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Fünftes Kapitel

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„Als wir in Weimar uns begegneten, Herr Ellerbrook, im blauen Wohnzimmer und auf dem Markt — da riss der Herbst die Blätter von den Bäumen. Jetzt will es Frühjahr werden. Wir schreiben den März. In unserem Garten blühen die Schneeglöckchen.

„Der Winter liegt hinter mir. Wir haben ihn in alter Art mit Maskeraden und Lesekränzchen und guten Vorstellungen im Komödienhaus und Redouten der Schönen Welt im Stadthaus verbracht. Aber alle diese brausenden Belustigungen haben eine innere Wehmut nicht zu bannen vermocht, die seit dem vorigen Oktober meine Begleiterin ist.

„Ich mag mich nicht mit anzüglichen Worten blossstellen. Und doch: Es ist mir unmöglich, ohne Betrübnis an unsere, ach so flüchtigen Gespräche zurückzudenken. Ihre rauhen und strengen Worte haben ein Loch in die gefällige Mauer des Weltbürgertums gestossen, das uns hier, im Schatten des Herrn von Goethe, so freundlich umfängt — und durch diese Lücke sind die Zweifel in meine Seele gedrungen, die Keiner um mich versteht.

„Nur mich selber kann ich fragen: Friderique — lebst Du Dir selber zur Genüge, wie wir alle hier, oder bist Du Andern — Menschen ausserhalb Deines Standes — bist Du womöglich der Nation das schuldig, was Gott Dir vor Andern gab?

„Der Professor Kant, in Königsberg, dessen ‚Kritik der reinen Vernunft’ auch wir Frauenzimmer hier in schuldiger Ehrfurcht lesen, lehrt in seinem Kategorischen Imperativ: ‚Handle als Vorbild für alle!‘ Etwas von dieser Maxime strahlte mir, mein Herr, aus Ihrem Wesen, wenn Sie, dem die Natur ach so wenig Weichmut in die Wiege knüpfte, es verkündeten, dass der Mensch Pflichten gegen Volk und Vaterland habe.

„Der Docht des Lichts, das mir den Weg weisen soll, flackert unruhig im Wind! Sie haben ihn entzündet. Sie dürfen ihn nicht verlöschen lassen. Ach — ich begreife: So wie Ihre wilde schwarze Jenaer Burschentracht sich von dem dezenten Anzug unserer Weimarischen Herren abhebt, so auch Ihr stürmisches Wesen von der abgeklärten Besonnenheit hier. Trotzdem: dies ist meine Bitte: Reiten Sie einmal, in Ehrbarkeit, als Freund, den kurzen Weg nach Weimar herüber und weisen Sie nicht einer schönen Seele, sondern einer suchenden Seele, den Weg. Die ich bin, mein Herr, die Ihrige

Friderique von Laubisch.“

Der Studiosus Ellerbrook stieg an diesem blassblauen Märzmorgen des Jahres 1818 mitten in Alt-Jena die steile Treppe hernieder. Unten auf dem Eichplatz legte er das Schreiben wieder in die Falten, in denen es das Fräulein von Laubisch mit ihrem Petschaft — einem sinnenden Genius mit Säulenstumpf und Trauersweide — für die reitende Post gesiegelt hatte, und schob es in die Tasche seines nachtdunkeln Wamses.

„Was schreibt Dein Mädchen, Bruder?“ frug ein vorbeikommender Bursch und schloss sich ihm an.

„Es ist kein amouröser Brief!“ sagte der einstige Freischärler. „Und ich habe kein Mädchen! Ich habe drei Kriegsjahre für das Studium verloren. — Ich darf mich dazu halten, dass ich mir dieses Frühjahr endlich den Jenenser Doktorhut aufsesse.“

Er hatte es ganz nahe zu dem grauverwitterten Universitätsgebäude. Er stieg, im Gedränge der Studiosen, die ausgetretenen Steinstufen des uralten ehemaligen Paulinerklosters empor. Der Hörsaal des Professors Oken war wie immer überfüllt. Zwischen den einheimischen Burschen sassen die vielen studierenden Griechen — ganz vorn ein Prinz aus dem Fürstengeschlecht der Komnenen —, die zahlreichen Ungarn, die livländischen Barone. Die Gänsekiele kratzten in den Collegienheften. Der Kachelofen glühte. An die der Hisse wegen geöffneten Fenster waren Leitern gelehnt, auf deren obersten Sprossen Studenten standen und von aussen dem Professor Oken zuhörten.

Jetzt sprach da vom Katheder nicht der Herausgeber der ‚Isis’, der in ihr die zum Fusstritt erhobenen Beine vor die Namen seiner Gegner sessen liess. Ein ernster Gelehrter, schon nahe den Vierzig, erläuterte da in leicht österreichischem Sprachklang seinen Schülern das Wesen der Quallen und Knorpelfische und ermahnte sie, im Fussgetrampel des Abschieds, das jetzt eben durch die Munificenz des Herrn Ministers von Goethe neu gegründete Zoologische Cabinett fleissig zu besuchen.

Draussen vor der Türe des Hörsaales sah der Student Ellerbrook plötzlich zu seinem Missvergnügen den gefürchteten Pedellen Nitschke vor sich, dessen unheimlich listiges Augenrollen nie etwas Gutes im ewigen Kampf mit der Burschenschaft verhiess.

„Nitschke!“ sprach er. „Euer illüstres Spitzelcorps von Pferdeund Gassenjungen in Jena ist an mir verloren. Mein Gewissen ist rein. Ich habe mich nicht an der neulichen grossen Gartenbataille mit den Handwerksburschen beteiligt. Ich war nicht dabei, als dem Kaufmann Voigt am Kranz sein Putzladen gestürmt worden ist, weil der Lümmel sich geäussert hat, wir Burschen sollten von den Leipziger Kaufmannsdienern Sitten lernen! Ich habe bei allen Schlägerskandalen in lesster Zeit nur testiert, weil ich in nächster Zeit mein Doktorexamen laudabiliter absolvieren möchte!“. Er stutzte: „Wie? Ich bin trotzdem vor Seine Magnificenz citiert? . . . Mein Gott . . . was soll das bedeuten?“

Der Prorektor der Hochschule thronte grämlich in einem Lehnstuhl hinter einem mächtigen Tisch. Dessen Eichenplatte war mit Akten bedeckt. Draussen im Vorzimmer standen wartend schuldberwusste Studenten, Philister mit unbezahlten Rechnungen, Polizeidiener als Zeugen. Die Magnificenz hob streng das Haupt.

„Sie sind der Studiosus Ellerbrook, preussischer Untertan, aus Köln am Rhein. Ich erteile Ihnen namens des Senats das Consilium abeundi — den Rat —, in den nächsten Tagen die Universität und Stadt Jena gelinde und unauffällig zu verlassen, andernfalls auf dem Amtsweg . . .“

„Was habe ich denn verbrochen, Magnificenz?“

„Es liegt eine, durch den langen Weg nach Petersburg und zurück verzögerte Beschwerde vor, dass Sie vor mehreren Monaten, wie auch diesseits festgestellt, durch öffentliches Verprügeln einer Strohpuppe auf dem Markt die Person des Kaiserlich russischen Staatsrats August von Kotzebue und in ihr die erhabene Gestalt Seiner Majestät des Zaren selber freventlich beleidigt haben!“

„Magnificenz — was gehen mich denn die Russen an?“

„Sie sind ein preussisches Subjekt. Die Petersburger Beschwerde ging infolgedessen über Berlin. Der preussische Geheime Oberkriegsrat und Direktor im Polizeiministerium“, der Prorektor blätterte in einem Amtsschreiben, „Seiner Königlichen Majestät Einberufener Staatsrat und Oberkammerherr Herr Josias von Römhild, hat auf höheren Befehl das Petersburger Rescript anher weitergegeben!“

„Uber ich stehe doch dicht vor dem Examen . . .“

„. . . mit dem der Herr von Kotzebue wahrlich nichts zu schaffen hat!“

„Euer Magnificenz können doch Gnade für Recht ergehen lassen!“

„Es ist nicht meines Amtes. Der Auftrag, Sie von der Hochschule zu verweisen, lief mir unmittelbar von der Regierung in Weimar zu, Sie können nur hoffen, durch einen Fürsprecher dortselbst noch eine Milderung zu erwirken!“

Christian Ellerbrook trat langsam, verstörten Gesichts, hinaus auf die Gasse in linde Frühlingsluft, unter den blassblauen Himmel über den alten Giebeln von Jena. Und wie er da dumpf in seinem schwarzen Burschenrock dahinwandelte, da war es, als sängen um ihn die Steine:

„Und in Jene lebt sich’s bene!

Und in Jene lebt sich’s gut!“

Und die Spatzen schirpten im Sonnenschein:

„. . . bin ja selbst darin gewesen

fünf Semester wohlgemut!“

Nein! Wartet nur! So rasch werdet Ihr auch auf Ukas des Zaren mit all seinen Kosacken und Baschkiren einen ehrlichen Kerl in Jena nicht los!

Auf dem Markt stand würdevoll der dicke Postmeister in blauem Frack mit gelben Litzen und breiten gelben Streifen an den blauen Hosen. Der Studiosus Ellerbrook warf am Einschreibeschalter seine zwei Taler und zwölf gute Groschen für eine Extrapost nach Weimar hin, und der Wagenmeister lief und liess ein Cabriolet anschirren, und zwei Stunden später entstieg vor dem Cranachhaus in Weimar ein grimmäugiger langer Schwarzrock, das Federbarett kampflustig im Nacken, die kurze Burschenpfeife verbissen im Mundwinkel, und stiefelte mit langen Schritten dem Gelben Schloss zu.

Der erste Verdruss: ein Korporal von der Wache der dunkelgrünen Weimarer Jäger drüben.

„Tu’ der Herr seine Pfeife weg! Das Rauchen is Sie in der Residenz bolizeilich verboten!“

„Ich habe doch selbst den Grossherzog mit einem Cigarro auf der Strasse gesehen!“

„Nu sähen Sie: das ist Sie was Anderes!“

Christian Ellerbrook lächelte zornig unter dem kleinen, dunklen Schnurrbart und schob die ausgeklopfte Pipe neben den Burschendolch mit dem Totenkopf in den Ledergürtel. Er betrat das Ministerium. Ein Schatten tiefer Enttäuschung verdüsterte seinen trotzigen gebräunten Römerkopf.

„Der Herr Assessor von Helmich ist zur Zeit nicht einheimisch! Der ist im Auftrag vom Herrn Minister von Goethe hinüber ins Ilmenauer Bergwerk gefahren, um dort über den neuen silberhaltigen Kupferschiefergang zu berichten. Wenn seine Kutsche nicht umwirft — der Herr kennt ja die Thüringer Landstrassen — dann ist er vor Dunkelheit wieder hier!“

Jetzt läutete, inmitten der Altstadt, die graue Herderkirche erst die zweite Mittagstunde ein. Der Student von Jena stand einsam auf dem weiten freien Platz vor dem üppigen Steingerank des Bastille-Tors, und ganz Weimar, das von ihm gemiedene und verachtete Weimar, dünkte ihm so menschenleer wie der gelbe, sonnenflimmernde Sand in der Runde.

Es gab nur noch ein Menschengesicht — ein sanftes und schwärmerisches nach dazu, mit braunen Ringellocken, das er in Weimar kannte. Und in der Tasche knisterte ihm der Brief von heute morgen, mit dem antiken Genius und klassischen Säulenstumpf als Siegel. Der Studiosus Ellerbrook zuckte die Achseln und schritt darauf los. Er, der einstige Lützower aus dem Busch, fand auch ohne viel Fragens den einmal gemachten kurzen Weg nach dem Graben und vor das Haus des abgedankten Grossherzoglichen Husarenmajors George von Laubisch.

Und zu allem Glück stand hinter dem öffnenden Diener wie durch Zufall das Fräulein Friderique von Laubisch selbst. Es war eine weiche, plastische Anmut in der Bewegung, mit der sie beglückt die Hände ineinander legte. Es war ein leiser, feuchter Schimmer in den seelenvollen braunen Augen. Die zarten Züge wurden ein wenig rot und blass. Ihr hochgegürteter, sittsam mit Spitzengefältel über der weissen Haut verbrämter Busenausschnitt hob und senkte sich schneller, als es die Gelegenheit erforderte.

Der schwarze Jenaer sah das und ahnte, was das hiess. Er stand ernst und steif auf der Schwelle. Er hörte Frideriquens sanfte Stimme:

„Steckte ein Zauber in meinem Brief, dass es Sie jetzt schon von Jena hierher getragen hat?“

„Ich erhielt, mit schuldigem Dank, Ihr Schreiben, Demoiselle“, sagte der Student rauh, „als mich ein verdriessliches Geschäft in Eile hierher rief. Da präsentiere ich mich nun zu Ihren Diensten!“

Das Licht auf Frideriquens schmalem, hübschem Antlitz erlosch. Sie neigte den braunen Ringelkopf.

„Belieben Sie einzutreten! . . . Und was schafft Ihnen Ungemach?“

„Der Zar sucht mit mir Händel!“ Der Student Ellerbrook setzte sich düster nieder. „Er ist in dem Skandal der Stärkere! Er verdrängt mich aus Jena. Ich muss von dort fort — just vor meinem Examen —, wenn ich nicht noch in Weimar gewichtige Fürsprecher finde. Ich kenne hier keine Christenseele, die mir nützen könnte, ausser dem Helmich! Aber der Kerl ist über Land!“

„Was soll wohl ein Assessor gegen den Kaiser aller Reussen helfen! Da müssten andere Gewalten beschworen werden!“ Friderique lächelte wehmütig und erhob sich. „Verziehen Sie nur ein wenig! Ich lasse Ihnen ein Schälchen Tee servieren!“

Als sie nach kurzem zurückkam, war es eine Weile ganz still im Gemach. Nur die Tässchen klapperten, mit denen ihre schlanken Finger hantierten. Ein beinahe banger Augenaufschlag darüber hin bat: ‚So rede doch! Sprich über meinen Brief!‘ Der wilde Jenaer gab sich einen Ruck.

„Herrgott — ich bin kein Beichtvater!“ versetzte er rauh und unsicher zugleich. „Ich verstehe überhaupt nicht, mit Euch schönen Geistern umzugehen!“

„Das hiesige Frauenzimmer ist empfindsam. Aber mich will es doch, wie mit unsichtbaren Geisterarmen, aus dieser Rührung herausheben! Weist mir nur, wie!“

„Ich kann doch nicht reden und nichts erklären!“ Der Kandidat der Naturkunde schüttelte verzweifelt den verwegenen Kopf. „Ich kann mich nicht vor den Spiegel stellen und mich bespiegeln, wie Ihr’s hier tut! Ich bin mir nicht so interessant, wie Ihr es Euch hier seid! Ich bin ein ganz dummer Kerl . . .“

„. . . und haben doch weiss Gott genug für Ihre bescheidene Zahl Jahre getan!“

„Ja — getan!“ sagte der Bursch. „Das ist was Anderes, Demoiselle! Da braucht man nicht zu denken. Am wenigsten an sich. Aber an Deutschland! Als jetzt vor fünf Jahren die Post nach Münster kam, wo ich als grüner Jungbursch studierte, ‚Bonaparte mit dem Rest seiner Armee auf der Grossen Retirade aus Russland!‘ — da habe ich nicht lange den Finger an die Stirme gelegt und nachgedacht: Wie wirkt diese Nachricht auf mein Gemüt? sondern ich bin aufgesprungen, dass ich das Punschglas umschmiss, und hab den anderen Gesellen zugeschrien: ‚Jetzt oder nie! Leben oder sterben!‘“

„Ja — das glaube ich!“ sprach das Fräulein von Laubisch leuchatenden Auges.

„Und wie wir eben noch mit heiler Haut aus dem Königreich Westfalen echappierten und ich glücklich in Breslau in der Vorstadt vor der Wirtschaft ‚Zum Zepter‘ gestanden bin — da hab ich nicht bei mir spintisiert: Wie ist den jungen Grafen und Bauernburschen zumute, die da heranströmen und sich beim Lützow zur Campagne melden, sondern ich hab sie beiseite gestossen und gerufen: ‚Ich will mit!‘ . . . Warum, Fräulein von Laubisch — das weiss ich nicht . . .“

„. . . weil Sie ein ganzer Mann sind!“ sagte die schöne Friderique. Sie atmete schwer.

„Darum kann ich hier in der Weimarer Luft keinem sagen, wie er leben soll! Denn Ihr lebt anders. Ihr lebt vornehm abseits. Ihr sitzt wie im Komödienhaus im Parkett und lasst die Andern agieren. Ihr lest und Ihr denkt und Ihr redet und Ihr empfindet auf eine so schöne Art, wie wir gewöhnlichen Deutschen es gar nicht können. Aber davon rücken die Dinge keinen Zoll weiter!“

„Vielleicht geschieht mir heute unrecht!“ Ein lindes Lächeln drüben. Wunderlich, in dem schwärmerischen Antlitz, plötzlich der Schalk.

„Kurz und gut — so wie mir’s einmal Einer in Jena ins Stammbuch geschrieben hat: Wer ein Deutscher ist, der sagt nicht, was er tun will, sondern tut’s!“

„Was könnte wahrer sein!“ sprach Fräulein von Laubisch. „Entsagen wir also diesem Gespräch! Oh — brechen Sie nicht auf! Wo wollen Sie jetzt hin? Sie Fremdling in Athen? Lassen Sie sich von mir eine Composition vorspielen, die Zelter jüngst aus Berlin gesandt hat! Das kürzt die Zeit!“

Christian Ellerbrook blieb verwundert sitzen. Die dünnen Töne des Spinetts zitterten durch das Zimmer. Er begriff nicht, warum plötzlich die Lust zum Musizieren diesen zarten Geist im weissen Hauskleid und weissen Häubchen anwandelte. Dabei war es ihm immer, als ob Friderique, während ihre Finger über die Tasten glitten, mit hellem Ohr auf etwas draussen horchte. Plötzlich sprang sie auf, glitt flüchtig in dem langwallenden duftigdünnen Musselin zur Türe und führte ihren Vater heran. Der alte kunstsinnige Weimarer Husar lachte befriedigt über das grauknebelbärtige, verwitterte Gesicht und drückte dem Besucher die Hand.

„Ein Glück, dass mein Wagen gerade angespannt war! So ging’s rasch hin und zurück!“ sagte er zu ihm und weiter zu Friderique: „Ich traf den Alten gerade bei Tisch — da ist er am umgänglichsten! Er lässt sein Töchterchen grüssen und will sich denn schicklicherweise ihres Schützlings annehmen!“

„Ich habe ihn durch meinen Vater bitten lassen!“ rief Friderique beglückt. „Er sieht mich gern!“

„. . . und einem artigen Kind schlägt er nicht leicht etwas ab!“

„Ja — wer denn?“ frug hilflos der Kandidat.

„Ach so!“ Der alte Herr legte dem Andern die Hand auf die Schulter. „Tummeln Sie sich, Herr Studiosus! Excellenz von Goethe erwartet Sie!“

Dem einstigen freiwilligen Jäger Ellerbrook, der oft genug im heiligen Krieg das Weisse im Auge des Wälschen geschaut, klopfte doch das Herz in der Brust, als er die breiten Treppenstufen in Goethes Stadthaus an dem Frauenplan emporstieg. Oben stand unter der Dioskurengruppe links von der Türe der Diener Stadelmann und ordnete mit dem Kutscher Berth ein versteinertes Ammonshorn, dessen Bruchstücke sie von der Löbstädter Strasse draussen für den Geheimrat mitgebracht hatten.

Der gelehrte Kammerdiener führte den Studenten durch einen Saal in einen Besuchsraum und ging, ihn anzumelden. Christian Ellerbrook harrte und sah sich beklommen in den vier blaubemalten Wänden um. An der einen stand ein rundgeschweifter Flügel. Drüben, von der Türe her, starrte ihm das Haupt einer marmornen Riesin aus toten Geisteraugen beinahe umheimlich ins Gesicht. Dann fuhr er zusammen und verbeugte sich tief.

„Kommen also aus Jena?“ sagte Goethe kurz mit einer dunklen, wohlklingenden Stimme. Er hatte Gäste zu Tisch gehabt. Er trug ihnen zu Ehren noch den Frack aus schwarzem Tuch mit breitem Kragenaufschlag und dem Stern des Falkenordens auf der Herzgegend. Das bunte Band eines Halskreuzes schlang sich um die weissseidene, gebauschte Binde, die unter dem Kinn das mächtige graue Haupt des Olympiers abschloss. Seine Haltung war steif, wie er kerzengerade da stand, die Hände auf dem Rücken. Der Studiosus hatte drei Schritte Abstand von dem Minister. Er verneigte sich nochmals.

„Aus Jena! Zu dienen, Excellenz!“

„Hm! Hm!“

Ein Schweigen. Dann rasch:

„Hatten dort auf offenem Markt den Kotzebue brutalisiert?“

„Leider nicht ihn selber! Nur seinen Mantel!“

„So! So! Höre das ungern!“

„Der Kerl hätte eine Tracht Prügel redlich verdient, Excellenz!“ rief der Student empört. „Schon um Eurer Excellenz willen! Macht sich der Kotzebue nicht zum besonderen Geschäft, Euer Excellenz hier in Weimar in jeder Weise entgegenzutreten und in der Öffentlichkeit mit gemeinem Neid und Hass zu verfolgen?“

Der Schimmer eines seltsamen Lächelns drüben, mehr in den beiden schwarzen Sonnen von Augen als um den etwas eingefallenen Mund. Goethe winkte, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst, steil aufrecht, ohne die mit langen schwarzen Tuchhosen bekleideten Beine zu kreuzen.

„Man kann einer flüchtigen Regung gegen einen Widersacher in sich mit heiterer Seele genug tun, ohne unziemlich zu werden!“ sagte er. „Der Herr von Kotzebue hat ebenso das Recht, nach seiner eigentlichen Weise zu existieren, wie Ihr nach der Eurigen! Ja — wären wir fünfzig Jahre jünger, so wollte ich ihm zeigen, wie man deutsche Komödien schreibt!“

„Excellenz . . .“

„So aber betrachte ich seine Existenz als ein notwendiges und zwar günstiges Ingrediens zu der meinigen! Der Herr von Kotzebue, dem man Verdienst und Talent nicht absprechen kann, hat mir als Vorsteher eines Theaters durch zwei Jahrzehnte so viele Mittel in die Hand gegeben, dass ich sechsundachtzig seiner Stücke gespielt und sechshundert Abende damit besetzt habe. Noch im vorigen Jahre habe ich vier Wochen daran gesetzt, um seinen ‚Schutzgeist‘ für den Geschmack des hiesigen Publikums einzurichten! Das vergesst nicht, Ihr junges Volk! Was in Euch an grossen Ansichten lebt, damit tappt nicht auf dem Markt herum, sondern bildet es in Euch in würdiger Weise!“

„Ich werde es mir gesagt sein lassen, Excellenz!“

„Nun! . . . Nun . . . hm . . . Man ist ewig belagert . . .“ Etwas mehr Wärme in der Kehle. Ein ganz leichter Anklang von gemütlicher Frankfurter Mundart. „Wenn Euer Wartburgfest nicht wäre . . .“ Ein bedenkliches Schütteln des viel milder gewordenen Greisenhauptes. „Jeder wohlmeinende Weltkenner konnte die Folgen bei den deutschen Regierungen mit Schrecken und Bedauern voraussehen. Jetzt verwenden sie eine gewisse hypochondrische Sorgfalt darauf, Euch unartige Kinder zu überwachen. Und in diesem Betracht ist der Herr Kaiserlich Russische Staatsrat von Kotzebue trotz seiner Nullität eine Macht, gegen die ich nichts vermag!“

„Also muss ich ungetröstet von Euer Excellenz gehen?“

„Gemach! Gemach! mein junger Freund!“ Jetzt lief ein warmer Sonnenschein von Güte über Goethes Züge. „Da wäre denn mein Vorschlag eine heilsame Translocation: Sie beenden Ihre Studien in Berlin! Ich habe dort manchen hübschen Freund, dem ich Sie empfehlen werde! Sie machen dort Besuche, wo Sie es für schicklich und artig halten!“

„Ich nenne Berlin und nicht eine näher und bequemer gelegene Akademie wie Halle oder Leipzig!“ fuhr Goethe fort. „Denn Sie gewinnen in Berlin einen deutlichen Begriff von der grossen Welt. Die grosse Stadt wird Sie zu einem emsigeren Gebrauch Ihrer Kräfte aufmuntern! Das ist ein Vorteil, der Ihnen von Andern so geschwind nicht abgenommen wird!“

„Wenn es Euer Excellenz so dünkt . . .“

„Ihre tüchtige Natur wird sich in Berlin bald zum Besten reinigen. Was an mir ist, will ich mit Freuden tun. Sie empfangen noch von mir Empfehlungsschreiben . . .“

„Ich danke Euer Excellenz!“ stammelte der Student. Goethe reichte ihm die Hand. Jetzt ging ein väterliches Wohlwollen, ein Verstehen alles Menschlichen von ihm aus.

„Wir wandeln alle in Geheimnissen! Jeder löst die Welt auf seine Weise! Probieren Sie’s auf die Ihre, mein Bester!“ sagte er. „Dem ich wohl zu leben wünsche!“

Der Studiosus Ellerbrook lief durch die Ackerwand, am Haus der Frau von Stein vorbei, hinüber zum Gelben Schloss. Jawohl: der Assessor von Helmich war jetzt aus Ilmenau zurück. Er sass in seiner Amtsstube. Er hatte ein paar Dienstschreiben vor sich liegen, die er nachdenklich betrachtete. Er machte ein sehr ernstes Gesicht, während er aufstand und den Kriegsgefährten begrüsste.

„Man hat mir gemeldet, dass Du da warst!“ sagte er. „Ich habe mir gleich Deine Akten geben lassen, von denen ich bisher nichts wusste! Bruder: das ist eine schöne Schweinerei! Sie haben Dich in Berlin gründlich von Petersburg aus verdächtigt! Sie sind in Berlin gleich bereit, wenn der Zar etwas wünscht . . .“

„Ich komme von Excellenz von Goethe . . .“

„Was kann der grosse Mann gegen Alexander und seine Kosacken? Klein ist unter den Fürsten Germaniens der meine — dichtet er selbst!“

„Aber er hat mir versprochen, meine Studien in Berlin zu fördern . . .“

„. . . . und ich habe hier einen vorläufigen Bericht unseres dortigen Vertreters, des Herrn von Müller“, sagte der Assessor von Helmich langsam, „wonach Du ein-für allemal von allen preussischen Hochaschulen ausgeschlossen bist!“

„Was?“

„Mehr! Ich möchte Dich warnen, preussisches Gebiet zu betreten. Ich habe da die Abschrift eines dortigen vertraulichen Rundschreibens. Du läufst Gefahr, als, wie es da heisst, ein für die Wissenschaft unbrauchbares Subjekt unter das Militär gesteckt zu werden, oder, wenn der p.p. Ellerbrook in aufrührerischer Gesinnung verharrt, sogar ins Gefängnis!“

„Bruder — das hat sich dort Einer als Jocus in der Besoffenheit ausgedacht!“

„Das ist unterzeichnet von dem Geheimen Oberkriegsrat und Direktor im Polizeiministerium Josias von Römhild in Berlin.“

„Schon wieder der Kerl, der mich aus Jena vertrieben hat!“

„Er gehört zu den härtesten unter den Berliner Geheimräten. Wir können von hier aus keine Vorstellungen erheben. Denn Du bist nicht Thüringer Landeskind. Du bist Ausländer. Du bist Preusse!“

„Ich bin Deutscher!“ schrie Christian Ellerbrook, „und das werde ich dieser verknöcherten Geheimratsseele verdeutschen!“

„Du willst doch nicht . . .?“

„Ich will vor den alten Mann hintreten, der einen ehrlichen Burschen zum Hundsfott machen will, und ihm sagen: Römhild! Das ist ein furchtbares Missverständnis!“

„Christian . . .“

„. . . Römhild — schauen Sie mich an! . . .“

„So höre doch . . .“

„Römhild! Denken Sie nicht an die Baschkiren, sondern an die Burschen! Römhild! Sie sind gewiss schon ein alter Knabe. Bald stehen Sie vor dem ewigen Richter! Deutschland klagt Sie an!“

„Du wirst mit den Gerichten zu tun bekommen!“

„Wer Deutschland so liebt wie ich, dem kann Deutschland nichts tun!“ sagte Christian Ellerbrook. „Du leihst mir ein Ränzel und ein wenig Wäsche, Bruder!“

„Aber die Post meldet, wenn du Dich auf dem Comptoir einschreiben lässt, Deinen Namen an die Polizei!“

„Ich wandere zu Fuss nach Berlin!“

„Es ist erst März, Christian! Du kommst in Sturm und Regen!“

„Es soll stürmen!“ schrie der schwarze Student. „Der Sturm des Herrn soll über Deutschland fegen! Davon solle der Geheimrat Römhild einen Hauch verspüren, wenn ich bei ihm eintrete! Ich fürchte den alten Kerl nicht! Ich poche auf mein gutes Recht! Ich werde ihm sagen: Römhild — wie soll ich denn einmal die Apotheke ‚Zu den Heiligen Drei Königen‘ in Köln übernehmen, wenn ich nicht zu Ende studieren darf? Und ich werde ihm sagen, darüber hinaus: Römhild! Sie und ich: Wir beide sind Deutsche! Gott mehre die Deutschheit!“

Sturm des Herrn

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