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Sechstes Kapitel
ОглавлениеDer Märzsturm johlte und pfiff und donnerte in diesen Tag- und Nachtgleichen des Jahres 1818 durch Deutschland, und der Studiosus Ellerbrook wanderte in flatterndem Mantel, kampflustig den Knotenstock schwingend, trotzig Burschenlieder der Windsbraut ins Angesicht singend, mit grossen Schritten Berlin zu.
Er überholte auf der nassen Landstrasse die langen Reihen der mit grauem Leinwandplan gedeckten vierspännigen Frachtwagen und die Fuhrleute mit ihren blauen Blusen und mit ihrem Peitschenknall und Hüah! und dem Gekläff ihrer Spisse. Er wies, ein schmucker, schlanker Bursch mit der wehenden Feder am Barett, den Dorfmädeln am Brunnen lachend die weissen Zähne, er feuerte, um die Spiessbürger zu schrecken, auf dem Marktplatz von Krähwinkel einen blinden Schuss aus seiner Pistole. Er hatte Händel mit den Handwerksburschen, den geschworenen Feinden der Studiosen, er zechte im Krug Dünnbier mit den Bauern — freundlichen Thüringern, missvergnügten Sachsen, noch von Leipzig her, wortkargen Märkern.
Und endlich sah er, auf seinen Ziegenhainer gestützt, das Ränzel auf dem Rücken, im Mittagsonnenschein vom blassblauen Himmel oben vom Kreuzberg her das dunstige Häusermeer Berlins vor sich liegen.
Da unten an der Spree, da sassen — für den Studiosus Ellerbrook — die Neidlinge deutscher Burschenschaft — da sassen Skelette in Perücken, die nichts konnten als Streusand auf tintenfeuchte Polizeiverbote schütten — da sassen Finsterlinge in Amt und Würden, die sich halb als Kammerhusaren des Zaren fühlten.
Da sass auch der Herr vom Kamptz, dessen Gensdarmerie-Codex man auf der Wartburg verbrannt hatte — gelesen hatte ihn freilich Keiner! — da sass auch der grosse Widersacher eines braven deutschen Jungkerls, der da oben im Sturm stand und zornig lachte: der Geheime Oberkriegsrat und. Direktor im Polizeiministerium Josias von Römhild.
Um zu ihm zu gelangen, musste man durch das Hallesche Tor Berlin betreten. Aber Christian Ellerbrook bog rechts ab. Er frug sich nach dem nahen Turnplatz in der Hasenhaide durch. Er war nicht schwer zu finden. Denn in dichten Reihen umsäumten die neugierigen Bürger und Bummler und Frauen und Fremde und Handwerfer und Halbwüchsige die weite Fläche, auf der sich Hunderte von Gesellen in ungebleichter Leinwandjacke und -hose tummelten. Sie klommen an hohen berwimpelten Stangen gen Himmel und kletterten an Hängeseilen und Strickleitern und hingen an schräg aufwärts gespannten Tauen. Sie liefen auf den Händen und schlugen Purzelbäume. Sie schnellten sich an langem Stab hoch über die Sprungschnur. Die wirren Mähnen flatterten ihnen im Schwung der Riesenwelle am Reck, die Körper streckten sich im Schwebehang und wippten mit steifem Ellbogen am Barren und kippten mit gespreizten Beinen über den Bock und trabten im Kiebitzlauf und flogen im Karpfensprung durch die Luft und lagen gruppenweise im Gras und Sand und sangen:
„Hei — wie schwungen sich die Jungen!
Frisch, fromm, froh, frei!“
„Platz, Ihr Kuchenbäcker!“ rief der schwarze Student. Die Spiesser umher waren den rüstigen Ton des Turnplatzes gewohnt. Sie bildeten eine Gasse, durch die Christian Ellerbrook das neue Heiligtum der Hasenhaide betrat.
Ein riesenhafter Recke ragte da breitbeinig mitten im freien Raum. Der lange, schmale Andreas-Hofer-Kopf bot ob den ergrauten Seitensträhnen die Glatze dem Wind und der Sonne. Ausdrucksvoll wie aus deutschem Eichenholz gehauen das Antlitz mit den klaren Augen, der bäuerisch-festen Form von Mund und Nase. Ergraut wallte dem erst Vierzigjährigen der mächtige Vollbart zwischen dem auch schon etwas ergrauten Schillerkragen über den freien Hals. Der Kraftmensch trug keine Weste, nur einen abgeschabten Rock über dem Leinenhemd, das die breit gewölbte Brust offenliess. Seine Stimme dröhnte mit Urgevalt, als er die Arme ausbreitete.
„Willkommen, Ellerbrook — Du franker Lützower — Du Wälschenschreck! . . . Du Kriegskamerad! Willkommen bei den Turnern und Teutonen!“
Friedrich Ludwig Jahn, der Turnvater, war wohl preussischer Premierleutnant a. D. und Führer des 3. Bataillons Lützow 1813. Er besass den russischen Wladimirorden. Grosse Geister Deutschlands hatten ihm ihre Werke gewidmet. Er war Ehrendoktor von Jena und Kiel. Aber in Wahrheit stand da — unzerstörbar in seinem eigensten Wesen — und wenn er auch studiert hatte und Lehrer der Jugend gewesen war — der mächtige Bauernsohn aus Lanz in der Priegnitz, aus deutscher Erde gewachsen, verwachsen mit Wald und Wiese, Wind und Wetter, Licht und Luft — ein Stück wandelnde deutsche Urgewalt. Wie Kobolde überkollerten sich die deutschen Worte eigener Prägung auf den polternden Lippen.
„Du bist zum ersten Mal auf einem wahren und gerechten Turnplatz, Bruder in Lützow! Da siehst Du deutsches Jungtum, wie es unser Malspruch nennt: Wahrhaft und wehrhaft — ehrlich und wehrlich — rein und ringfertig— keusch und kühn! — Ja — ich mahne die Turner immer: Seid keusch! Arge Lust wird durch Reck und Barren gekühlt!“
„Und seid mässig! Nicht Quaas und Frass — Wasser und Brot ist Turnerspeis. Milch macht den Mann!“ Der jähzornige Riese versetzte den nächsten Turnern ein paar derbe Maulschellen. „Was steht Ihr herum wie die Eckner mit dem Bahgesicht? Wollt Ihr im Sand baden wie die Hühner? Marsch jetzt in die Spree! Hinüber nach dem Oberbaum, in die Schwimmschule des Oberst Pfuel!“
„Nun — und Du, Ellerbrook!“ Der Turnvater gab dem Schwarzrock plötzlich einen fragenden Bärenstoss vor die Brust: „Du kommst aus Jena?“
„Man verfolgt mich in Jena von Berlin her. Darum bin ich hier!“
„Ha — ich kenne sie — unsere Mehrmacher und Rechenhexer und lebendigen Zahlbretter, die sich dünken, sie seien das deutsche gemeine Wesen! Sie verweigern ja auch mir das Amt eines Lektors der deutschen Sprache! Sie verweisen mich als Bauer auf den Mist. Was kann man für Dich tun? Du suchst unsern Lützower Mitbruder — den kleinen Berliner — den Schellhase? Vorhin sah ich den Gesell noch beim Weitsprung!“
Fritze Schellhase schwang sich affenartig flink an langer Stange über ein hohes Reck, landete im Schlusssprung, kam in grauleinenem Turnerdrill über dem schmächtigen Körper heran, die Stupsnase dreist in dem humoristischen, bartlosen Gesicht. Er hatte bei den Lützowern freilich nicht zu den reitenden freiwilligen Jägern in ihrer feierlichen schwarzen Todestracht gehört, sondern zu den nur mässig, mit scharlachroten brittischen Röcken ausgerüsteten Musketieren zu Fuss, aber sein Händedruck mit dem Jenaer Studenten war heute so kriegstreu wie im vorigen Herbst bei dem grossen Burschenfest auf der Wartburg.
„Ob ich Dir in Berlin zur Hand gehen kann?“ sprach er. „Klar! Mein Irossvater hat schon an den ollen Ziethen Gäule verkloppt, und der Ziethen verstand was davon! Seit Anno Toback sind die Schellhase Pferdehändler gewesen — und, Mensch, immer so redlich wie möglich . . . Wenn Einer freilich zu sehr aus Potsdam ist . . . Nun komm — ich bringe Dich nach Berlin hinein!“
Die beiden gingen. Christian Ellerbrook drehte am Rande des Turnplatzes noch einmal den jungen Römerkopf. Bis hierher drang die Stimme Vater Jahns. Er hatte eine Schar seiner Jünger um sich versammelt. Sie hockten im Kreise und horchten auf eine der täglichen runenhaften Ansprachen des berserkerstarken Getreuen Eckarts im Bart.
„Fahneflüchtlinge, Feiglinge, Kuppler haben im neuen Staat kein Bürgerrecht! Auch nicht, wer im Ausland die Volksehre befleckt — nicht, wer sich mit einer noch nicht eingebürgerten Undeutschen verheiratet — nicht, wer eine Familie ernähren kann und dennoch ein Hagestolz bleibt. Ein ausgestopfter Kuckuck gehört auf den Hagestolzensarg, kein jungfräulicher Kranz!“
Und endlich noch einmal ganz aus der Ferne wie dumpfer Donner der Weckruf eines Predigers in der deutschen Wüste:
„Erbärmlichkeit ist das Grab alles Grossen und Guten: Rhein und Rinnstein! Berlin und Berlinchen! Wien und Winzig! Leipzig und Lausig! Seid ein grosses Volk! Und das schönste Bild von einem ganzen Volk bleibt doch immer das Bild einer grossen, sich liebenden Familie!“
Die Beiden, der Student von Jena und der junge Schellhase, der sich auf der Hochschule zu Berlin der Tierarzeneikunde befliss, standen auf einer weiten, windüberpfiffenen, tellerebenen Grasfläche. Ein paar Jungen liessen Drachen steigen. Sonst war kein Mensch in der Nähe. Aber weiter drüben regten sich in regelmässigen Abständen hintereinander gereihte bunte Menschenstaffeln mit glitzernden Helmen, die Waffenröcke blau, mit weissem Leinen bekleidet die Beine, die im Musiktakt des Vorbeimarsches vor einer Gruppe Generale zu Pferd wie Glieder eines einzigen Riesenkörpers aus Reih und Glied flogen.
„Da übt die Jarde für die jrosse Frühlingsparade!“ sprach ‘Fritze Schellhase durch den windverwehten Paukenschlag. Der Schwarze furchte missmutig die Stirne. Er blickte von dem regellosen und ungebundenen Durcheinandergehüpfe und Gespringe der grauleinenen langmähnigen Turner drüben zu dem Lineal von ausgerichteten, im Gleichschritt die Erde erschütternden, im Dienst erstarrten Grenadieren des Königs von Preussen. Er überschaute finster den endlosen Tempelhofer Exercierplatz.
„Ha — der Prahlplatz!“ sprach er. „Und hier stehen zwei alte Lützower Freischärler! Das ist die zum Himmel schreiende Kluft der Zeit: Auf dem Turnplatz die Freiheit! Auf dem Exercierplatz der Gehorsam!“
„Besser Drillich als Drill!“ schrie der Turner. „Nu komm zum Halleschen Tor!“
Baumlange Grenadiere sonnten sich da auf der Bank vor der Wachtstube. Der braungebrannte Römerkopf des Studiosus Ellerbrook lugte misstrauisch auf sie nieder.
„Was bedeutet denn das ‚U’ mit der Kaiserkrone auf den weissen Achselklappen, Schellhase?“
„Na, Mensch! Alexander von Russland! Das is dem sein anjestammtes Regiment!“
„Ha — des Zaren!“
Passt Ihnen das etwa nicht, Männeken?“ frug der Corporal der Alexander-Grenadiere.
„Der Zar ist uns Burschen eingeschworener Feind! Nur Ihr deutschen Krieger tragt auf der Schulter seinen Stempel!“
„Sie sind wohl schon lange nicht arretiert worden — was?“ erkundigte sich gedämpft der schnurrbärtige Wachhabende.
„Ich bin frank und hart! Ich sage, was ich denke!“
Ein Windstoss öffnete den dunklen Wandermantel, den Christian Ellerbrook über seinem schwarzen Burschenwams trug. Auf dem wurde das Eiserne Kreuz sichtbar. Die Miene des Unteroffiziers von den Alexander-Garde-Grenadieren wurde viel milder.
„Habe ich auch! Woher Ihres?“
„Ligny!“
„War ich auch dabei! Ich war überall dabei. Aber bei Ligny — erinnern Sie sich noch? Das war an dem Abend das einzige Mal, dass es gleichzeitig am Himmel und auf der Erde geblitzt und gedonnert hat!
Na — nun gehn Sie mal weiter! Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf — wenn Sie drinnen in Berlin reden wollen, dann schweigen Sie! Ist besser!“
„Unser Pferdejeschäft liegt malerisch an die olle Stadtmauer jelehnt, gerade zwischen dem Halleschen und dem Potsdamer Tor“, sagte Fritze Schellhase. „Vom Futterboden oben kannst über die Mauer weg durch die freie Natur bis zum Dorf Stegliss in der Ferne sehen. Vorteil — begreifste —, dass man mit den Gäulen gleich draussen ist. Komm mit! Ich weiss gleich dabei bei ‘nem Schneidermeister ein propperes Stübchen!“
„Erst muss ich den Geheimen Oberkriegsrat und Staatsrat und Polizeirat — was weiss ich — kurz einen gewissen Römhild koramieren! Hast Du je was von dem Kerl gehört?“
‘Fritze Schellhase blieb stehen und faltete mit einem Blick zum Himmel die Hände.
„Einen jewissen Römhild!“ sprach er. „Junge — Junge! Gott erhalte Dir Deine Unschuld! . . . Einen jewissen! sagt er . . . Nicht zu jlauben! Der mächtige Mann wohnt am Gensdarmenmarkt. Den kennt jeder Schusterjunge und macht um ihn ’nen weiten Bogen. Das ist ‘n Jemütsmensch! Der verschafft Dir freie Kost und Logis in der Hausvoigtei! Ehe Du Dich versiehst!“
„Dann führ’ mich mal dahin!“
„Hör’ mal, Dir pickt’s wohl? . . . So von der Strasse weg zu Römhild — in seine Privatwohnung? Sonst biste jesund — bloss im Kopfe haste Nebenluft, wat?“
„Jetzt ist’s Mittag! Da kommt der Finsterling sicher nach Hause, um zu essen! In seinem Ministerium dringe ich doch nicht zu ihm durch. Da speist mich irgendeine Schreiberseele im Vorzimmer ab! Los!“
Mitten auf dem Gensdarmenmarkt starrte die rauchgeschwärzte Ruine des abgebrannten Schauspielhauses. Rechts und links wölbten sich die Kuppeln der Neuen und der Französischen Kirche. Gegenüber ragte in der Häuserfront ein stattliches Gebäude.
„Also krauche Du in die Höhle des Löwen!“ sagte der kleine Schellahase. „Ich habe vor den Franzosen nicht gemuckt! Das weisste! Aber hier verziehe ich mich doch lieber, ehe sie Dich rausschmeissen oder womöglich jleich dabehalten!“
„Wenn Du wieder soweit bist!“ Er wandte sich zum Gehen. „Denn frage nur den ersten besten Nante an der Ecke nach dem ollen Schellhase, dem Pferdeschmeisser an der Stadtmauer. Denn jiebt er Dir noch Jrüsse mit! Mein Vater — der is populär!“