeinen doch immer leidlich miteinander und mit der Regierung vertragen. Wie das im neuen Hause wird, weiss ich nicht. Glaub’ mir ... der Charakter eines Menschen hängt auch von seinen vier Wänden ab. Mir ist da draussen vor dem Brandenburger Tor alles zu weit ... zu frostig ... zu prunkvoll. Na ... wir werden ja sehen ...“ Er runzelte die Stirne und schob sich die Brille zurecht ... „... Da ist schon wieder dieser Mensch!“ murmelte er. „Er verfolgt mich wie ein Schatten.“

Herbert folgte seinem Blick und erkannte in der langen, hageren Gestalt und dem bartlosen, von unordentlichen Haarsträhnen umringelten Mephistogesicht den Journalisten, mit dem der alte Herr vormittags beim Besteigen des Wagens gesprochen.

„Das ist euer gewesener Hauslehrer, wie mir Ellen erzählte?“

„Ja. Ein entgleister Kandidat der Theologie und jetzt Gott weiss was!“ sagte der alte Herr. „Diese Sorte Literaten ziehen hinter uns Abgeordneten her wie die Haifische hinter dem Schiff, in der Hoffnung, ein paar über Bord fallende Brocken politischer Weisheit zu erwischen.“ Er stand auf und nickte mit dem Kopf nach dem Fremdling.

„Wünschen Sie eigentlich was von mir, Herr Queetz?“ fragte er ... „... Oder warum umkreisen Sie mich seit einer halben Stunde?“

„Ich würde allerdings gerne etwas wissen, Herr Kommerzienrat!“ sagte Dietrich Queetz und trat ohne Verlegenheit näher ... „Wie ich höre, sollen in allernächster Zeit Wahlprüfungen auf die Tagesordnung kommen?“

„Ja.“

„Und darunter, soviel ich weiss, auch die Ihre?“

„Ja.“

„Diese Wahl hat die Kommission seinerzeit mit acht gegen drei Stimmen für ungültig zu erklären beantragt, weil der damals als Vertreter des Landrats fungierende Regierungsassessor, Herr Graf de Grain, Wahlaufrufe zu Ihren Gunsten mit seinem amtlichen Charakter unterzeichnet hat?“

„Diesen Glanzstreich hat mir mein lieber Schwiegersohn Oskar allerdings gespielt,“ sagte der alte Herr mehr zu Herbert als zu dem Interviewer.

„Es ist nun kein Zweifel,“ fuhr der geläufig fort, „dass das Haus sich der Auffassung der Kommission anschliessen wird! Herr Kommerzienrat verlieren Ihr Mandat und es muss eine Neuwahl stattfinden.“

„Wahrscheinlich.“

„Wenn Sie wieder kandidieren, Herr Banners, so ist die Neuwahl natürlich nur eine Formalität. Anders aber wäre es, wenn Sie Ihren mehrfach geäusserten Entschluss bewahrheiten und sich vom öffentlichen Leben zurückziehen wollten. Was dann in Ihrem Kreise geschieht ...“

„Warum wollen Sie denn das wissen?“ fragte der alte Herr milde.

„... Weil dann dort einer der heftigsten Wahlkämpfe unvermeidlich ist! Eine Menge Strömungen werden plötzlich entfesselt. Die Parteien scheiden sich auf einmal, wenn Ihr Name wegfällt. Ein Kampf zwischen Stadt und Land, zwischen den Interessen der von Ihnen dort ins Leben gerufenen Industrie und dem Grossgrundbesitz wird unvermeidlich.“

„Woher wissen Sie denn das? Sie sind ja schon seit acht Jahren von dort weg!“

„Ich habe — aus der Zeit meiner Hauslehrerschaft — einen Freund dort, den Pfarrer Freiherrn von Hohinrot, der ...“

Der Kommerzienrat wurde plötzlich lebendig. „Sagen Sie mal!“ rief er und fasste in seiner Erregung den Rockknopf seines Gegenüber ... „... Was ist denn das nur eigentlich für ein Mensch?“

„Das wissen Sie doch, Herr Kommerzienrat! Ein früherer Husarenoffizier, der dann Theologie studierte und sich die ganz einsame und abgelegene Pfarrei Waldwimmersthal ausgesucht hat.“

„Ja ... aber innerlich! Er hat ja alle Geistlichen ringsum in der Hand — und wenn man die kleinen Leute spricht ... die schwören ja alle auf ihn.“

Dietrich Queetz zuckte die Achseln, und ein Lächeln lief über seine scharfgeschnittenen Lippen. „Es wird wohl an der Persönlichkeit liegen?“ sagte er knapp. „Aber ... um auf die Sache zurückzukommen: gedenken Sie wieder zu kandidieren, Herr Kommerzienrat?“

„Ach ... Ihr Freund, der Pfarrer, will wohl in den Reichstag?“

„Nein,“ erwiderte der Journalist. „Mit derlei hat der doch längst abgeschlossen und lebt in seinem Winkel bei den armen Leuten. Aber ein Machtfaktor ist der Pfarrer Hohinrot bei den nächsten Wahlen doch ... das können Sie mir glauben!“

Ein schrilles Klingeln ertönte gleichzeitig von allen Seiten durch das Foyer und über die Wendeltreppe. Die elektrischen Läutewerke luden zur letzten Sitzung in der Leipziger Strasse ein.

Der alte Herr ging auf die grünverhangene Türe zu, durch die sich die Abgeordneten drängten. „Grüssen Sie Ihren Freund!“ sagte er ... „... und der alte Banners gehöre immer noch zu den Leuten, die sich nicht über ungelegte Eier den Kopf zerbrechen. Vorderhand bin ich noch Abgeordneter. Bin ich’s in ’ner Woche nicht mehr — na ... dann können wir ja weiter sehen!“

Damit ging er hinein. Der hagere Literat sah ihm einen Augenblick nach. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich nach rechts, der Treppe zu, die zu den Tribünen führte.

Das Foyer war nun fast leer. Nur da und dort sassen in den Ecken leise plaudernde Gruppen, zumeist Grossjournalisten, denen der dauernde Aufenthalt hier vergönnt war, und inaktive Politiker, gewesene oder reifende Zierden des Reichstags.

Vom Saal innen drang kein Laut, aus dem Restaurant neben dem Foyer nur das dumpfe Rumpeln und Klirren, mit dem Stühle, Tische und Gläser zusammengepackt wurden, um nach dem neuen Stelldichein der „Fraktion Schulze“ vor dem Brandenburger Tor geschafft zu werden. Auch in dem noch in Betrieb befindlichen Sektbüfett ordnete die Kellnerin ihre Siebensachen, und auf der anderen Seite des Wandelganges räumten Briefträger die Mappen, Formulare und Bücher der Reichspost aus dem kleinen Bureau heraus. Alles ging zu Ende. In wenigen Minuten gehörte der alte Reichstag der Vergangenheit an und der Erinnerung an all die bewegten Szenen, die sich in ihm abgespielt, an die weltgeschichtlichen Sitzungen, wenn unter der Torwölbung des Ostens das dumpfe Rollen eines Wagens ertönte und in der Seitentüre die Riesengestalt im blauen Kürassierrock, den blitzenden Helm in der Hand, erschien — wenn dann atemlose Stille sich über Abgeordnetensitze, Zuhörertribünen, Journalistenplätze und Diplomatenlogen legte und durch das Schweigen Bismarcks helle, oft stockende und in seltsamem Räuspern den Gedanken in seinen Tiefen zum geflügelten Worte schmiedende Stimme durch den kleinen Saal, durch Deutschland und über den Erdkreis hallte.

Das war nun vorbei und den Ort, an dem die unvergesslichsten Worte gefallen, die seit Luthers Tagen die deutsche Zunge kennt, sollten, nach den Beschlüssen eines königlich preussischen Fiskus, binnen kurzem Barbierstuben, Reformrestaurants und Schaustellungen entweihen.

Da kam der Kommerzienrat wieder in das Foyer zurück. „Gut, wenn man mit B anfängt,“ sagte er. „Ich bin schon aufgerufen. Wir haben jetzt reichlich Zeit. Setze dich einmal neben mich. Ich muss etwas mit dir reden.“

Herbert nahm schweigend neben dem alten Herrn Platz.

„Du steckst nämlich in gar keiner gesunden Haut,“ fuhr der fort, bedächtig zwischen den zur Decke gesandten Rauchwolken seine Worte abwägend, „... sogar rein körperlich gesprochen. Deine Gesichtsfarbe ist gelblich, du bist noch magerer, als du früher warst, du sprichst nicht ... kurzum ... du bist mit dir und der Welt nicht zufrieden.“

„Bin ich auch nicht!“ sagte Herbert ruhig.

„Warum du’s nicht bist ...,“ die Pausen zwischen den bläulichen Ringen der Havanna wurden immer gedehnter, „... ob bloss wegen deines Unfalls ... oder weil vielleicht etwas anderes ... in deinem Innern ... na ... kurz und gut ... das will ich nicht untersuchen und nicht danach fragen. Denn es gibt Dinge ... die macht ein Mann mit sich aus ... ich meine einen Mann wie dich, der keinen andern braucht, um das Rechte zu tun. Was du brauchst, das ist das einzige Mittel für alle Anfechtungen ... das, was den Menschen allein auf die Dauer stärkt und hält ... die Arbeit. Eine Tätigkeit in grossem Stile tut dir not, in der du dein Malheur ... und alles andre vergisst ... und die will ich dir verschaffen.“

„Was meinst du damit?“ Herberts Stimme klang gepresst vor Erregung.

„Ich meine,“ erwiderte sein Schwiegervater, „dass es für mich an der Zeit ist, allmählich mein Haus zu bestellen. Und dazu gehört auch die Einsetzung meines Nachfolgers im Reichstag. Du weisst, wie gross mein Einfluss im Wahlkreis ist. Es kann geschehen, dass ein Teil der Grundbesitzer und Pfarrer mir abspenstig wird und sich einen eigenen Steifleinenen als Kandidaten leistet! Aber darauf kommt es nicht an. Die grosse Masse der Wähler — von den Arbeitern natürlich immer abgesehen — bleibt mir bei der Stange. Den Mann, den ich bei der Hand nehme und vor die Volksversammlung führe und von ihm sage: ‚der hat mein Vertrauen und wird den Kreis so weiter vertreten, wie ich’s seit Gründung des Reichs getan hab’‘ — den schicken sie in das neue Haus da drüben! Darauf kannst du dich verlassen!“

Herbert nickte stumm.

„Ich sage ‚du‘!“ fuhr der alte Herr fort, „weil es ja schon seit mehr als einem Jahr — bald nach deinem Unfall — zwischen uns besprochen ist, dass du mein Nachfolger werden sollst. Du warst damit einverstanden, dich der parlamentarischen Karriere zu widmen ...“

„Einverstanden?“ sagte Herbert. „Es ist die Rettung meines Lebens, dass du mir das ermöglichst. Wie ich dir dafür danken soll, das weiss ich wahrhaftig nicht!“

„Na ... man keine Sentimentalitäten,“ meinte der kleine Kommerzienrat trocken, „das steht uns beiden nicht. Also du hast dich ja nun inzwischen tüchtig mit Volkswirtschaft, Staatsrecht und derlei beschäftigt, den Wahlkreis kennst du als mein Schwiegersohn genau und für den Anfang stehen dir ja auch mein Rat und meine Erfahrung zur Seite. Blieb also nur die Frage: Wann soll es heissen: Ablösung vor?“

„Und das wäre jetzt?“ fragte Herbert. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Aber seine Stimme zitterte merklich.

Der alte Herr wiegte betrübt den verwitterten Graukopf hin und her. „Ich wäre gern noch geblieben,“ sagte er endlich. „Ich bin die Arbeit gewohnt, und ein guter Gaul stirbt in den Sielen, wie Bismarck in eben diesem Hause hier gesagt hat. Na — er hat doch dran glauben müssen, und das ist unser aller Los. Mein Schicksal ist der Doktor ... der berühmte Geheimrat hier in Berlin. ‚Sie sind eben einfach verbraucht,‘ sagt er zu mir, wenn er mich eine Viertelstunde beklopft und betastet und sein Heidengeld eingesteckt hat, ‚abgenutzt wie eine Ihrer Maschinen nach langer, redlicher Arbeit. Nun heisst’s eben die Kräfte sparen, dass der Mechanismus noch eine Weile funktioniert!‘ Und vorgestern setzte er hinzu: ‚Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle ausspannen, so stehe ich für nichts!‘ Na — was soll man da machen?“

„Ja, es ist gewiss traurig!“ sagte Herbert.

„Meine industriellen Anlagen sind, wie du weisst, seit zwei Jahren schon Aktiengesellschaft,“ fuhr der kleine Kommerzienrat fort, „also da kann ich mich so sachte aus dem Verwaltungsrat drücken, und die Geschichte geht ruhig weiter. Und was den Reichstagsitz betrifft, siehst du, so trifft es sich seltsam, wie ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass gerade für nächste Zeit die Wahlprüfung angesetzt ist. Es hätte ebensogut ein halbes Jahr früher oder später kommen können. Der Präsident wartet eben, bis wir einmal durch Zufall und die Gnade Gottes ein beschlussfähiges Haus haben wie heute, und dann setzt er es eilig auf die Tagesordnung. Das verhält sich alles so, wie es dieser Presskatilinarier vorhin von mir bestätigt haben wollte. In einer Woche kann ich also aller menschlichen Berechnung nach meine Visitenkarten mit dem ‚M. d. R.‘ ins Feuer werfen, fahre mit dir nach Reiningen—Lüningen—Heidenfeldt und in zwei Monaten wirst du dir neue Visitenkarten als ‚Mitglied des Reichstags‘ bestellen! Na, und nun ist genug darüber geredet. Ich will mal wieder ’rein! Mir scheint der Namensaufruf geht zu Ende!“

Er verschwand durch die Portiere. Man hörte einen Augenblick beim Öffnen der Türe aus dem Sitzungssaal eine eintönige, laute Stimme und das tiefe „Hier!“ eines Bierbasses hinterher. Dann wurde wieder alles still.

Herbert stand auf und ging in grossen Schritten durch das leere Foyer. Die Erregung stieg ihm zu Kopf. Er musste sich erst allmählich in den Gedanken finden, dass er der Erfüllung seines heissen Wunsches nahe war, dass er seinem Dasein einen neuen, reicheren Inhalt geben sollte, als einer der Erlesenen der Nation da drinnen, der dreihundertsiebenundneunzig Männer, denen ein Volk von fünfzig Millionen vertrauensvoll die Leitung seiner Geschicke in die Hände gelegt hatte. Wahrlich, das war den Einsatz eines Menschenlebens wert, für das Vaterland zu wirken und sich des höchsten Ehrenamts würdig zu zeigen, das Deutschlands Männer zu vergeben hatten.

Ein donnernder Heiterkeitsausbruch innen unterbrach seine Gedanken. Ein kurzes Auflachen wie nach einem guten Witz. Dann wieder einen Augenblick tiefe Stille, ein beifälliges Gemurmel, die Saaltüren öffneten sich gleichzeitig, um die in schwarzen Knäueln herausdrängenden Reichsboten zu entlassen, die letzte Sitzung war zu Ende.

„Warum wart ihr denn so heiter?“ fragte Herbert, in dem Gewühl sich zu seinem Schwiegervater gesellend.

„Rat’ einmal!“ erwiderte der alte Herr vergnügt, „wieviel Abgeordnete bei Abschluss des Namensaufrufs da waren?“

„Nun?“

„Genau dreihundertdreiunddreissig! Auf den Kopf!“

„Und darüber habt ihr so gelacht?“

„Na ... das ist doch komisch!“

Eingezwängt in der zum Ausgang strebenden Menschenwelle durchschritten sie die Vorräume und kamen zur Türe. Die kalte Abendluft, der Lichterglanz, das Lärmen und Klingeln der Leipziger Strasse schlug ihnen entgegen. Im Kreise um die Freitreppe standen wie gewöhnlich Haufen von Passanten, um in den herauskommenden Gruppen neugierig nach bekannten Abgeordneten zu spähen.

Herbert reichte dem alten Herrn den Arm und geleitete ihn die glitschrige Treppe hinab. „Hat denn der Präsident zum Abschied noch ein paar passende Worte gesagt?“ fragte er.

„Gewiss!“ schmunzelte der Alte. „Aber die Stenographen haben sie nicht aufschreiben dürfen.“

„Wieso ... die letzten Worte, die in dem alten Reichstag fielen?“

„Die lauteten, dass es morgen abend im neuen Reichstagspalast für die Abgeordneten Freibier, freie Havannas und freien alten Kornschnaps gibt — alles gestiftet von Landsleuten auf beiden Hemisphären —, wer will, kann Gäste mitbringen!“

Herbert schwieg.

„Das verstimmt dich, mein Sohn!“ sagte der Kommerzienrat, als sie im Wagen sassen und jener ihm die die Decke über die Knie schob, „aber sei erst einmal ein paar Jahre im Reichstag, und du wirst sehen, dass man da mit der Begeisterung und all den schönen Dingen nicht durchkommt. Im Reichstag konzentriert sich wie in einem Brennspiegel das tägliche Leben des deutschen Volkes mit all seiner Sorge und seiner Not um das tägliche Brot und all den Kleinlichkeiten armer, schwer arbeitender Menschen, aus denen zu neunundneunzig Hundertsteln unsre Nation besteht. Mit idealer Weltanschauung und schönen Worten stopft man keine hungrigen Mäuler, schafft man kein Defizit aus der Welt und taxiert man nicht eine Tarifposition nach ihrem Wert. Darum sind wir nüchtern und skeptisch, und das ist bei Licht betrachtet ganz gut so.“

Die letzte Wahl

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