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IV

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Vom Choutor Sandbauer fuhr Lisa in die Stadt hinein, um ihren Vater aufzusuchen.

Sie hatte ihm die Stunde ihrer Ankunft nicht angezeigt, um zu verhindern, dass er sie zusammen mit ihrem Mann auf dem Bahnhof erwartete. Sie wusste: Nicolai liebte es nicht, sich öffentlich neben seinem Schwiegervater zu zeigen. Wohl unterstützte er ihn in seiner lässig-freigebigen Art, so dass jener fast ausschliesslich aus seiner Tasche zehrte — aber alles, was sich heruntergekommen, verwahrlost, als Ruine von einst darstellte, war ihm ein Greuel. Es beleidigte weniger seinen Hochmut, obwohl auch der stark genug, ausgeprägt war, als seinen Sinn für die äusserliche Korrektheit, den tadellosen Faltenwurf des Lebens.

Der Wagen rollte rasch dahin. Seine Räder rasselten nicht mehr im Staub, sondern schon wieder auf Pflaster, vornehme Häuser, reiche Läden erschienen zu beiden Seiten. Da war die breite leichtgewellte de Ribas-Strasse, die vornehmste Verkehrsader Odessas. Trotz der Mittagsglut war hier voller Verkehr. Die winzigen Droschken rasten in Menge sich kreuzend und überholend über die schallenden Granitfteine, auf den Bürgersteigen drängten sich die weissen Sonnenschirme der Herren, die bunten der Damen unter den ausgespannten Leinwanddächern der Schaufenster; im spärlichen Schatten der verdorrten und verstaubten Akazien sassen überall die jüdischen Makler auf den Promenadebänken und liessen Getreideproben von Hand zu Hand gehen, oder standen, die Köpfe zusammensteckend, an den Strassenecken beisammen. Denn hier unter freiem Himmel, in den Hausfluren, allenfalls drüben in dem zur Mittagszeit von den „Saitschikis“, den Hasen, wie man die kleinen Spekulanten und Agenten nannte, wimmelnden Café Fanconi wurden hauptsächlich die Geschäfte des Odessaer Handels nach Vätersbrauch gemacht. Die prunkvolle neue Börse an der Ecke der Puschkinstrasse war ein gähnend leerer Luxusbau, den man höchstens einmal aus Neugierde betrat.

Lisa musste aufmerken, um keinen der vielen Grüsse, die ihr galten, zu versäumen. Alle Augenblicke winkte eine aufgeregte Dame aus einem vorbeifahrenden Wagen oder lüftete auf dem Fussweg ein Freund ihres Mannes seinen Strohhut. Heute abend erzählte man sich jedenfalls überall in Arkadia und Langeron, in der Kleinen Fontäne und auf dem Boulevard, in all den Restaurants am Meer, wo man sich nach der Glut des Tages erholte, als Neuigkeit, dass die schöne Madame Sandbauer aus dem Ausland zurückgekommen sei. Sie scheine sich also wohl mit ihrem Mann wieder vertragen zu wollen. Auf wie lange — da lächelte man und irgend jemand fing an von der neuen Weizenernte zu sprechen . . .

Sie neigte beinahe mechanisch den Kopf, wenn sie einem Bekannten begegnete. Sonst sah sie nicht rechts und links. Es war auch nicht viel Eigenartiges auf den Strassen des grossen Hafenortes zu bemerken. Früher, als Odessa beinahe nur durch den Wasserweg mit der Levante, und von da mit Europa verbunden gewesen war, hatte es ziemlich ausgeprägt den Charakter einer von zahlreichen Italienern und Griechen bewohnten Mittelmeerstadt getragen. Das hatte sich mit der Legung der Schienenwege durch die bis dahin die Hälfte des Jahres hindurch nahezu pfadlosen, von Schnee bedeckten oder vom Regen in schwarzen Brei verwandelten Steppen geändert. Seitdem waren in Menge die Russen aus dem Inneren des Reiches gekommen — sie hatten das eigentümlich Südländische der Stadt verwischt und sie doch nicht slawisch zu machen vermocht. Odessa wurde einfach farblos und blieb dabei international durch und durch, jetzt noch vielleicht die unrussischste aller russischen Städte. Nur die zahlreichen Uniformen der Militärs und Zivilbeamten, der Studenten und Gymnasiasten und die langen dickgefütterten und buntgegürteten Weiberröcke der Droschkenkutscher, die kohlengeschwärzten Fetzen der Schwarzarbeiter erinnerten an das Zarenreich, nur ein selten einmal auftauchender roter Fess oder die wildmalerische Gestalt eines gedankenvoll vor einer blauweissen Aschingerschen Bierquelle stehenden Tscherkessenhäuptlings an die Nähe Asiens. Sonst hätte das elegante, die Strassen durchflutende Publikum ebensogut irgendwo anders die Kaufläden betrachten, die neuesten Moden zur Schau tragen, miteinander plaudern und flirten können.

Nun lenkte Abdul, der tatarische Kutscher, die Orlofftraber in eine Seitengasse ein. Man kam in geringere Quartiere. Die Häuser wurden unsauber, Haufen von Juden standen scheu, neuer Tumulte gewärtig, vor ihren höhlenartig dunklen Wohnungen, Betrunkene torkelten vorbei — das war die Gegend, wo Lisas Vater in einer hauptsächlich von deutschen Handwerkern bewohnten Strasse sein „Magazin“, wie er beharrlich einen beinahe völlig leeren, tennenartigen Hofraum nannte, und eine kleine Wohnung besass.

Er stand, als der Wagen hielt, auf der Schwelle, ein kleines, dürftiges, fadenscheinig gekleidetes Männchen, und sprach hüstelnd und den zitterigen Zeigefinger hin und her bewegend mit grämlicher Fistelstimme zu einem Gorodowoi, einem weisskitteligen Stadtsoldaten, der vor ihm lehnte. Dabei sah er bedrückt und gekränkt aus.

„Wer bist du?“ sagte er leise und drohend. „Und wer bin ich? Ein Gorodowoi, mein Lieber, ist nichts Besonderes. Ihrer gibt es Tausende! Ich aber bin, erblicher Ehrenbürger! Verstehe wohl! Ich habe vierzig Jahre in die erste Gilde gezahlt — ich war Mitglied der Stadtverwaltung . . . Wie kannst du es also wagen und ohne Gruss in mein Haus eindringen wollen . . .“

Der Polizist lachte über sein ganzes breitknochiges rotes Gesicht, und das erboste den Alten noch mehr, so dass er, in eine neue Strafpredigt ausbrechend, die hinter ihm vorgefahrene Equipage gar nicht bemerkte. Lisa hatte Zeit, ihn, nachdem sie ausgestiegen, von der Seite zu betrachten, und ihr erster schmerzlicher Gedanke war: man muss ihm gleich wieder frische Wäsche und Kleider kaufen! Daran hat, solange ich weg war, niemand gedacht . . .

Und nötig war es in der Tat, wenn es auch nie lange half. Seit ihr Vater sich daran gewöhnt hatte, den ganzen Tag über alle zehn Minuten sich ein Gläschen Atschischtschina“ — „Ungemischten“ — aus der Flasche mit wasserhellem Branntwein einzugiessen, vernachlässigte er sich auch im Äusseren vollkommen. Man musste für ihn sorgen. Sonst liefen ihm noch einmal die Kinder auf der Strasse nach.

„Ich bin ein Ehrenbürger,“ wiederholte er beharrlich zu dem Gorodowoi. „Wie sollten sich bei mir Barfüssler verborgen halten? Du brauchst nicht erst nachzusehen. Überhaupt — warum kommst du erst jetzt? Der Krawall war schon vor einer Stunde! Nun — Gott mit dir!“

Er winkte ungeduldig mit der Hand zum Abschied, und der Stadtsoldat grinste wieder und ging trotz seines Verbots in das Haus hinein. Auch die Umstehenden lachten. Zu ernst schien niemand hier in der Nachbarschaft den heruntergekommenen kleinen Ehrenbürger zu nehmen.

Der erkannte jetzt seine schöne Tochter und trippelte ihr entgegen. In seinen ewig feuchten alten Augen war eine aufrichtige Freude. Er umarmte und küsste Lisa und geleitete sie ins Haus und wiederholte dabei immer wieder: „Nun also . . . da bist du! . . . da bist du . . .“

Dann übermannte ihn noch einmal der Zorn. Er blickte giftig nach dem Gorodowoi. „Bei mir Haussuchung halten!“ grollte er. „Ich werde mich persönlich beim Gouverneur beschweren. Ich war früher gut mit ihm bekannt.“

„Was ist denn geschehen?“

„Ein Judentumult. Wie immer. Ein Hebräer fährt vorbei, in einer Droschke. Weiss vor Angst. Ein Haufe hinter ihm her. Er gibt dem Iswoschtschik Geld! ,Fahre Galopp . . . ich bitte dich!‘ Aber sie fassen ihn doch. Sie reissen ihn heraus. Er hebt die Hände: „Ich hab’ euch nichts getan!‘ Aber ein baumlanger Kohlenträger brüllt: ,Hast du nicht Christus gekreuzigt? und will ihm mit einer Latte auf den Kopf schlagen. Da springt, ein Vorbeigehender dazwischen. Den streift die Latte an der Stirne, so dass er blutet und seine weisse Schirmmütze zu Boden fällt — aber er, begreisst du, boxt! Er boxt, so wie es die Engländer machen — eine Faust unters Kinn, die andere in die Magengrube. Er schlägt den Kerl einfach nieder und die übrigen weichen vor ihm zurück. Sie erkannten ihn — von früher — vom Hafen her . . . da war er unter ihnen gewesen . . . es war der Roba Roloff . . . der jetzt bei euch im Geschäft ist . . . und wie er ihnen einfach sagt: ,Geht weg, Brüder!‘ — da gehen sie. Trollen sich einfach die Strasse entlang. Ja . . . so war es . . . ein ganzer Kerl . . . Er hat — Kräfte . . .“

Der Alte setzte sich und seufzte. Sie waren in einen ziemlich grossen Raum getreten, der ihm zur rechten Hand, wo ein Stuhl und Schreibtisch stand, als „Bureau“, auf der linken, nahezu leeren Seite als „Magazin“ diente. Ein einzelnes mittelgrosses Orchestrion befand sich da. Ein paar herausgenommene Rollen und Stifte lagen am Boden. Der Mechanismus war auf der Reise nach Odessa beschädigt und von der Schwarzwälder Firma ihm, dessen einstiges grosses Einfuhrgeschäft zu einer Reparaturwerkstätte herabgesunken war, brieflich zur Ausbesserung anvertraut worden. Derartige Gelegenheitsarbeiten waren das einzige, was ihm noch zufiel. Lisa hätte ihn am liebsten ganz von hier fort und in ihr Haus unter ihre Obhut genommen. Aber dagegen sträubte er sich beharrlich. Er wollte seine Freiheit wahren, auch gegenüber dem reichen Schwiegersohn, so oft er den auch anborgte.

„Nun also . . . da bist du!“ murmelte er noch einmal und hüstelte dann plötzlich und schaute scheu zur Seite. Er schämte sich zuweilen vor seiner eleganten Tochter. Er kam sich so gedrückt und dürftig neben ihr vor.

„Und wie geht es dir?“ frug Lisa.

„Mir? Gut! Sieh — da flicke ich eben ein Pneumatik-Cottage-Orchestrion! Ich bin noch rüstig. Trotz meiner Siebzig. Aber dein Schwiegervater . . . der macht es nicht mehr lange!“

Sie neigte stumm bejahend das Haupt und sagt: „Ja. Deswegen ist es gut, dass ich gekommen bin.“

Ihr Vater sah sie aufmerksam an und forschte dann ängstlich: „Nicolai war doch am Bahnhof?“

„Freilich!“

„Und habt ihr miteinander gesprochen?“

„Ja, natürlich haben wir über dies und jenes geredet!“

„Nein — ich meine: ob ihr euch ausgesprochen habt? Ihr habt euch doch so . . . so mancherlei zu sagen!“

„Nicolai und ich! . . .“ Weiter versetzte Lisa nichts. Es klang bitter genug.

„Viel zu verschweigen haben wir uns!“ fügte sie dann müde hinzu. „Und das tun wir ja auch! Wozu reden, wenn man doch sicher ist, mit keiner Silbe verstanden zu werden . . .“

Der Alte schnalzte ärgerlich und traurig mit der Zunge, stand auf, goss sich ein Glas Schnaps ein und stürzte es hinunter. Dann seufzte er tief und frug: „Also jetzt willst du hier bleiben, Lisa?“

„Ja. Wenn es geht . . .“

„Nun — es wird schon gehen!“ suchte er sie zu trösten. Sehr hoffnungsvoll klang seine Stimme dabei nicht: „Es kommt ja alles nur auf Nicolai an.“

„Er wird sich nicht ändern.“

„Aber er muss es einmal, mein Kind!“

„Er kann es gar nicht, Papa! Er ist, wie er ist!“

„Ja, ja, Nicolai!“ Das verschlissene kleine Männchen schüttelte das Haupt. „Es ist nicht recht von ihm: er und die Madame Yannopoulo sind beinahe unzertrennlich. Ich habe schon ein paarmal von meinem Standpunkt als Schwiegervater ihm ernstlich ins Gewissen geredet . . .“

Lisa lächelte nur bitter. Wie sollte man einem Manne Moral predigen, dessen regenbogenfarbene Hundertrubelscheine man am Tag vorher mit Dank in die Tasche gesteckt?

Ihr Vater schien zu ahnen, was sie dachte. „Es hat nichts geholfen!“ murmelte er mutlos. „Freilich . . . wie stehe ich vor ihm da? Das müsstest du eben selbst tun, Lisa, mit aller Entschiedenheit deine Rechte wahren . . .“

„Ich! Du kennst doch Nicolai! Du weisst doch, wie er die Achseln zuckt und einen über seine Papyros hinweg ironisch anschaut! Lieber alles, als noch einmal diesen Blick!“

„Ja — aber was soll dann werden, Lisa?“

„Gar nichts! Es wird eben so weitergehen, mein Leben lang, bald hier in Odessa, bald im Ausland. Admählich wird man alt und stumpf und denkt sich nichts dabei, und schliesslich stirbt man ja auch einmal . . .“

„Aber nein . . .“ Sie stand plötzlich auf, trat zum Fenster und schaute hinaus auf die ärmliche Gasse. „Es kann nicht so bleiben! Ich gehe daran zu Grunde! Ich fühle es deutlich!. . . Er weiss es auch . . . er sieht ruhig zu . . . so sicher ist er seiner Sache. Aber vielleicht täuscht er sich doch! Vielleicht finde ich doch einmal mehr Kraft, als ich glaube . . .“

Der kleine Ehrenbürger war ihr gefolgt und streichelte ihr betrübt mit der hilflosen zitterigen Zärtlichkeit eines selbst gebrochenen Menschen den Arm. „Nur eines versprich mir, Lisa! Eines tu nicht!“

„Und was ist das, Papa?“

„Geh nicht ganz fort von ihm!“

„Ich wollt’, ich könnt’ es!“ Kaum hörbar klang das zwischen ihren blassen Lippen.

Draussen auf der Strasse hielt ihre Equipage mit den Orlofftrabern und dem ausgepolsterten Tataren, der verächtlich von seinem Bock auf die herumstehenden armseligen Gaffer blickte. Ihr Vater wies darauf hin und nickte gramvoll mit dem kleinen grauen Kopf. „Schau — solch einen Wagen hatte deine selige Mutter auch . . . solch einen Kutscher, einen zweiten Kutscher . . . einen deutschen Diener . . . eine böhmische Köchin . . . sie hatte ein grosses Haus . . . jeden Sommer ging sie mit Kind und Regel ins Ausland . . . ich hab’ ihr das alles zahlen können . . . ich hab’ damals viel Geld verdient . . . da stand nicht ein Orchestrion, das nicht einmal mir gehört, im Magazin wie jetzt . . . nein . . . eine ganze Reihe . . . überallhin wurden sie verschickt . . . und in Orgeln war das Geschäft noch besser . . .“

Warum erzählte er ihr, auf einmal das alles? Das wusste sie ja doch. Immer und immer war, je mehr die Familie verarmte, in ihr die Rede von damals gewesen, als die Einfuhr von Orchestrions aus dem Schwarzwald nach Südrussland sich noch lohnte — als der Adel noch Geld hatte, bis die Bauernbefreiung seinen Wohlstand erschütterte, — als die Traktire aufkamen, die riesigen Volksteehäuser, in denen ein ebenso riesiges Spielwerk nie fehlen durfte, — als selbst Grossfürsten solch einen Zeitvertreib in ihren Wintergärten, zwischen Palmen versteckt, anbringen liessen. In jener Zeit hatte — Lisa entsann sich dessen aus ihrer Kindheit noch wohl — die ganze Woche über das Haus von der verworrenen vieltönigen Musik der im Erdgeschoss durcheinanderspielenden Instrumente gedröhnt. Sonntags, wenn plötzlich alles unheimlich still war, war sie wohl mit ihren beiden älteren Schwestern hinuntergeschlüpft, und die Kleinen staunten die ihnen haushoch vorkommenden, in Reih und Glied aufgestellten geheimnisvollen Schränke an, in deren jedem eine ganze Musikkapelle zu sitzen schien, und hielten den Vater, der damals noch eine blendendweisse Weste und Lackstiefel trug und zwischen den Kolossen doppelt winzig aussah, beinahe für einen Hexenmeister, weil er den Ungetümen mit einem Handgriff so schöne Töne entlocken konnte. Das alles stand ihr deutlich vor Augen — nur wie der Vater jetzt eben darauf kam, begriff sie nicht.

„Ja — mein Kind — ich war reich!“ sagte der alte Ehrenbürger trübe. „Und nun bin ich arm. Du kennst das nicht. Denn du hast mit neunzehn Jahren einen reichen Mann geheiratet. Dir erscheint das alles selbstverständlich. Was du irgend brauchst oder dir nur einbildest zu brauchen, das ist da. Du weisst nicht, wie weh das tut, wenn man an das Geld gewöhnt war und es auf einmal nicht mehr hat. Davor möchte ich dich schützen. Deswegen meine ich: gehe ja nicht ganz von Nicolai fort! Du bist nun einmal auf ihn angewiesen. Wenn er seine Hand von dir zieht — ich kann dir nichts geben und auch sonst niemand von den Deinen.“

„Gott bewahre mich, dass ich je deswegen bei ihm bliebe!“ sagte Lisa vor sich hin.

Ihr Vater hörte es nicht. Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt und goss sich, um den Kummer, den er über seinen eigenen Rat empfand, zu bemeistern, ein neues „Wässerchen“ ins Glas. Das klirrte, als er es wieder hinstellte, und er murmelte dabei: „Ihr müsst euch versöhnen — glaube mir!“

„Ja, Papa!“ Alles, was sich in Lisas Herzen nach aussen gedrängt, nach Trost und Verständnis gesucht hatte, war durch seine Worte vorhin zurückgescheucht.

„Und höre, Lisa . . . wenn du jetzt mit Nicolai doch ruhig über alles sprichst . . . wir hatten neulich eine kleine Differenz . . . ein Geschäft von kaum hundert Rubeln . . . sieh doch, wie er jetzt darüber denkt . . .“

„Ja, Papa!“ Sie sagte es mechanisch, mit leeren Augen. Sie wusste schon, worin das Geschäft bestand: ihr Vater lieh sich das Geld und gab es nie wieder. Davon lebte er ja.

Ein Widerwille erfasste sie, eine Verzweiflung, dass sie am liebsten aufgesprungen und weggeeilt wäre. Aber gleich darauf dachte sie wieder: Was soll er denn sonst machen — der arme alte Mann? Er möchte leben. Alle möchten leben — auch die vom Schicksal Not und Elend erfahren haben. Gerade die — die können nicht begreifen, dass man so wenig Freude am Dasein haben kann wie ich . . .

„Man muss Geld haben!“ wiederholte ihr Vater, beharrlich. Das eisgraue dürftige Männchen kam von diesem Gedanken nicht los. Er beschäftigte ihn Tag und Nacht, seit er in das Unglück geraten. Sie sah den hoffnungslosen Kummer in seinen alten, trüben Augen, und nun empfand sie wieder ein tiefes und schmerzliches Mitleid mit ihm, dem, wie all den Kaufleuten, die sie kannte, das Geld allein den Wertmesser für alle Dinge abgab, das Geld die Gilde, zu der sie gehörten, und damit ihre Geltung nach aussen bestimmte, das Geld die Welt war. Aber sie antwortete nicht. Es war ja umsonst. Sie wurde doch nicht begriffen.

Durch das Schweigen hallte von aussen eine bärenartig tiefe Stimme, die Türe wurde ungestüm aufgerissen und ein vierschrötiger Mann mit langmähnigem blondem Haar und wirrem Vollbart trat ein. Die vorstehenden Backenknochen und breiten Nasenflügel verrieten die slawische Abstammung. Aber er sagte auf Deutsch guten Tag.

Das war der zweite Schwiegersohn des kleinen Ehrenbürgers. Lange ehe Nicolai um Lisa freite, hatte er, der damals mittellose, aus geringen deutschrussischen Handwerkerkreisen stammende Kommis des Orchestriongeschäfts das Glück gehabt, die eine Tochter des Chefs heimzuführen, und seitdem auch den Sturz der Firma mitgemacht. Er war halb verrusst, da seine Mutter eine Moskauer Kleinbürgerin gewesen war — selbst sein ursprünglicher süddeutscher Familienname „Haas“ hatte sich, da die Russen das „H“ am Anfang eines Wortes nicht aussprechen können und durch „G“ ersetzen, schon unter seinem Vater in „Gaas“ verwandelt — der stete Aufenthalt in Sibirien, wo er nach dem Vermögensverfall des Schwiegervaters selbständig als Vertreter der Schwarzwälder Orchestrionfabriken tätig und weithin als „Gospodin Gaas“ bekannt war, hatte seine an sich schon rauhen Sitten nicht eben verfeinert, und doch hatte Lisa immer eine gewisse Zuneigung zu Kolja Gaas gehegt, den gutmütigen und ungebildeten Kraftmenschen, der sich das ganze Jahr zwischen dem Ural und dem Stillen Ozean abmühte, um für seine Frau und seine vier Kinder, die seit Jahren im Ausland, nahe am Rhein, wohnten, den Lebensunterhalt zu beschaffen. Er sah sie fast nie — er hatte so gut wie nichts von ihnen, ausser dem Brief, der einmal alle vierzehn Tage nach Irkutsk kam. Aber er war doch zufrieden. Irgendwo in der Welt wusste er ein Häuflein Menschen, die ihn liebten. Das tröstete ihn.

Er hatte nicht erwartet, Lisa zu treffen, und nahm beinahe verlegen ihre schmale behandschuhte Rechte zwischen seine mächtigen haarigen Hände. Sie auf die Wangen zu küssen, wie es sein Recht als Schwager war, wagte er nicht. Er hatte Scheu vor der eleganten Frau von Welt. Er fühlte sich überhaupt auch jetzt, nach der Verarmung seines Schwiegervaters, immer noch als der mittellose Angestellte von einst, der Eindringling in einem vornehmen Familienkreis. Der Respekt sass ihm, der bis in seine dreissiger Jahre hinein vom in Schicksal als ein armer Teufel in der Welt herumgestossen worden war, zu tief in den Knochen.

Der Hinterwäldler setzte sich, stiess zwei bläuliche Wirbel von Zigarettenrauch durch die geblähten Nüstern und seufzte tief auf Lisas Frage, wie es ihm ginge.

„Alles geht schlecht,“ sagte er in seinem harten, russisch betonten und vielfach russisch gedachten Deutsch. „Man verdient kein Geld! Jetzt war ich wieder in Asien bis zur Mandschurei. Aber mache einmal ein Geschäft mit diesen sibirischen Kaufleuten. Verkaufe diesen Heiden ein Orchestrion! Es sind Wilde! Ich glaube, wenn sie unter sich sind, laufen sie noch auf allen Vieren. Mit diesen Räubern muss man sich plagen . . . Schnaps mit ihnen trinken . . . Schnaps nach der Elle . . . ein Gläschen neben dem anderen steht längs des Ellenmasses . . . nun trinke, Bruder . . .“

„Und man tut’s?“

„Wie denn nicht? Erbarme dich: wie soll man sonst einen Auftrag bekommen? Ist der Sibiriake trunken, dann kauft er . . . ich habe gesehen, wie nach dem Essen Wirt und Gäste alles zerschlagen haben, was da war . . . das Geschirr . . . die Spiegel . . . die Fenster . . . die Stühle . . . sie riefen nach Äxten und zertrümmerten das Parkett, die Unholde . . . ich stand dabei und schämte mich für sie und hatte meine Bestellung in der Tasche . . .“

„Also hast du doch Bestellungen?“

Kolja Gaas schleuderte die ausgebrannte Papyros achtlos in die Ecke, schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel und lachte grimmig auf. „Bestellungen! Ja — das war früher! Aber jetzt! Das Unglück verfolgt mich! Nichts zu machen! Ich war doch jetzt im fernsten Osten — ich hatte mir eigens chinesische Walzen für die Mongolen aus dem Schwarzwald schicken lassen — die carillon chinoise, die Hymne Che To R’Hoa — den Shanghaiwalzer Tang-Hu-Tschuan — alles umsonst! Nein — es ist kein Segen mehr in dem Handel!“

Seine kleinen, wässrig blauen Augen funkelten grimmig unter der flachsgelben Mähne. Dann zündete er sich eine neue Zigarette an und sagte ruhiger geworden: „Ich hab’ dich heute morgen schon mit deinem Mann fahren sehen. Ich hab’ euch umsonst zugewinkt — aber ich war doch froh, wie ihr beide da in Frieden nebeneinander gesessen seid.“

„So sollt’ es bleiben!“ fuhr er zögernd fort, den Blick auf der Asche, die er abstreifte. „Du weisst: Ich halte viel von Nicolai! Er hat das, was nach Russland gehört . . . die . . . die . . .“ Er fand das deutsche Wort nicht gleich . . . „die schirokaja natura . . . die weite Brust . . . den Sinn für grosse Unternehmungen . . . Er hat nicht das Kleinliche der alten Schule! Lasst ihn nur erst ans Ruder kommen! Ihr werdet euch wundern! Er macht die Geschäfte leichthin . . . aus dem Handgelenk . . . spielend gewissermassen wie ein Grandseigneur . . . aber er macht sie gut! Denn er ist kühn. Kühn muss man sein!“

Lisa hörte stumm das Lob ihres Gatten von den bärtigen Lippen des Sibiriers. Wie kam er dazu? Der Schwager war schon seinem Bildungsgrad nach gar nicht im stande, Menschen und Dinge, die ein bescheidenes Mittelmass überstiegen, zu beurteilen. So dachte sie sich nur: Was wird er nun wieder von mir wollen, dass er Nicolais Lob singt?

Und in der Tat hub Gospodin Gaas etwas unsicher an: „Ich hab’ dies asiatische Leben satt. Oft wenn ich dort zwischen diesen Vierfüsslern sitze und sehe, wie sie den Champagner aus der Suppenschüssel trinken, seufz’ ich im stillen und denk’ mir: bin ich ein Zigeuner? Bin ich ein Tatar? Bin ich euresgleichen? Ich bin ein Europäer! Dahin will ich zurück. Dein Mann soll neulich von mir geäussert haben, ich sei ein sibirischer Yankee! Das Wort macht mich stolz! Erinnere ihn doch daran, wenn . . . wenn bei euch eine Änderung eintreten sollte . . . und er ganz frei verfügen . . . und . . . und . . . etwa eine Stellung in eurem Geschäft besetzen kann . . . ich wäre herzlich froh, sie zu bekommen. . .“

„Gut!“ sagte Lisa kalt. Sie konnte ihm ihre Hilfe versprechen. Denn Nicolai war in der Tat seinem ungeschlachten Verwandten sehr zugetan, dessen naive Bewunderung seiner Eitelkeit schmeichelte. Wo die sich in einem Menschen spiegeln konnte, da hatte der bei ihm gewonnenes Spiel. Ohne den Einspruch seines Vaters hätte er dem Sibirier schon längst einen Vertrauensposten bei sich eingeräumt.

Aber der Widerwille ob dieses ewigen Betteltums war in Lisa so gross, dass sie aufstand und nach der Türe ging. Sie hätte den beiden stumpf und sorgenvoll dasitzenden Männern ins Gesicht rufen mögen: Seht ihr denn nicht, wie ihr euch nicht nur vor mir erniedrigt, sondern auch mich vor Nicolai und mir selbst, dadurch, dass ich in euren Augen nichts anderes mein Leben lang sein soll, als eure Vermittlerin bei einem reichen Mann, gleich als ob ich selbst ihn nur des Geldes wegen genommen hätte und nun ebenso weiter für alles, was an mir hängt, Almosen sammle? Aber sie hielt an sich und frug nur mit trockener Kehle: „Ist Tonja oben in ihrem Zimmer? Dann will ich ihr guten Tag sagen.“

Tonja war die älteste der drei Schwestern, fünfzehn Jahre älter als Lisa, seinerzeit ebenso schön wie sie jetzt, und — als das Elternhaus noch in vollem Glanz dastand — viel gefeiert und umworben. Aber sie hatte sich zu lange besonnen, das Unglück kam, die Freier blieben aus. Nun lebte sie seit Jahren verbittert und verblüht einsam mit dem Vater hier im Vorstadtwinkel, besorgte ihm, da seine Hände infolge des Branntweintrinkens zu sehr zitterten, seine geschäftliche Korrespondenz und wusste auch unten, in der Reparaturwerkstätte der Orchestrions, in dem geheimnisvollen Inneren der Schwarzwälder Ungetüme, mit Zinn-Violin-Viola und Cello, mit Flöten dulce et forte, mit Violonbass und Subbass, Crescendo und Decrescendo, Pikkolo, Dulciana und Bourdon beinahe besser Bescheid wie der kleine Ehrenbürger und der Sibiriake miteinander. Unter Menschen kam sie selten. Sie sprach auch nur, was sie musste — und das scharf und hart. So war ein Zusammensein zwischen den Schwestern nie von langer Dauer.

Sie küssten sich. Dann frug Tonja dasselbe, was Lisa von allen hörte. „Also nun bist du doch wieder zurückgekommen?“

„Ja.“

„Und bleibst bei Nicolai?“

„Ja.“

„Ich hätt’ es nicht geglaubt . . .“

Lisa zuckte müde die Achseln. „Was hätt’ ich tun sollen?“

„Ich weiss nicht. Aber das hätt’ ich nicht getan!“

Über das schöne Antlitz ihrer Schwester glitt ein trauriges Lächeln. „Glaubst du etwa auch, wie Papa und Kolja unten, dass ich mich nicht von meinen Pariser Toiletten und meiner Equipage und meiner Dienerschaft zu trennen vermag, die Nicolai mir zahlt?“

„Nein. Du bleibst bei ihm, weil du ihn eben doch noch liebst!“

„Ja!“ sagte Lisa einfach.

„Und er liebt dich nicht! Er zeigt es offen! Da wäre ich zu stolz! Da ginge ich heute noch aus dem Haus und schaute nicht zurück! Das wäre mein Gefühl!“

Lisa Sandbauer stand vor ihr, die vollerblühte junge Frau vor dem gealterten Mädchen — der Mensch, der das letzte Geheimnis des Lebens kannte, vor dem, der immer nur darauf gewartet und ihm endlich entsagt, und es war mehr Mitleid mit jener in ihrer Stimme, als Trauer um ihr eigenes Schicksal oder Reue über ihre Schwäche, während sie ruhig versetzte: „Du hast ja nie geliebt!“

„Wenigstens nie mit ganzem Herzen. Und du hast nie verzweifelt. Und du hast nie in der Verzweiflung daran gedacht, deinem Leben ein Ende zu machen, und es nicht getan, weil ein anderes Leben da war, das ein Recht auf dich hatte. Und du hast nie ein Kind gehabt und du hast es nie wieder hergeben müssen . . . das alles hast du nicht erlitten und ich hab’s durchgemacht und bin doch kaum sechsundzwanzig Jahre. Wie kannst du mir da raten, Tonja! Ich bin älter als du, obwohl ich viel jünger bin. Ich bin viel unglücklicher als du, aber wenn ich noch einmal wählen sollte zwischen deinem Leben und meinem — ich würde doch wieder meines nehmen, so weh es tut. Besser, es schmerzt, als es ist gar nichts da . . .“

Tonja erwiderte nichts. Sie war Weib genug, um zu verstehen, was Lisa sagte. Die reichte ihr die Hand und verliess das Zimmer, Tränen unterdrückend, aber den Kopf erhoben, als sei sie stolz auf ein Leid, in dem das Schicksal von tausend und abertausend anderen Frauen mitzuklingen schien.

Unten hatten inzwischen ihr Vater und ihr Schwager an dem Orchestrion herumgebastelt. Eben traten sie gegen die Wand zurück, um die neu eingesetzte vox humana zu prüfen, und aus dem geschlossenen Kasten tönte plötzlich laut, mit jauchzend heller Stimme die Melodie des Hirtenknaben aus dem „Tannhäuser“.

„ Holda kam aus dem Berg hervor,

Zu ziehn durch Fluren und Auen,

Gar süssen Klang vernahm da mein Ohr,

Mein Auge begehrte, zu schauen . . .“

„Karaschô,“ murmelte der Sibirier, beifällig das buschige Haupt wiegend. „Jetzt ist’s gut!“

Sein Schwiegervater aber nahm Lisa am Arm und erhob mühsam, um das Instrument zu übertäuben, seine zitterige Greisenstimme zu ihrem Ohr. „Lisa — habe ich es dir schon erzählt: ich habe mit Tonja draussen am Liman eine kleine Sommerwohnung. Mache mir die Freude und komme nächster Tage einmal zu uns heraus!“

In seinen besseren Zeiten hatte der alte Kaufmann wie all die anderen sein Landhaus an der Kleinen Fontäne besessen, und an dieser Vorstellung, dass man den Sommer nicht in der Stadt bleiben könne, hielt er hartnäckig fest. Wenn es auch nur zwei Stübchen an dem fernen Salzsumpf in der Steppe waren, es war doch seine Villeggiatur, und eine Ablehnung seiner Einladung hätte ihn gekränkt.

So sagte sie ihm rasch zu und trat auf die Strasse. Es drängte sie fort aus der grenzenlosen Verödung zwischen diesen verarmten, verbitterten, vom Schicksal halb zermalmten Menschen, die die Ihren waren, und ihr doch so fremd, aus dem quälenden Widerwillen gegen alles Menschenlos und Menschenleben, der in ihr beim Anblick dieser dumpfen Winkelwelt aufstieg und ihr im Kreis der Familie ihre eigene Einsamkeit nur noch trostloser zum Bewusstsein brachte.

Vom Hof her verklang, während die Pferde anzogen, helltönend das Frühlingslied der vox humana:

„ Der Mai!

Der Mai war kommen . . .“

und sie dachte, im Wagen zurückgelehnt, den Blick in den blauen Himmel über den Dächern verloren: „Wann kommt mein Mai . . .?“

Gib mir die Hand

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