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Zweites Kapitel

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„Grüsse Jungfer Saupen in Jena von mir.“ Der Assessor von Helmich stieg auf dem Markt in Weimar steifbeinig aus dem Sattel. „Und sie soll dem Klepper, den sie Dir vermietet hat, künftig das Gnadenbrot geben! Wir sind die Nacht durch gekrochen wie die Schnecken. Es nimmt mich Wunder, dass uns nicht der Jenaer Postwagen unterwegs überholt hat!“

„Immerhin: Wir sind vor Protokoll und Siegellack und Streusand an Ort und Stelle!“

„Und Du trittst am besten gleich hier im ‚Erbprinz‘ ab, bis es an dem ist, Dich hohen Ortes zu präsentieren!“

Aus seinem Gasthofstübchen schaute Christian Ellerbrook auf das feine Regengeriesel hinaus. Die Dachspeier des Cranachhauses drüben trieften. Um den Neptun auf dem Marktbrunnen schützten mächtige Regendächer die schwarzbebänderten, hohen Federhauben der Bäuerinnen und ihre Körbe voll roter Äpfel und weisser Eier. Der Assessor von Helmich ging unruhig die sandgescheuerten, knarrenden Dielen auf und nieder. Er blieb sinnend stehen.

„Um die Zeit zu kürzen, Bruder, will ich Dir ein Geständnis ablegen! Ich hätte es gestern schon getan! Aber im lauten Burschentrubel war dazu nicht der Ort! Wisse denn: Ich bin so gut wie versprochen! Mit dem himmlischsten Mädchen, das die Erde trägt! Friderique heisst die Göttliche!“

„Ich danke Dir für Deinen Händedruck, Christian!“ fuhr er fort. „Ich weiss, er kommt vom Freund zum Freund! Und eben als Freier kann ich mich Dir als Freund erweisen: der Vater meines Mädchens lebt hier als Major im Ruhestand der grünen Grossherzoglichen Husaren, die Ihr in Jena respektlos die Laubfrösche nennt! Er ist ein eifriger Kunstfreund und Kunstsammler und hat als solcher Zutritt zu dem grossen Mann, zu dem Herrn von Goethe selber. Da wäre für Dich als Lesstes, wenn alle Stricke reissen, die Fürsprache Seiner Excellenz!“ Er unterbrach sich. „Habe ich’s nicht gesagt: Gleich hinter uns kommt doch schon die Hauptkutsche aus Jena an! Da hält der Postwagen vor dem Stadthaus!“

„Und wer steigt da aus?“ schrie der Studiosus Ellerbrook durch das Schmettern des Posthorns und deutete auf das Gervirr von Menschen, Koffern, Gäulen um den gelben Kasten. „Da — zwischen den Philistern der fahle, übernächtige Mensch im Radmantel und Schifferhut . . .“

„Das ist . . .“

„Das ist des Teufels Kandidat! Das ist der Mummenthey! So was backt der Böse nicht zweimal! Er lebt! Er lebt!“

„Sei froh!“

„Er ist auch nicht blessiert! Der Saufbruder kann heren! Na warte!“

„Halt! . . . Halt! . . . Wohin?“ Der Herr von Helmich hielt von rückwärts mit beiden Armen den Jenenser auf seinem Sprung nach der Türe umschlungen.

„Lass mich! Ich muss hinunter! Der Verräter hat ja den Zettel mit unseren Feuersprüchen von gestern Abend bei sich — mit unsern Namen.“ Christian Ellerbrook rang ungebärdig mit dem Freund. „Er soll ihn herausgeben oder verrecken . . .“

„Du bleibst hier in der Stube!“ Der von Helmich und der Jenenser taumelten atemlos im Ringkampf über die Diele. Ein Blick des Assessors dabei durchs Fenster: „Gott sei Dank! Da steigt der Kerl über den Marktplatz!“

„Er biegt um die Ecke!“ stöhnte Christian Ellerbrook und setzte sich dumpf und erschöpft auf die Bettstelle. „Nun ist der Schelm einem ehrlichen Burschen wie mir wieder entronnen!“

„Um so besser! Mit desto reinerem Gewissen kann ich Dich jetzt, nachdem ich meinen vorläufigen Bericht über das Wartburgfest im Ministerium abgelegt habe, Friderique präsentieren.“ Der Assessor lugte nach der Windischen Gasse hinüber. „Aber sei vor diesem verloffenen und versoffenen Theologus auf der Hut! Seine Wegrichtung ist verdächtig. Ich kann mir schon denken, bei wem der Judas mit seinen Waren hökern wird! Wir Weimarer haben wie die Trojaner den Feind in den Mauern!“

An einem vornehmen Bürgerhaus der Altstadt zog der Kandidat Mummenthey die Klingel. Ein Diener machte auf, nickte ihm zu und öffnete ihm schweigend die Türe zu einem weiten Wohnraum. In ihm sass ein mittelgrosser Mann am Schreibtisch, über Papierblätter gebeugt. Beim Knarren der Angel liess er den Gänsekiel sinken und wandte sich nervös um. Dichtes fahles Haar eines hohen Fünfzigers krauste sich ihm über dem bartlosen, weichlichen und schalkhaften Faunsgesicht, dem die dunklen Augen doch einen bedeutenden, weltkundigen Ausdruck gaben. Eine Art von Schwermut in ihnen widersprach dem geniesserischen Leichtsinn auf den sinnlich geformten Lippen und die noch vom Schreiben her frivol zuckenden Mundwinkel.

„Ich habe meinen täglichen Druckbogen vor dem Frühstück noch nicht fertig!“ sprach er mit hoher Stimme zu dem Diener. „Warum störst Du mich?“ Jetzt erst erkannte er den Besucher und erhob sich. Er trug unter einem vorn offenen, bis zur halben Wade reichenden Schlafrock eine schwarzseidene Weste und lange dunkle Hosen. Zwischen hohen, weissen, spiss zulaufenden Vatermördern richtete sich sein Blick neugierig auf den Kandidaten. Ein Wink an den Diener, das Zimmer zu verlassen. Ein Lächeln:

„Nun — wie war es mit den jungen Jakobinern auf der Wartburg?“

„Ach — Herr Staatsrat . . .“ Der Kandidat Mummenthey sank auf einen Sessel. Der andere trat belustigt näher.

„Tränen, mein Bester . . .?“

„Ach, Herr von Kotzebue! Ich bin ein unwürdiges Subjekt!“

„Nun — was macht denn das?“

„Mein Herz steht allem Hohen und Heiligen offen!“ heulte der Kandidat.

Der Weimarer Bürgersohn und Kaiserlich russische Legationsrat August von Kotzebue lächelte nachsichtig:

„Dafür apanagiere ich Sie nicht!“

„Ich weiss, ich gelte für einen geschickteren Säufer als Patrioten. Aber die Weihestunden gestern auf der Wartburg haben mich ins Tiefste erschüttert. Unter Zähren gelobte ich mir, künftig Teutschland zu dienen!“

Kotzebue schaute mit einem interessierten Ausdruck des Komödiendichters auf den reuigen Mann, so als spielte ihm der eine wirksame Bühnenszene vor.

„Weiter, mein Allerbester!“

„Am Nachmittag . . .“ Ein ersticktes Schluchzen, „kam bei mir die Wahrheit in der Tiefe der Flasche! Ich bekam Mut! Ich steckte eine Pistole zu mir. Ich schlich mich im Dunkel zu den Scheiterhaufen auf der Wartburg. Hier die Liste der Schriften, die öffentlich verbrannt wurden — auch von Ihnen, Herr Staatsrat, mit dem Wolfsgeheul: Wehe über Kotzebue, den arglistigen Erzknecht! . . . den grausamen Verräter!“

„Ah — sehr gut!“ Der Agent des Zaren nahm geschäftig das Blatt an sich und legte es auf den Schreibtisch.

„Ich wurde entdeckt und verfolgt!“ stöhnte der Kandidat Mummenthey. „Einer der Wildesten von Jena — und das will etwas heissen — zielte mit dem blanken Dolch nach meinem Herzen! Gottlob: Ich war durch Ihre hohen Verbindungen in Esthland, Herr Staatsrat, ein Jahr dort Hauslehrer und habe mir ein Koller aus gegerbtem Elenfell mitgebracht, wie man es in jenem Lande trägt. Dies Leder fängt jeden Stoss auf. Ich hatte es der Herbstkälte wegen untergezogen. Es hat mir das Leben gerettet!“

„Kennen Sie den jungen Ideologen, der sich so unschicklich an Ihnen vergriff?“

„Ich werde ihn dem Herrn Staatsrat in persona hiesigen Orts weisen können, denn der Monsieur ist noch vor mir heute Nacht mit einem Freund nach Weimar durchgeritten. Der Postmeister in Erfurt, der ihn kennt, hat es mir berichtet. . . .“ Ein tränenreicher Augenaufschlag. „Wie ist es mit meinem Schmerzensgeld, Herr Staatsrat?“

Als der Kandidat Mummenthey eine Viertelstunde später das Haus des Dichters Kotzebue verliess, hatte er noch feuchte Augen der Zerknirschung, aber er trällerte schon wieder liederlich vor sich hin und klingelte, auf dem Weg zu Kneipe, im Hosensack mit dem Schock harter Taler, in die sich in deutschen Landen die rollenden Rubel des Zaren gewandelt hatten.

Und drinnen schritt der Staatsrat von Kotzebue in wehendem Schlafrock auf und nieder und diktierte seinem Schreiber den eiligen Geheimbericht nach Petersburg.

„Particulièrement c’est un nommé Chrétien Ellerbrook . . .“ Er unterbrach sich. „Wenn Sie mit dem Französischen nicht so rasch ins Reine kommen, so übersetzen Sie es nachher!“ Er fuhr auf deutsch fort: „Unter den verführten Jünglingen ist vorzüglich ein gewisser Christian Ellerbrook, ehedem kurfürstlich kölnischer Untertan und schon als ehemaliger Lützower einer üblen Gesinnung verdächtig, um so eher zu nennen, als er in dem berüchtigten Jena, diesem Schlupfwinkel aller freiheitlichen Verworfenheit, studiert und sich zum Überfluss nicht entblödet, zur Zeit, in der ich dies schreibe, unmittelbar nach den politischen Saturnalien auf der Wartburg, herausfordernd das Weimarer Pflaster zu treten. Auf sotanen Ellerbrook wäre, nach meinem untertänigsten Ermessen, ungesäumt von Petersburg aus die Aufmerksamkeit einer hohen österreichischen und preussischen Central-Polizeibehörde zu lenken!“

Der Studiosus Ellerbrook wanderte inzwischen an der Seite seines Freundes Helmich in seiner verwegenen schwarzen Burschentracht mit blossem Hals und langen Haaren über weissem Umlegekragen durch die Gassen von Weimar dem Graben zu. Er schwenkte das Samtbarett mit den schwarzweissen wehenden Federn und begrüsste mit einem: „Heil, Ihr Burschinnen!“ die kichernden Bürgermädel. Er runzelte grimmig die Stirne.

„Bruder: dort kommt ein Schnürling in polnischem Rock nach welscher Mode und einem schwarzen Seidenlappen um den Hals. Ich will über die Strasse und den Gecken fragen, ob er ein Deutscher ist!“

„Du wirst hier keine Händel mit der Noblesse anfangen.“ Der Assessor und Kammerjunker zog den Widerstrebenden weiter. Christian Ellerbrook sang laut und wohltönend zu den alten Bürgerhäusern empor:

„Türme und Stürme sind wir, die Zügel und Flügel!“ . . .

„Still!“

„Es ist ein altes Vorrecht der Jenenser Burschen, mit Gesang in Weimar einzuziehen!“

„Du bist aber schon in Weimar!“ Der Assessor blieb vor einem schmalen, hochgiebligen Bürgerhaus stehen. „Wir sind am Ziel. Hier wohnt die Göttliche. Zusammen mit ihrem verwitweten Vater! Poltere vor ihm nicht, wie Ihr es pflegt, gegen Gamaschendienst und Korporalstock. Der Herr von Laubisch ist, bei aller Liberalität seines Kunstsinns, ein abgedankter Major.“ Er trat mit dem Freund ins Haus. „Ich höre Stimmen aus dem blauen Salon. Es ist schöne Welt um sie. Wir wollen sie überraschen!“ Er blieb stehen und wies verklärt durch die offene Flügeltüre —: „Da sieh!“

Es war ein halbrunder, blaugetünchter Raum, dessen hohe Fenster sich auf den herbstbunten Garten und das weithin dahinter gewellte, regengraue Thüringer Land öffneten. Sparsam und steif die weissgoldenen Empiremöbel längs der schwarzen Scherenschnitte an den Wänden. Ein halbes Dutzend junger Damen sass da beisammen, hochgegürtet, in duftig wallenden dünnen Gewändern, den Blumenaufputz der grossen Schutenhüte über Stickrahmen und Häkeleien gebeugt.

Ein junges Mädchen las mit sanfter und seelenvoller Stimme aus einem goldbepressten roten Saffianbändchen vor. Sie war die einzige, die nicht, wie ihre zu Besuch gekommenen Freundinnen, im Hut war, sondern als Haustochter unter einem weissen Spitzenhäubchen wirre braune Locken sich um die weichen, einem Pastell des achtzehnten Jahrhunderts gleichenden Züge ringeln liess. Zart und mittelgross trug sie ein mit roten Rosen und grünen Blättern besticktes weisses Empirekleid nach Wiener Mode mit fünffach gepufften Ärmeln und Rosen in dem vorn gelockten und nach hinten griechisch geknoteten Haar. Die weissbestrumpften, in gemsenfarbenen, absatzlosen Bänderschuhen steckenden schmalen Füsse waren in bewusster, plastischer Anmut gekreuzt, während sie leise las.

„Euch drückte schwer das heimatliche Land.

Ihr trugt’s nicht mehr. Drum wandertet Ihr aus!“

„Das ist sie, Christian“, flüsterte der Weimarer Kammerjunker verklärt. „Urteile selbst, Bruder: Ein monniges Kind!“

„Verklärtes Blau! O hoffnungsgrüne Flut!

Die Wunde heilt und alles wird nun gut!“

Die feine Mädchenstimme schwang in Schmerz:

„Das Schiff auf Klippen treibt, dass es zerschellt!

Die Todesangst erfasst die eben Frohen —

Sei, Himmel, Du beseligend ihr Ziel,

Sie, deren Herz gestrandet wie ihr Kiel!“

Die schöne Friderique von Laubisch schloss ergriffen. Sie hob den kindlichen Kopf. Der braune Augenaufschlag war feucht, mit dem sie dem Fremdling eine kleine, klassisch geformte Hand hinstreckte.

„Nun — was sagen Sie, als Neuling in unserem Kränzchen, zu diesem Poem, Herr Studiosus?“

„Den Leuten geschieht es recht, dass sie ertrunken sind!“ Der Schwarzrock liess sich gestiefelt und gespornt, mit gefährlich funkelnden dunklen Augen auf einem Taburett nieder. „Warum haben sie ihr Vaterland verlassen wollen?“

„Um Gottes willen!“ Friderique von Laubisch fuhr ungläubig erschrocken zurück.

„Er kommt aus Jena!“ warnte ihr Verlobter.

„Doch dies erklärt nicht die Rauheit Ihres Urteils, mein Herr!“

„Nicht ich urteile, Demoiselle! Unser herrlicher, verklärter Fichte urteilt. „Der Begriff, in welchem der Mensch sein Leben als ein Ewiges erfasst’, hat er der deutschen Nation zugerufen, ‚ist seine Liebe zu seinem Volk! Liebe, die wahrhaftige Liebe sei!‘“

„Hier handelt es sich um eine höhere Geistigkeit, mein Herr!“

„Es gibt nichts Höheres, Demoiselle! ‚Volk und Vaterland, als Unterpfand der irdischen Ewigkeit, liegt weit über alles hinaus‘ hat uns Fichte vor vier Jahren gelehrt, ehe wir in den heiligen Krieg zogen. Dafür ist er selber gestorben. Dafür sind, an meiner Seite, unser Körner, unser Friesen gefallen. Und Schill. Und Scharnhorst. Aber ihre Heldenseelen leben!“

„Mein Gott: Man könnte sich ja vor Ihnen fürchten!“ Ein blondes junges Mädchen sprang kichernd auf und schnappte mitten im Wort ab, bei dem schneidenden Klang drüben:

„Lachen Sie nicht, Demoiselle, über feierliche Dinge. Wer vom Vaterland spricht, dem ziemt Ehrfurcht und Ernst!“

Donnere meine Schwester nicht so grimmig an, Christian!“ sagte der Assessor von Helmich. „Die Theora ist ja ganz blass geworden! Die Damen sind diesen rauhen Burschenton nicht gewöhnt!“ Er wandte sich, selbst doch wieder halb lachend, zu den andern Fräulein. „Das sind die Wilden von Jena! Und dabei sind sie dort noch zahm gegen die Haarscharfen in Giessen!“

„Wir sind schöne Geister, mein Herr!“ Das feine Antlitz der braungelockten Friderique war so gekränkt und erbittert, als seine gefühlvolle Weichheit es zuliess. Der ehemalige schwarze Lützower Jäger wandte ihr seine gebräunten Züge zu. Seine dunklen Augen blitzten über dem dunklen Schnurrbart.

„Wir wollen deutsche Geister und Leiber sein, Demoiselle — Mann und Weib — und ein neues starkes Geschlecht in die Zukunft fortpflanzen!“ Er schaute sich freimütig, die weissen Zähne zeigend, im Kreise um. „Dazu helfe uns Gott!“

Die Damen schauten betreten zu Boden. Nur das Fräulein von Laubisch warf den tränenschweren braunen Ringelkopf in den Nacken.

„Wir sind hier Weltbürger, mein Herr Studiosus aus Jena!“

Der blaue Rundraumn hallte von einem heissblütigen Lachen des Zorns.

„Dies teutsche Bunt hier, in dem ein Maikäfer in fünf Minuten auf der Landkarte fünf Fürstentümer bekleckert — das ist für Euch, auf zehn Postkutschenmeilen in der Runde, die Welt! . . . Fahnenflüchtlinge seid Ihr aus der deutschen Welt! Lieber will ich Jena in Asche verkehren, als mit Euch in Weimar hausen!“

„Oh, welch ein Blauermontags-Ton“, wandte sich Friderique in bangem Kummer zu den Freundinnen.

„Weltbürger!“ rief hochaufgerichtet, breitbeinig dastehend mit flammenden Augen der Student aus Jena. „Wir — der Bruder Helmich da und ich — wir sind Weltkrieger! Wir haben die Welt in Wahrheit gesehen — aber die Welt in Waffen! Und über ihr das apokalyptische Tier, das Korsica ausspie! Wir deutschen Jünglinge haben den Drachen vom güldenen Stuhl gestürzt! Soll ich meinen heiligen Schwarzrock aufreissen und Euch meine Narben zeigen?“

Die Damen erschraken noch mehr. Das Fräulein von Helmich legte in einem leisen Schauer die Hand vor die Augen. Friderique, die Haustochter, lief auf einen alten Herrn zu, der durch die Seitentür eingetreten war. Er trug einen grauen Knebelbart in dem feinsinnigen, verwitterten Gesicht. Seine straffe Haltung verriet auch in dem bräunlichen, auf Pikeschenart mit Quasten verschnürten Oberrock den alten Husaren.

„Vater! Er weiss nicht zu leben!“ wehklagte sie. Und drüben die heisse junge Stimme:

„Aber zu sterben haben wir gewusst — bei Leipzig und Waterloo! Ihr habt’s nicht gehört, das Brausen in unseren Reihen, als drüben die Carré’s der Alten Garde wankten und wir unsere Gäule in den Bajonettwald warfen, Vater Blücher voraus!“

„Bravo!“ schrie der alte Major George von Laubisch und sein künftiger Schwiegersohn, mit einem Blick auf Christian Ellerbrook:

„Er war im Feld ein Gesell, vor dem der Teufel den Schwanz einkniff, ohne Fladduse zu melden!“

„Und was habt Ihr inzwischen hier gemacht?“ sprach der schwarze Student plötzlich unheimlich ruhig. „Ihr habt, wie man uns heimgekehrten Burschen in Jena berichtet hat, Mummenschanz getrieben und Schäferspiele veranstaltet und Scherenbilder geschnitten . . .“

„Vater! Er kränkt mich mit Bedacht!“

„Christian: Die antikischen Silhouetten an den Wänden sind doch von dem Fräulein des Hauses!“

„Die Demoiselle hätte besser Verwundete gepflegt! Aber Eure Ohren waren taub für den Sturm des Herrn! Die zweitausend Kanonen, die bei Leipzig um Deutschlands Freiheit zum Himmel brüllten, die habt Ihr nicht gehört. Doch für das Gegacker eines wälschen Sängers habt Ihr Euch im selben Jahr hier in der Komödie die Hände wund geklatscht!“

„Vater! Er zerstört unsere ganze schöne Welt!“

„Die Franzosen galten Euch wie Deutsche! Ihr habt mit ihnen scharmutziert und getafelt. Euch hat das Herz nicht geblutet, dass unser Vaterland von ihnen ausgesogen und geplündert war — dass Danzig und Hamburg französische Städte waren — dass sie in meiner Vaterstadt, dem heiligen Köln, die Marseillaise gespielt haben und den ganzen deutschen Strom hinauf die von ihnen verbrannten deutschen Burgen stehen. Bis zur Elbe herrschte über deutsche Fürsten der Antichrist. Ihr nahmt ihn für einen gnädigen Herrn! Aber wir deutschen Jünglinge sind ungnädig geworden. Wir wollten nicht länger das Gespött der Völker sein!“

„Es ist nicht die Aufgabe des Frauenzimmers, sich mit Staatsaffairen und Kriegshändeln zu befassen!“ sprach das Fräulein von Laubisch blass und mit schwankender Stimme. Der Student von Jena nickte.

„Gut, Demoiselle! Aber um Deutschland soll sich das deutsche Frauenzimmer sorgen! Habt Ihr Euch je, ausserhalb Eurer schönen Geister, Eurer Brüder und Schwestern im Volk entsonnen? War Euch der Bauer nicht ein Rüpel und der Handwerker ein Tölpel und Ihr wart in Griechenland und im Mond? Das ist bei uns anders. Wir sind im Krieg Bügel an Bügel in der Schwarzen Schar getrabt und haben den Nebenmann nicht gefragt: Bist Du ein Schneidergeselle oder ein Fürstensohn? Uns ist im Frieden jeder Deutsche ein Bruder, wenn er nur ein rechter Deutscher ist. Bei uns in Jena sagt jeder Bursch vom Grafen ab zum andern ‚Du’!“

„Eure Tempel stürzen zusammen!“ sagte der Kammerjunker von Helmich halblachend zu dem Hausherren. Der wandte den knebelbärtigen, durchgeistigten Kopf immer wieder besorgt nach dem offenen Seitenraum, aus dem ein dort neben aufgeblätterten Kupferstichen stehender Besucher ihm nicht über die Schwelle gefolgt war. Man hörte nur ein paarmal von dessen Lippen ein tiefes, unbestimmtes ‚Hm‘!

„Wir haben ihm unser Haus so willfährig geöffnet!“ Friderique schüttelte ihre braunen Locken. Tränen standen in ihren seelenvollen Augen. „Aber der junge Herr hat Manieren an sich, wie sie auf der Hauptwache üblich sind!“

Der Student von Jena sah sie freundlich, fast ermunternd an. „Das ist mein ständiges Missgeschick!“ sagte er. „Wo ich hinkomme, gebe ich den Gerechten und Selbstgerechten Anstoss und muss weiter. Ich kann meine Zunge nicht zähmen. Denn die Zeit spricht mit feurigen Zungen. Gestern Abend sind gegenüber der Wartburg die Feuer zum Himmel geschlagen, und wir Burschen taten Hand in Hand ein heiliges Gelübde zu Deutschlands Ehren!“

„Man hat an hohem Ort schon Rapport von Eurer Ketzerverbrennung erhalten!“ Wieder blickte der Major von Laubisch besorgt nach dem Gast im Nebenzimmer. Jetzt trat jener zu den Herren und Demoisellen in das blaue Gemach. Seine mehr als mittelgrosse, steif aufgerichtete Gestalt war in einen dunkelbraunen zugeknöpften Schossrock gehüllt. Um den Hals schlang sich ein weisses, kreuzweise durch eine goldene Nadel zusammengehaltenes Seidentuch. Darüber ragte das von kurzem weissgrauem Gelöckel bedeckte majestätische Haupt eines angehenden Siebzigers mit schmalen, eingefallenen Lippen und gebieterischer Hakennase. Unter einer mächtigen Stirn brannten zwei schwarze Sonnen von Augen.

Der Gast schritt in steiler Haltung, die Hände auf dem Rücken, durch das Zimmer nach der Flurtüre. Er nickte väterlich den schönen Kindern zu, die, wie ein farbiges Blumenbeet, in einem tiefen, stummen Knicks in sich zusammenblätterten. Im Vorbeigehen ein durchdringender Sonnenblick auf den Studenten von Jena. Noch einmal, in sich hinein, dies seltsame, halb wohlwollende „Hm‘. Dann draussen seine warm klingende, tiefe Stimme zu dem Hausherrn, der ihm ehrerbietig selbst die Türen öffnete.

„Die Gelegenheit des Einblicks in die junge Torheit war nicht so übel! Wenn nur die Alten keine solchen Esel wären! Denn die verderben eigentlich das Spiel! . . . Nun — den Rest der Kupferstiche, mein Bester, durchschauen wir morgen. Die Equipage? Nein — ich gehe zu Fuss.“

Es war, als wandelte der Landesherr selber, gemessen und bedächtig, die Hände immer auf dem Rüden, durch die Gassen von Weimar. Die Bürger dienerten ehrfurchtsvoll in ihren Ladentüren. Die Marktbauern rissen die Kappen vom Kopf. Die Stadtsoldaten standen stramm. Die Beamten nahmen von weitem den Dreispiss vom Kopf. Die Damen neigten zuerst zum Gruss die Blumenschuten. Fremde standen und starrten verklärt, wie im Mekka ihrer Pilgerfahrt angelangt, dem alten Herrn nach, bis Seine Excellenz der Grossherzogliche Staatsminister Freiherr Johann Wolfgang von Goethe auf dem Weg zum Schloss ihren Blicken entschwand.

Aus dem herbstbunten Parklaub des Ilmgeländes wanderte zu gleicher Zeit ein stämmiger mittelgrosser Mann von sechzig Jahren dem hohen, mittelalterlichen Schlossturm zu. Er hatte ein gefurchtes, bartloses Antlitz mit starker Nase, hoher Stirne, eingefallenem, willensfestem Mund mit breiten Kiefern und wuchtigem Doppelkinn. Abgetragen sein kurzer grüner Rock mit der schmal geknüpften, schwarzen Halsbinde und die langen grauen Hosen. Verschossen die preussische Soldatenmüsse auf dem dichten grauen Haar. Er hatte eine Cigarre im Mund. Ein paar mächtige deutsche Rüden sprangen bellend um ihn her. Er glich einem alten Forstmann oder Soldaten. Aber seine grossen Augen schauten seltsam selbstbewusst, innenstark in die Weite und sein Tritt war derb und fest wie bei einem, der über sein eigenes Land schreitet.

Zwanzig Schritte hinter ihm gingen zwei Leibjäger, den Hirschfänger zur Seite. Am Eingangstor des Schlosses erstarrten die wachehaltenden Husaren zu grünen, goldverschnürten Statuen mit präsentiertem, blankem Säbel. Der Landesherr stieg die steinerne Treppe zum zweiten Stock in das Bernhardzimmer empor, wo von der Wand zwischen Waffen des Dreissigjährigen Kriegs das Bildnis seines grossen Vorfahren Bernhard von Weimar auf ihn niederschaute. Ein Hauch von Wald und Feld wehte mit ihm, von feuchten Herbstblättern und in ewiger Urkraft dampfender Erde. Er warf formlos seine preussische Generalsmüsse auf den Tisch.

„Du bist doch ein närrischer Kerl!“ sprach Karl August von Weimar gemütlich zu der feierlichen Verbeugung seines Ministers von Goethe, setzte sich und griff, in der Gewohnheit rastloser Tätigkeit, nach einem Blatt Papier auf dem Tisch. Die kräftige, naturnahe Sinnlichkeit, die auf seinen derben Zügen spielte, verlor sich in das immer noch halb belustigte, halb bedenkliche Kopfschütteln des Landesvaters.

„Eine neue Niederkunft Monsieurs Oken in Jena?“

„Füglich wohl nur Einer der Paten!“ sprach Goethe gemessen. Auch er hatte Platz genommen. Aber er hielt sich kerzengrade, in der Strenge des Staatsdieners aufrecht. „Hier der erste Bericht von dem Wartburgfest gestern Abend!“ Ein leises Behagen. „Die unartigen jungen Leute haben unter anderem die Schriften des Herrn von Kotzebue öffentlich verbrannt!“

„Das gönne ich Deinem Feind!“ Der Grossherzog lachte herzlich und wurde wieder ernst, während er den kurzen Bericht beiseite legte. „Aber die Folgen? Wenn uns nun der Metternich wegen dieser jungen Feuercensoren schnickt? Du hast immer vor diesem Burschenfest gewarnt!“

„Aber nun ist es geschehen, und wir werden uns nun eben wunderlich durchdrücken müssen!“ Ein Lächeln um die Lippen des Olympiers, „Im Prinzip, Revolutionären vorzubeugen, stimme ich ganz mit den Metternichen überein, nur nicht in den Mitteln dazu; die nämlich rufen die Dummheit und die Finsternis zu Hilfe, ich den Verstand und das Licht!“

„Recht, lieber Alter!“

Und plötzlich verjüngten sich Goethes Züge in einer sonnigen Heiterkeit über das Wartburgfest.

„Es ist ein allerliebstes Wesen“, sagte er, „wie die Jugend überhaupt mit allen ihren Fehlern, von denen sie sich zeitig genug verbessert! Aber wir müssen jetzt niederschlagende Pulver anrühren, damit unseren lieben Brauseköpfchen nichts geschieht!“

Sturm des Herrn

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