Читать книгу Gib mir die Hand - Rudolf Stratz - Страница 4
I
ОглавлениеUnd immer wieder das gleiche Bild . . . dieselbe eintönig gewellte, uferlose südrussische Steppe, zur Rechten des langsam in der Sommerglut dahinrollenden Eisenbahnwagens wie zur Linken, kein Baum . . . kein Strauch . . . selten einmal in eine Talfalte am Tümpel hingeduckt ein ärmliches Dorf, das weissliche Gesprenkel einer weidenden Herde . . . und wieder die Einsamkeit — das Schweigen . . . das Geflimmer der vor Hitze zitternden Luft über dem ausgedörrten braungebrannten Boden, der fahle Staub- und Dunstschleier am Horizont . . . darüber der ewig blaue, feueratmende Augusthimmel Bessarabiens und, in seiner lähmenden Sonnenflut als das einzig Lebende, wie eine vielgliedrige, träge schwarze Schlange durch die Heide sich bewegend, der Auslandzug von Podwoloczyska, der russischen Grenze, nach Odessa.
Nahezu zwanzig Stunden waren vergangen, seit die Reisenden, noch drüben im Österreichischen, bei der Festung Przemysl, die letzte Stadt gesehen. Seitdem gab es nur noch die Holzgebäude der Stationen mit ihren Beamten, ihren Kellnern, ihren massenhaften zerlumpten Juden; aber gleich dahinter lugte, kaum durch eine kleine menschliche Ansiedlung unterbrochen, die ewige Steppe hervor und begleitete den Zug, bis die Sonne sank, und umgab ihn im Mondschein mit ihren Hügeln und Tälern und war am nächsten Morgen, im Frühtau funkelnd, von steigenden Lerchen belebt, erst recht wieder da und wiegte den, der ermüdet von der Fahrt lange genug in ihre Unendlichkeit hinausschaute, allmählich in die russische Grundstimmung ein . . . das Weite . . . das Unfassbare . . . die träumerische Schwermut . . . die willenlose Ergebung . . . das Ineinanderfliessen der Dinge am Horizont der Steppe wie des Lebens. Eine tiefe Mattigkeit . . . Hoffnungslosigkeit . . . schliesslich ist alles eitel . . . alles vergeblich . . . alles ein Spiel von Luft und Wind, wie die Rauchwolken der Lokomotive vor dem Fenster, die sich zu Gestalten und Reigen einen und grüssend vorbeischweben und, wenn man ihnen nachblickt, draussen über dem versengten Unkraut und Gestrüpp des Bodens zerflattern und in Nichts zergehen . . .
In dieser Stimmung sah Lisa Sandbauer, im Wagengang stehend, durch das Fenster vor sich in die Weite, wo längs des Bahnkörpers endlos ein Holzgatter dahinglitt und die Telegraphenpfähle vorbeihuschten. So war ihr schon zu Mut gewesen von dem Augenblick ab, wo der Zug an der russischen Grenze angelangt war. Die Luft, die da auf einmal im Zollsaal, auf dem Bahnsteig, überall sich bemerkbar machte, dieser eigentümliche, im ganzen weiten Zarenreich gleichmässige Geruch von Zigarettenrauch, Stiefelschmiere, Holz und Staub, hatte sich ihr beklemmend auf die Brust gelegt, der erste Anblick der dunkelgrünen Uniformen und weissen Schirmmützen, die ersten slawischen Worte ihr einen schweren Seufzer abgerungen. Ja — nun war man wieder in Russland. Wieder daheim . . . in der Fremde!
Es war ihr selbst unerklärlich, warum sie jetzt, wo sie sich Odessa näherte, das Gefühl hatte, in das Ausland zurückzukehren, statt von dort zu kommen. Sie sagte sich vergeblich: Mein Grossvater hat doch schon in Odessa gewohnt, mein Vater ist in Odessa geboren, ich selbst . . . dort lebt mir mein Mann . . . dort liegt mein Kind begraben . . . dort hab’ ich meine Geschwister und Freunde . . . wir sind immer in Odessa gewesen . . . mir haben uns dort durch drei Menschenalter deutsche Sprache und Art bewahrt — wie kommt es, dass ich — ich allein — mich dort immer so einsam und verlassen fühle? . . .
Und eine zweite Frage stieg in ihr auf: und wo möchtest du sein, wenn nicht dort? Und sie wusste keine Erwiderung und wusste keinen Ort. Man war wohl überall fremd. Das war ein Schicksal. Das trug man mit sich, wohin man ging. Es war unrecht, eine Stadt oder sonst etwas dafür verantwortlich zu machen, ausser sich selbst. Sie nickte trübe. Draussen vor den Fenstern tanzten immer noch die Rauchwirbel — die Steppe stieg und sank mit ihren Hügelfalten im glühenden Sonnenbrand — der Himmel stand blau darüber — ein Dörfchen zog vorbei — ein paar verwilderte Bauern fuhren auf kleinen Wagen des Wegs, lange weisse Staubwolken hinterher . . . und wieder die Steppe . . . das langsame, einschläfernde Rollen des Zuges . . . das Gefühl eines müden Sichdahintragenlassens, wohin es dem Schicksal gefiel . . . weiter . . . immer weiter . . . und schliesslich zum Ende. Und war man einmal dort, dann war es ja ganz gleich, was vorher gewesen . . .
Sie schloss die Augen und lehnte sich an die Wand des Wagengangs. Hinter den niedergeschlagenen Lidern fühlte sie noch das rötliche Licht der Sonne und empfand durch den Staubmantel hindurch ihre Wärme am ganzen Körper, Das war angenehm, belebend und einschläfernd zugleich. Ihre Züge ermatteten. Sie hob die Wimpern nicht. Still stand sie da. Sie wollte sich betäuben — sich über die so entsetzlich träge schwindenden Minuten hinwegtäuschen, bis man endlich . . . endlich in Odessa war.
Da hörte sie plötzlich neben sich eine Stimme: „Ich habe die Ehre, gnädige Frau! Ich wünsche guten Morgen . . .!“ und erkannte, unwillkürlich zusammenfahrend und in den Schatten tretend, in dem jungen Mann, der sich tief vor ihr verbeugte, den Direktor Karl Görwihl, den Vertreter einer englischen Weltfirma für Südrussland. Er war Reichsdeutscher und Reserveoffizier. Darum redete er sie auch nicht, wie es sonst allgemein in der Odessaer deutschen Kolonie Brauch, mit „Madame“, sondern mit „gnädige Frau“ an.
„Eine heisse, anstrengende Fahrt — nicht wahr?“ sagte der junge Kaufmann lächelnd. Ich bin gottlob erst vorhin in Shmerinka eingestiegen . . . auf der Rückehr von einer kurzen Geschäftsreise. Darum wusste ich gar nicht, dass Sie mit im Zug waren.“
„Ich habe ein Coupé für mich!“
„Also fahren Sie schon von der Grenze ab mit?“
„Ja. Schon seit Wien.“
„Sie waren ja sehr lange im Auslande, gnädige Frau! Dass Sie wegreisten . . . das war . . . wenn ich mich nicht täusche, doch gleich nach Weihnachten alten Stils . .?“
„Ja. Ich bin beinahe acht Monate verreist gewesen!“
„Und jetzt, zu Anfang August, bei dieser afrikanischen Hitze, kommen Sie zurück?“
„Mein Mann hat mir telegraphiert, ich müsse auf alle Fälle in der Nähe sein. Es geht seinem Vater auf einmal viel schlechter . . .“
„Oh — was Sie sagen! Sein Zustand war ja leider schon lange ernst?“
„Ja. Und nun ist plötzlich ein Zusammenbruch, ein allgemeiner Kräfteverfall eingetreten . . . Mein Schwiegervater schonte sich ja ohnedies nie!“
„Freilich nicht! Und gerade jetzt . . . die Geschäfte . . . die Ungewissheit . . . die kritische Lage des Handels! Ich habe oft schon von meinem Freunde Roloff gehört, wie viel Sorgen er sich um den alten Herrn macht!“
„Roloff — wer ist denn das?“
„Das ist doch seit einem halben Jahre seine rechte Hand, gnädige Frau!“
„So?“
„Wissen Sie davon gar nichts? Hat Ihr Gatte Ihnen auch nichts davon mitgeteilt?“
„Nein! Mein Mann schreibt mir nie über Geschäfte. Es interessiert mich auch nicht . . . im allgemeinen . . . Wo kommt denn dieser Herr Roloff her?“
Der andere lächelte ein wenig eigentümlich. „Das weiss man nicht, gnädige Frau. Aber jedenfalls hat er ganz neues Leben in das Geschäft gebracht . . . Sie können sich denken, wie wichtig das ist, in diesem Augenblick, wo alles sozusagen schon auf des Messers Schneide steht!“
„Ja — was ist denn eigentlich los? Es ist mir schon unterwegs aufgefallen: der ganze Zug ist voll Grosskaufleute, die nach Odessa zurückfahren.“
Daraufhin sagte Karl Görwihl nur, andächtig und belustigt: „Ich beneide Sie, gnädige Frau!“
„Mich? Warum?“
„Um die glückliche Unwissenheit, in der Sie leben. Wir anderen Sterblichen können seit Wochen und Monaten schon nicht mehr schlafen vor Sorge wegen des drohenden Weizenausfuhrverbotes, das uns infolge der Missernte, im inneren Russland beschert werden soll, und Sie . . .“
„Ja, gehört hab’ ich auch davon! Aber es ist ja noch nicht so weit . . .“
„Das Wetter steht am Himmel. Ob es sich entladet, wissen wir noch nicht. Aber jedenfalls . . . Sie haben doch oft von Ihrem Landhaus an der Kleinen Fontäne aus gesehen, wie die Möwen, lange ehe ein Sturm ausbrach, an die Küste zurückgeflogen kamen. Sehen Sie, ebenso fährt jetzt jeder, der in Odessa Geschäfte hat, eiligst herein. Denn drei Viertel unseres Handels besteht eben im Getreideexport, der uns durch das Verbot unterbunden werden soll. Unsere ganze Hochfinanz ist im Zug vertreten. Sie können in jedem Coupé eine andere Sprache hören . . . Russisch . . . Deutsch . . . Griechisch . . . Italienisch . . . alles durcheinander . . .“
Man hielt in der letzten Station vor Odessa. Es war das alte Bild: Haufen von zerlumpten, in abenteuerliche Fetzen gekleideten Juden, die feilschend und mit den Händen fuchtelnd scharenweise vor den Wagentüren standen, in anderen Gruppen mehr abseits beisammen hockten oder müssig lauernd auf und ab strichen. Ein paar aussteigende Gutsbesitzer schritten, Kopfkissen, Esskörbe, Leintücher und all das sonstige Zubehör eines reisenden Russen mit sich schleppend, den Gang entlang. Lisa Sandbauer trat, um ihnen Platz zu machen, in ihr Abteil zurück, und Karl Görwihl benutzte die Gelegenheit zur Verabschiedung. Er, der die Verhältnisse im Hause Sandbauer junior ebenso wie jedes andere Mitglied der deutschen Kolonie Odessas kannte, musste ja merken, wie wenig ihr an einem Gespräch über die Getreidesperre gelegen war und wie wenig es ihr gelang, das seelische Fieber zu verbergen, das sie immer stärker erfasste, je mehr sie sich dem Bahnhof näherten, wo jetzt Nicolai Sandbauer, ihr Gatte, wohl schon ihrer harrend stand. So lüftete er denn mit einem respektvollen „Auf Wiedersehen, gnädige Frau!“ seine Mütze und kehrte in sein nahegelegenes Coupé zurück.
Zwei deutsch-russische Kaufleute sassen da, rauchten Papyros und tranken aus Gläsern den heissen Tee, den der Wagendiener von der Station gebracht. Der dritte blickte neugierig zum Fenster hinaus. Ihn interessierte alles. Er war ein Reichsdeutscher, ein Grosskaufmann aus Hamburg, Karl Görwihls Heimat, den Rohzuckerund Petroleumangelegenheiten nach Odessa trieben.
Eine Weile liess sein Landsmann ihn gewähren. Dann aber, da jener seine Augen nicht von dem abenteuerlichen Gewimmel der Hebräer auf dem Bahnhof wenden konnte, sagte er, während die Lokomotive sich wieder in Bewegung setzte: „Wenn Sie etwas Schönes sehen wollen, dann schauen Sie lieber in den Wagenkorridor hinein.“
Der andere folgte der Richtung seines Blickes und murmelte unwillkürlich: „Oh . . .“ Lisa Sandbauer war wieder auf den Gang hinausgetreten und stand unbeweglich wie vorher da. Das Sonnenlicht überflutete ihre hohe Gestalt, die sich deutlich in mädchenhafter Schlankheit unter dem weiten grauen Staubmantel abzeichnete. Sie hielt den Kopf in einer unbewusst verächtlichen Haltung zurückgelegt und die Augen halb geschlossen. Ihre schwarz behandschuhte Rechte spielte nervös mit dem Sonnenschirm. Zuweilen gab sie, ohne ihre Stellung zu ändern, der im Innern des Coupés packenden Kammerjungfer halblaut, mit müder Stimme ein paar Anweisungen. Aber sie tat das ganz mechanisch. Ihre Augen und ihr Geist waren draussen in der Ferne.
„Sehen Sie, was wir für Frauen in Odessa haben!“ sagte Karl Görwihl mit einem gewissen Stolz. „Sie ist doch schön . . . was?“
„Ja. Sehr schön! Und heisst?“
„Sie kennen doch die Firma Sandbauer und Sohn in Odessa?“
„Die grossen Getreideexporteure — gewiss!“
„Nun — sie ist die Frau von Nicolai Sandbauer junior.“
„Und der spielt bei Ihnen wohl eine bedeutende Rolle?“
„Es ist eines unserer ersten Häuser. Die Sandbauer zählen zu den wenigen noch übrigen deutschen Familien, die vor hundert Jahren Odessa mitbegründet haben. Sie wissen: das ganze Land hier war vorher türkisch. Was die Stadt seitdem in Gutem und Bösem erlebt hat, haben die Sandbauer miterlebt. So etwas gibt — auch abgesehen von ihrem vielen Geld — einem Hause einen gewissen Schimmer. Und Nicolai Sandbauer versteht zu repräsentieren — das muss man ihm lassen. Ein schöner Mann! Sie werden ihn auf dem Bahnhof sehen, wenn er seine Frau abholt . . .“
„Wie lange sind sie denn schon verheiratet?“
„Sechs, sieben Jahre.“
„Haben sie Kinder?“
„Sie hatten eines. Das ist gestorben . . .“
„Und nun war Frau Sandbauer verreist?“
„Über ein halbes Jahr!“
„Und das scheint ihrem Mann nicht zu lange . .?“
„In den letzten Jahren, seit dem Tod des Kindes, ist sie, glaub’ ich, beinahe ebensooft im Ausland gewesen wie hier in Odessa . . .“
Der Geschäftsfreund schaute wieder hinaus auf den Gang. Lisa lehnte da, den Blick auf das Korridorfenster gerichtet, durch das sie eine weitere Aussicht hatte als durch die schmale kleine Scheibe im Abteil. Ihr Gesicht, dessen schönes Profil sich scharf vom Licht abhob, war teilnahmslos. Sie erschien ganz anders als sonst eine Frau, die nach langer Trennung zu ihrem Mann und den Ihrigen, in ihr Haus und ihre Heimat zurückkehrt.
„Sehr stürmisch wird sich das Wiedersehen zwischen den Gatten wohl nicht gestalten . . .“ sagte der Hamburger endlich in halb fragendem Ton.
Die anderen erwiderten nichts und blickten sich an. Es lag ein gemeinsames Lächeln des Einverständnisses auf ihren Lippen. Sie und jeder Mensch ihrer Kreise in Odessa wussten natürlich, wie es um das Sandbauersche Familienleben stand.
Und auch der Hanseate begriff das jetzt und meinte: „Da ist wohl nicht alles ganz so, wie es sein sollte?“
„Nein. Wahrhaftig nicht.“
„Und warum ist denn die Ehe nicht glücklich? Eine, so schöne Frau . . .“
Karl Görwihl zuckte die Achseln. „Sie ist unglücklich verliebt.“
„Was Sie sagen . . .“
„Und wissen Sie, in wen?“
„Wie kann ich das erraten?“
„In ihren eigenen Mann.“
Der andere riss die Augen auf. „Wie? In ihren eigenen Mann?“
„Ja.“
„Aber erlauben Sie . . . das verstehe ich nicht recht . . . da könnte der doch nur froh sein!“
„Wenn Sie jetzt nach Odessa kommen,“ sagte Karl Görwihl und trocknete sich den Schweiss von der Stirne, „so werden Sie sich Abends natürlich auf die grosse Terrasse über dem Hafen, den Boulevard, setzen. Es ist der einzige Ort, wo man nach Sonnenuntergang wenigstens eine Ahnung von Abkühlung hat. Alle Welt ist dort. Man trinkt Tee . . . die Musik spielt . . . man erzählt sich das Neueste . . . nun . . . und da werden Sie unfehlbar auch Nicolai Sandbauer finden . . . Abend für Abend in Gesellschaft der schönen Madame Yannopoulo und ihres Mannes. Der sitzt natürlich anstandshalber auch dabei.“
„Wer ist denn das?“
„Ein Grieche. Ein Schiffsmakler dritten Ranges. Eine etwas dunkle Persönlichkeit. Seine Frau ist eine Polin. Ich, als ehrenfester deutscher Gatte und Familienvater, finde gar nichts so besonders Bestechendes an ihr. Aber Nicolai Sandbauer ist anderer Ansicht.“
„Ach so . . . und wegen dieser Madame Yannopoulo . . .“
„Die ist es jetzt! Der Name tut nichts zur Sache! Vor einem Jahre war es noch Madame Gervasi — vorher wieder eine Griechin — Madame Skaramanga — dazwischen die Bartolecci . . . die Dialegmeno . . . wer kann all die Freundinnen Nicolai Sandbauers im Kopf behalten? Da hätte man viel zu tun. Sicher ist nur, dass er sich um jede andere Frau mehr kümmert als um seine eigene. Die liess er schon, nachdem sie kaum ein, zwei Jahre verheiratet waren, ruhig des Abends allein zu Hause sitzen und schlenderte seiner Wege. Solange sie noch das Kind hatte, ging es. Seit das nun aber auch starb, weiss sie gar nicht mehr, wozu sie auf der Welt ist . . .“
„Traurig!“
„Ja — sehr traurig, aber bis hierher in keiner Weise ungewöhnlich. Derlei ereignet sich ja oft genug. Auch hier in Odessa. Und eine andere Frau hätte sich in wohl anders mit der Sache abgefunden. Aber nun kommt das Merkwürdige: Sie liebt ihren Mann! Jetzt vielleicht noch mehr als wie sie ihn heiratete.“
„Wirklich?“
„Fragen Sie die Herren da! Je weniger er sich um sie kümmert, desto weniger kann sie sich ihm entziehen! Zuweilen verlässt sie ja freilich Odessa. Er gibt sich wohl auch gar keine Mühe, sie zu halten — er ist froh, seine Freiheit zu haben — man glaubt, sie bleibt im Ausland . . . sie leitet die endgültige Trennung ein — nein . . . schliesslich kommt sie wieder zurück . . . sie kann ohne ihn nicht leben. Dieser Nicolai Sandbauer hat einen merkwürdigen Einfluss auf die Frauen. Aber keine hat er mehr verhext als seine eigene.“
„Vielleicht sprechen da finanzielle Gründe mit, dass sie nicht von ihm lässt?“
„Die könnten wohl mitsprechen! Ihr Vater war früher ein sehr wohlhabender Mann. Er hatte ein grosses Importgeschäft von Schwarzwälder Orchestrions und Kuckucksuhren und auch von Orgeln und ist im Laufe der Jahre allmählich ohne eigentlichen Konkurs ganz verarmt und wohl auch sonst ein wenig heruntergekommen. Er lebt jetzt noch in Odessa, aber so ziemlich auf Kosten seines Schwiegersohnes.“
„Nun ja . . . dann muss sie freilich wohl oder übel ausharren!“
„Nein — da täuschen Sie sich! Ich glaube, so ist sie nicht! Der Gedanke an die Armut würde sie nicht hindern! Aber sie kann eben nicht von ihm fort! Trotz alledem! Sie muss bei ihm bleiben und wird schliesslich daran zu Grunde gehen, und weiss es. Und er weiss es auch und rührt nicht den Finger! Dabei ist er immer heiter und liebenswürdig — auch gegen sie! Sie schmeichelt seiner Eitelkeit. Der ganze Mensch ist aus Eitelkeit und Selbstsucht zusammengesetzt. Das können Sie ihm ruhig weiter sagen. Von mir! Er weiss, wie ich über ihn denke — ganz abgesehen davon, dass wir geschäftlich alle Augenblicke aneinanderkommen. Es gibt keinen anderen Kaufmann erster Gilde, der so nervös spekuliert und fortwährend den ganzen Weizenmarkt beunruhigt wie er . . .! Ah . . . guten Morgen, Herr Tedesco! Was gibt’s?“
Aus dem Nebencoupé lugte ein Herr herein, der einen roten Fess auf dem Kopfe trug und leicht hinkte. Es war der anatolische Getreidespekulant Giuseppe Tedesco, seiner Herkunft nach ein Italiener jüdischen Bluts, aber seit langen Jahren schon in der Levante zu Hause und auch in Odessa wohlbekannt. Er hatte eine eben auf der Station erhaltene Depesche über den neuesten Stand der Weizenfrage in der Hand und gab sie grossmütig den Deutschen zu lesen, und sofort verschwand alles andere vor dieser jählings, wieder auftauchenden Sorge, die seit Wochen Handel und Wandel dräuend überschattete. Alle fünf sprachen beinahe gleichzeitig ineinander. Die Stichworte: Exportfähiges Getreiden . . . Blankoverkauf . . . Zurückdatierung der Faktura . . . Vorschussrisiko . . . schollen wirr umher. Lisa Sandbauer und ihr Los waren für den Augenblick vergessen.
Sie hatte inzwischen ihre Stellung nicht geändert. Sie konnte sich wohl denken, dass die Herren in dem Abteil am anderen Ende des Wagens, die immer wieder zu ihr herübersahen, von ihr sprachen. Aber das gab der Ruhe, mit der sie dastand und den Kopf hintenüber an die Holzwand lehnte, höchstens noch einen verächtlicheren Ausdruck. Das alles, was sie betraf, war ja kein Geheimnis! Das wusste sie ja selbst am besten. Dafür sorgte ja ihr Mann, indem er sich Tag für Tag in Madame Yannopoulos Gesellschaft zeigte. Und wenn die drüben von ihr und ihrer Rückkehr zu ihrem Gatten reden mochten, was konnten sie sich da sagen, was sie sich selbst nicht schon unzähligemal in einsamen Stunden verzweifelt und willenlos vorgesprochen und versprochen und nicht gehalten hatte, um schliesslich doch immer wieder in bitterer Entmutigung die Nutzlosigkeit ihres Kämpfens zu erkennen und sich in das schwerste aller Frauenschicksale zu fügen: da lieben zu müssen, wo man verachtet . . .
. . . Und sich selber zu verachten, weil man noch lieben kann . . . lieben muss . . . aus einem Drang heraus, der stärker ist als Wille und Vernunft . . . der selbst aus der Demütigung und Misshandlung noch neue Nahrung zieht.
Sie hätte gewünscht, ihr Mann möge nicht am Bahnhof sein, um sie zu erwarten. Ihr Herz klopfte und es bangte ihr vor dem ersten Wiedersehen mit ihm. Aber sie wusste ja: Er war da! Er war immer höflich. Auch gegen die, die er umbrachte.
Dann hatte sie eine rasche, trügerisch dahinhuschende Hoffnung: Am Ende geht es mit meinem Schwiegervater gar nicht schlechter! Das ist nur ein Vorwand. Nicolai ruft mich zurück, weil er bereut — weil es in Zukunft anders werden soll zwischen uns! Und in derselben Sekunde musste sie schon bitter lächeln: Nicolai und bereuen! Es gab keinen Menschen, der so heiter und nachsichtig gegen die anderen von seiner Gottähnlichkeit überzeugt war wie ihr Gatte.
Nein — das war es nicht. Es hatte schon seine Richtigkeit mit der Krankheit des alten Herrn. Der schied hin. Sein Sohn wurde, was der Vater bisher gewesen. Und das Leben ging weiter . . . lange . . . sie waren ja beide noch jung . . . und immer so weiter wie jetzt . . .
Das Bild der Steppe hatte sich, während sie dastand und sann, allmählich geändert. Die Wüste schwand. Gepflügte Felder zeigten ihre speckigschwarzen glänzenden Schollen, einzelne Büsche und Bäume tauchten auf, dann ganze Gehölze. Die Akazie, der charakteristische Baum Odessas, wies auf die Nähe der Hafenstadt. Freilich war ihr Grün nirgends mehr zu erkennen, dicker Staub lag auf allen Zweigen, wie er als fusshohe Schicht von feinem weissem Pulver die Wege bedeckte und in mächtigen Wolken über den ausgedörrten Boden dahinwehte; und wo doch einmal Blätter zum Vorschein kamen, da hingen sie braun und tot wie im Winter am Ast, verbrannt von der Sonnenpracht des ewigblauen Himmels, die jetzt, obwohl es noch zeitig am Vormittag war, auch schon die Wagen durchglühte. Es war erstickend heiss. Der grösste Teil der Reisenden drängte sich ungeduldig auf dem Korridor umher. Sie sprachen und stritten und lachten. Lisa hörte das alles und verstand es doch nicht in ihrer stummen Erregung voll Bitternis und Bangen; sie schaute nur immer wieder durch das Fenster, ob Odessa noch nicht in Sicht käme.
Und nun näherte man sich wirklich der Hauptstadt Südrusslands. Die Welt wurde lebendig nach dem stunden- und tagelangen Schweigen der Steppe — Vorstadthäuser, breite staubige Strassen, hölzerne Kirchen wuchsen aus der Erde — fern schimmerten die weissen Zelte eines Truppenlagers — am Weg standen bärtige Russen und gafften — dahinter lange Züge von Karren mit struppigen Gäulen — die Schienenstränge liefen auseinander — die Lokomotive pfiff unaufhörlich — durchdringend — und rollte in die Station ein.
Lisa Sandbauer beugte sich aus dem Zug hinaus. Ihr Blick glitt über die in einer Reihe auf dem Bahnsteig stehenden langen blauen Gendarmen, die silberbetressten Bahnhofschweizer und die flatternden weissen Schürzen der heranstürzenden Gepäckträger, und plötzlich zuckte sie zusammen. Sie hatte ihren Mann erkannt.