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II

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Seitdem zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts eine Handvoll von der Revolution vertriebener französischer Edelleute unter Führung des Herzogs von Richelieu in der Barke des griechischen Seemanns Rizo an der Küste des Schwarzen Meeres gelandet waren, wo eben nach dem Willen Katharinas an Stelle einer kleinen, im letzten Krieg eroberten und von Albanesen bewohnten Türkenfestung die Stadt Odessa entstand — seit dieser Zeit hatten die Franzosen in dem rasch aufblühenden Handelsplatz nicht an Zahl, aber an Einfluss eine grosse Rolle gespielt, Richelieu selbst war Gouverneur geworden. Sein Andenken lebte fort. Sein ehernes Standbild auf dem Boulevard zeigte ihn als römischen Triumphator und hob jetzt noch seine Hand wie schützend über den tief darunter sich ausbreitenden Hafen.

Allmählich aber verschwanden die Familien dieser blaublütigen Abenteurer. Sie starben aus, sie mischten sich mit den bald nach ihnen zu Hunderten eingewanderten, von Richelieu gerufenen Schwarzwälder Schwaben und Italienern, denen bald Tausende von Griechen folgten. Das war auch das Schicksal der Barone von Raymond gewesen, deren Letzte des Geschlechts der alte Sandbauer, Nicolais Vater, in jungen Jahren als Frau heimgeführt hatte. Nun schlief sie schon seit zwei Jahrzehnten draussen auf dem grossen Friedhof am Rand der Steppe. Man entsann sich ihrer als einer zarten, stillen, freundlichen Frau, die der gute Geist im Hause, aber in ihrem ganzen Wesen eher kleinbürgerlich gewesen war, trotzdem ihre Vorfahren bei dem Lever des Sonnenkönigs in Versailles antichambriert und in den krummen Gassen von Alt-Paris ihre Raufdegen mit den Musketieren Mazarins gekreuzt hatten.

In Nicolai Sandbauer aber, ihrem einzigen Sohn, war das ritterliche Erbteil seiner Vorfahren mütterlicherseits noch einmal aufgelebt. Wie er da, um seine Frau zu erwarten, auf dem Bahnhof stand, ein auffallend schöner, schlanker, mittelgrosser Mann mit spitzgeschnittenem blondem Vollbart und leichtgewellten Schnurrbartenden, einen weissen Tropenhelm mit Nackenschleier über dem von einem weissen Sonnenschirm beschatteten, etwas weichlichen Gesicht, von Kopf bis zu Fuss weiss gekleidet und in weissen Strandschuhen — wie er da, Lisa erblickend, in einem plötzlich wie ein Sonnenstrahl aufleuchtenden Lächeln seine weissen Zähne zeigte und, ehe er noch elastischen Schritts ihren Wagen erreichte, ihr einen lässig-vornehmen Gruss mit der Hand entgegensandte, da glich er viel weniger einem im Kontor mit Weizen und Mais handelnden Kaufmann als irgend einem hochgeborenen Künstler des Lebensgenusses, dem die von Kind auf gewohnte Freiheit von Sorge und Zwang eine natürliche Liebenswürdigkeit bewahrt hat.

Sie sah sein Lächeln, aber sie erwiderte es nicht. Dies Lächeln hatte er für alle. Stumm reichte sie ihm die Hand, um sich von ihm aus dem Wagen helfen zu lassen. Dann neigte er den Kopf und näherte seinen parfümierten Schnurrbart rasch nach russischer Sitte rechts und links ihrer Wange. Sie liess es geschehen, blass, mit niedergeschlagenen Augen, ohne ihn selbst zu küssen. Sie bot alle Kraft auf, um ganz ruhig zu bleiben, vor ihm und all den aussteigenden Bekannten.

Und ihre Stimme klang dann auch ernst, aber unbefangen, als sie sofort halblaut frug: „Wie geht es mit Papa?“

„Unverändert, seit ich zuletzt nach Wien telegraphierte. Die Ärzte können auch nichts weiter sagen.“

„Kümmert er sich denn noch um die Geschäfte?“

„Und wie! Jeden Tag macht er mir eine Szene! Aber dazwischen kommen bei ihm so . . . sozusagen Dämmerstunden. Dann verliert er sich ganz in die Vergangenheit . . . redet von Menschen und Sachen, die längst nicht mehr sind . . .“

Nicolai Sandbauer liess das Haupt sinken und seufzte schwer, während sie dem Ausgang zuschritten. Sein schönes spitzbärtiges Gesicht zeigte tiefe Betrübnis. Wer ihn sah und grüsste, die deutschen Kaufleute, die ihm zunickten, der anatolische Getreidespekulant Tedesco, der im Vorbeihinken zwei Finger an den Rand seines roten Fess legte, die jüdischen Makler, die ehrerbietig die Kappen vom Kopf rissen, ein jeder musste sehen, wie nahe ihm die Krankheit des Vaters ging. Und dabei standen Vater und Sohn seit Jahren miteinander so schlecht wie möglich. Das wusste ganz Odessa. Diese Haltung voll edler männlicher Trauer konnte niemanden täuschen. Also warum diese Komödie? Lisa frug sich das mit einem leisen Grauen. Aber dies Schauspielerische in seinem Wesen — das war eben er! Er war unaufrichtig gegen alle Welt — und am meisten vielleicht gegen sich selbst. Er bildete sich am Ende in diesem Augenblick wirklich ein, er sei ein guter Sohn . . .

„Hast du nicht zu sehr unter der Hitze gelitten, Lisinka?“ frug er mitleidig. Es lag eine beinahe weibliche Zartheit und Rücksicht in seinem Ton. Sie kannte niemanden, der die Frauen in ihren kleinen Schwächen so liebevoll verstand wie er, vielleicht weil er selbst etwas Weibliches und Weichliches in seiner Art besass. Aber ernst nahm er sie trotzdem nicht, so wenig wie sonst etwas auf der Welt. Er hatte ein stehendes, gutmütigironisches Lächeln. Damit entwaffnete er von vornherein jeden Widerspruch und Widerstand. Vor diesem Lächeln erstarb alles, was man im Herzen hatte und offenbaren wollte. Das wusste sie schon lange. Wie hatte sie sich früher nach einem Ausbruch des Zorns bei ihm gesehnt, nach einem rauhen Wort . . . ja nach einem harten Griff um ihr Handgelenk — alles lieber als diese ewige sonnige Heiterkeit, die sich aus allem im Leben nur ein Spielzeug machte, das man nach kurzem gelangweilt wieder wegwarf, selbst aus der Ehe und der eigenen Frau . . .

Jetzt war sie längst hoffnungslos, Ängstlich, wie man eine wunde Stelle vor Berührung hütet, wahrte sie vor ihm ihr Inneres, ohne dass er, immer nur mit sich beschäftigt, das wohl überhaupt merkte, und so frug sie auch jetzt, während sie vor den Bahnhof traten, wo die Sandbauersche Equipage, mit zwei langschweifigen seidenschwarzen Orlofftrabern bespannt, Harrte: „Hör einmal: du hast ja da einen Tataren als Kutscher!“

„Freilich. Es ist ein Fürst. Er heisst Abdul.“

„Kein Mensch hat doch hier in Odessa einen Tataren.“

„Gerade deswegen!“ Nicolai musterte zufrieden den schlitzäugigen, untertänig grinsenden Fürsten, der in seinem unförmlich dicken, an den Hüften ausmattierten blauen Weiberrock auf dem Bock thronte. „Das ist doch etwas Neues.“

„Aber die Pferde sind die alten?“

„Ja, die alten.“

Sie nickte müde. Ein Gespräch über Diener und Pferde . . . das war der Boden, auf dem sie beide sich noch fanden. Keinen Schritt weiter über die Alltäglichkeit eines gemeinsamen Haushalts hinaus! So war es bis zu der Trennung vor einem halben Jahr gewesen, so fing es jetzt wieder an. So allein war dies Beisammenleben wenigstens äusserlich zu ertragen.

Ja — nun war man wieder in Odessa. Da dehnte sich vor ihr endlos die Puschkinstrasse, zu beiden Seiten von orthodoxen Kirchen flankiert, deren grüne Zwiebelkuppeln sich in ganzen Bündeln, von goldflimmernden Kreuzen überragt, von dem sattblauen Himmel abzeichneten. Von da oben klang rasches, aufgeregtes Glockengeläute. Schwärme von Bettlern kauerten unten an den Treppenstufen und klagten.

Sie wandte, während der Diener, ein riesiger Grossrusse, für das Gepäck sorgte, den Blick von diesen Jammergestalten ab nach der weiten freien Fläche, die seitlings den Bahnhof umgab. „Da haben doch sonst Holzbuden gestanden, nicht?“

Ihr Gatte nickte, sich eine Zigarette drehend. „Man hat sie angezündet, alle. Auch weiter drüben, den ganzen alten Bazar.“

„Ja warum denn?“

„Wir hatten doch im Frühjahr wieder hier die Pest! Irgend so ein verwünschter Krimscher Tatar, der nach Mekka gepilgert war, hat sie eingeschleppt. Und gerade in diesen Bretterbuden, in diesem Schmutz war sie nicht auszurotten. Da brannten die Behörden einfach die ganze Geschichte nieder.“

„Und die Pest hat aufgehört?“

„Natürlich hat sie aufgehört! Das fehlte uns noch! Zu diesem angeblich drohenden Ausfuhrverbot auch noch Pest und Quarantäne! Zehn Prozent Wechseldiskont dazu . . . es ist schon ein Genuss, jetzt in Russland Geschäfte zu machen.“

„Dieser Tage haben wir hier, damit gar nichts fehlt, auch wieder Judenkrawalle“ gehabt,“ fuhr er fort, und wies auf die kleinen Häuser zu beiden Seiten der Strasse. Hier lebten zum grössten Teil Trödeljuden in dürftigen unsauberen Lädchen und Stübchen. Kein Stück Glas war da ganz geblieben! Nicht nur die Scheiben, selbst die Holzrahmen hatten die Steinwürfe der betrunkenen Barfüssler und Hafenstrolche zertrümmert. Nur wo hinter dem Fensterkreuz ein Kruzifix, oder Muttergottesbild stand — als Zeichen, dass da Christen wohnten —, hatte das Zerstörungswerk eine Strassennummer übersprungen, um bei der nächsten mit doppeltem Glaubenseifer einzusetzen. Vereinzelte weisse Flöckchen schwebten in der Luft oder spielten am Boden: die Überreste der aufgeschnittenen Federbetten. An einer, Stelle waren auf dem Pflaster tellergrosse rostbraune Flecken. Die Menschen gingen achtlos über das eingetrocknete Blut hinweg oder standen plaudernd an den schon wieder geöffneten Magazinen. Überhaupt hatte die Gasse sonst ganz ihr gewohntes Aussehen.

„Sind viele Menschen verletzt worden?“ frug Lisa bang.

Nicolai zuckte die Achseln. Er wusste es nicht. Und es interessierte ihn wohl auch wenig. „Die Tumulte dauern noch fort!“ sagte er. „Es heisst, der Gouverneur will schiessen lassen, wenn es nicht bald Ruhe gibt.“

Zwei Kosaken ritten langsam die Puschkinstrasse herauf, bärtige finstere Kerle auf kleinen zottigen Pferden, in der Rechten die Nagaika, die gefürchtete schwere Peitsche schwingend. Wo ihre Hufe auf dem Granit klapperten, wich alles auseinander. Lisa schaute nur flüchtig zu ihnen hin. Sie, das Kind Odessas, kannte ja seit ihrer frühesten Jugend das Bild dieser stetig wie Naturereignisse sich wiederholenden Judenverfolgungen in Südrussland. Man gewöhnte sich daran. Man betrachtete es schliesslich als unvermeidlich. Früher war es noch schlimmer gewesen. Sie hatte oft von ihrem Vater gehört, wie damals die europäischen Grosskaufleute sich und ihr ganzes Personal mit Jagdgewehren und Revolvern bewaffnet und ihre Gewölbe in verschanzte Bollwerke verwandelt hatten, wenn die Behörde, wie so oft, tatenlos dem Treiben der Plünderer zusah.

Jetzt waren solche Riesenkrawalle seltener. Man konnte ruhig durch die Stadt sahren. Lisa und ihr Gatte stiegen ein, nachdem das Gepäck besorgt war, und der Wagen rollte eilends dahin. Sie sassen stumm nebeneinander. Das scharfe Rasseln der Räder erschwerte ohnedies. Die Unterhaltung und dann — wovon sprechen? Sie hatte ihrem Mann so wenig — oder so viel zu sagen.

Einmal begann sie: „Wie geht es meinem Vater? Und meiner Schwester? Hast du sie in letzter Zeit vielleicht gesehen?“

Nicolai nickte nur.’’ „Es ist dort soweit alles in Ordnung!“ Er ging nicht weiter auf dies Thema ein. Sein Schwiegervater, dieser herabgekommene Ehrenbürger und ehemalige Kaufmann erster Gilde — jetzt ein fadenscheinig gekleidetes, verbittertes, meist in schlechter Gesellschaft sich herumtreibendes Männchen, war ihm nicht nur gesellschaftlich und geschäftlich, sondern auch ästhetisch ein wahrer Greuel. Er hasste alles, was verwahrlost und deklassiert war — dann schon lieber eine Kugel vor den Kopf, war seine innerste Meinung — und er rechnete es sich hoch an, dass er sich seiner Frau gegenüber nie, auch nicht mit einem Worte, über ihre Familie beklagte, obwohl sie täglich merken musste, wie lästig ihm die fiel, da der Alte zum grössten Teil aus seiner Tasche lebte.

Lisa kämpfte inzwischen mit sich, ob sie nicht ihren Mann noch eingehender nach dem Zustand seines Vaters fragen sollte. Eigentlich hätte es sich gehört. Aber sie brachte es nicht fertig — nicht aus Mangel an Teilnahme für den alten Herrn, den sie, wenn sie ihn auch ein wenig fürchtete, doch gern hatte und der immer in seiner stillen Art gut und freundlich zu ihr gewesen war, sondern aus Angst vor Nicolais Heuchelei. Sie wusste ja: der Schmerz, den er dann sofort zur Schau trug, war nicht echt, war eine der vielen Posen, in denen er sich spiegelte. Er war ja von Natur nicht böse — eher ein gutmütiger weicher Mensch, der sich in allem nachgab und auch anderen alles verzieh — aber er brannte doch seit Jahren darauf, endlich einmal, als Mann zu Mitte der Dreissig, unabhängig zu werden und frei von dem schweren Druck des väterlichen Willens zu disponieren und zu spekulieren.

Und darin hatte er eine glückliche Hand! Meistens gelang, was er angriff, wenn es auch noch so leichtsinnig begonnen war. Zufall! sagten die Bedächtigen und zuckten die Achseln. Gewiss! Er hatte das Schicksal auf seiner Seite. Vielleicht gerade weil er sich immer den Anschein gab, als mache er sich nichts daraus. Waren die anderen Kaufleute ernst und geängstigt, so behandelte er das Geschäft von oben herab, in einer ritterlich sorglosen Art, eine geborene Spielernatur und ein Genussmensch. Das war es, was ihn von all den übrigen unterschied. Die mühten sich ab . . . die waren einseitig, schwerfällig . . . rasch verbraucht . . . er, obwohl er ihren Gesichtskreis und ihren Beruf teilte, obwohl der Erfolg ihm bisher auch bei gewagten Unternehmungen Recht gegeben hatte, stand über diesen Dingen. Er hatte Interessen, die jenseits von Weizen und Petroleum, von Rohzucker und Rindshäuten lagen . . . er verstand die Feinheiten des Lebens, seine letzten unnützen und reizenden Blüten und Spitzen, er verstand das vornehme Nichtstun in dieser keuchenden Welt der Arbeit und des Geldverdienens, er verstand die Frauen, die einsam in dieser Welt leben mussten. Er war ihnen innerlich wesensverwandt. Das war es, was ihn auch seiner eigenen Frau gegen ihren Willen unwiderstehlich immer wieder nahe brachte. Sie konnte sich seinem Einfluss nicht entziehen. Sie wusste: sie kannte ihn, und glaubte und hoffte es doch selbst nicht, und war im Unglück glücklich unter dem Zwang der Vorstellung, dass er doch noch für sie ein Rätsel und in seinem Letzten und Besten etwas anderes sein müsse, als was er ihr erschien: ein sonniger Egoist.

Lisa Sandbauer schreckte aus ihren Gedanken auf. Der Wagen hielt auf einem freien Platz. Der Tatar und der Grossrusse auf dem Bock stritten sich mit einem Stadtsoldaten, der sie nicht weiterfahren lassen wollte. Nicolai hörte, sich über den Kutschenschlag beugend, ärgerlich zu.

„Nun hab’ ich eigens den Umweg durch die innere Stadt machen lassen,“ sagte er zu seiner Frau. „Und nun war gerade hier wieder vor einer Viertelstunde ein Krawall. Sieh nur diese unglaublichen Kerle an.“

An ein paar Branntweinschenken rechts und links waren Fenster und Türen eingeschlagen. Einige zertrümmerte Fässchen lagen davor in einer gewaltigen wasserhellen Pfütze von Kornschnaps, auf deren Spiegel Massen von Daunenfedern schwammen, wie sie auch sonst überall in der Luft stäubten. Zwei oder drei zerlumpte Gestalten waren daneben unbeweglich wie tot ausgestreckt. Doch sah man an ihnen keine Verletzung. Sie waren nur sinnlos berauscht. Hunderte von ähnlichen verwilderten Kerlen lungerten scheu und finster in der Entfernung an den Strassenecken, bereit, beim ersten Anreiten der paar Kosaken, die in der Mitte des Platzes hielten, weiter zu flüchten.

Nicolai warf seine ausgerauchte Zigarette zum Wagen hinaus. „Der Strolch dort trägt doch wahrhaftig eine rote Fahne! Es wird immer schöner. Was das wieder für ein Teich von Branntwein ist, den die Kerle haben aus den Fässern laufen lassen! Und diese beinahe zu Tod betrunkenen Schwarzarbeiter daneben . . . ! Eine nette Gesellschaft! Uns gehen sie aus dem Hafen mitten in der Arbeit weg . . . lassen das Schiff halbgeladen und die Getreidesäcke am Kai liegen . . . und hier treiben sie Unfug! . . . Früher hat ein Gouverneur einmal an einem Tag an die Schwefelbande siebzigtausend Rutenhiebe austeilen lassen . . . das half . . .“

„Wir wollen lieber umkehren!“ bat Lisa. Ihr Mann war nichts weniger als ängstlich von Natur und so war auch sie es nicht, zumal sie ja diese „Barfüssler“, die überall im Strassenleben Odessas hervorstechenden Hafenarbeiter und Hafenstrolche, genau kannte. Im allgemeinen galten diese wirrmähnigen und wirrbärtigen, von Kopf bis zu Fuss von Kohlenstaub geschwärzten, abenteuerlich mit Fetzen und Lumpen von alten Kohlensäcken und Schafpelzen behangenen oder im Sommer unten zwischen den Schiffen halbnackt herumlaufenden Wildlinge aller Stände und Rassen trotz ihrer von Schnapsgenuss stieren Augen und ihrer fürchterlichen, in keiner anderen Sprache erhörten Schimpfworte hier oben in der Stadt und bei Tag für unschädlich, wenn sie auch niemand in der Nacht in ihren Verstecken unter freiem Himmel, zwischen dem Hafengerümpel und in den Erdhöhlen am Meer ohne Lebensgefahr aufsuchen konnte. Anders war das jetzt, wo sie trunken und aufgeregt waren.

Aber in diesem Augenblick erhielten die Kosaken Verstärkung. Man hörte aus der Ferne den im Galopp sich nähernden kurzen Hufschlag auf dem Pflaster und ehe noch die Reiter, über den Hals der Pferde gebeugt, die Peitsche in der gesenkten Rechten, funkensprühend heranstoben, huschte das barfüssige Gesindel lautlos auseinander und verschwand auf unbegreifliche Weise in allerhand Schlupfwinkeln. Im Nu waren der Platz und die Strassen leer. Der Wagen konnte weiterfahren.

Nicolai schaute noch einmal nach rückwärts. „Da hätte nun Herr Roloff hingehört!“ sagte er unvermittelt und ironisch zwischen den Zähnen.

Roloff! Lisa entsann sich, dass der Direktor Karl Görwihl in der Eisenbahn ihr schon von dieser neuen Stütze der Firma Sandbauer und Sohn gesprochen. „Wer ist denn der Herr Roloff eigentlich?“ frug sie.

„Roba Roloff?“ Ihr Mann lachte kurz auf und zuckte die Achseln. „Darüber reden wir, wenn wir zu Hause sind! Hier ist nicht der Ort dazu! Man versteht ja auch sein eigenes Wort nicht vor diesem Rädergerassel.“

Eine Weile rollte die Equipage noch auf den harten Kopfsteinen dahin, dem einzigen Pflaster, das der Sonnenglut Odessas widerstand, wenn der Asphalt auf dem Boulevard vor Hitze breiig weich wurde und der flüssige Teer zwischen den Holzwürfeln hervorquoll. Dann wehten ihnen mächtige weisse Wolken entgegen, die Fahrt wurde plötzlich lautlos in dem tiefen Staub; man war ausserhalb der Stadt, auf dem Weg zu der Kleinen Fontäne.

Hier befand sich, wohl eine Stunde weit zwischen der Strasse und dem Schwarzen Meer ausgedehnt, das Villenviertel der internationalen Grosskaufmannschaft Odessas. Schon die Namen der Eigentümer, die an jedem Parktor standen, gaben ein Bild davon, wie sich in der Entwicklung der Stadt die einzelnen Nationen, Schicht auf Schicht übereinander gelagert, sich gegenseitig abgelöst oder auch in gemeinsamer Arbeit gefunden hatten. Besassen doch in den früheren Zeiten Odessas die einzelnen Völker ihre eigenen Strassen, die Franzosen, nach denen zwei der grössten Verkehrsadern die Namen „Richelieu“ und „de Ribas“ führten, die Schwarzwälder Deutschen, die die Schmiede- und die Wagnerstrasse innehielten, die Griechen, die Italiener, deren Einfluss eine Zeitlang so mächtig war, dass noch in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Italienisch die vornehmste Umgangssprache bildete und bis in die siebziger Jahre die Strassennamen an den Ecken italienisch angeschrieben waren. Dazu kamen dann die Polen, die Hebräer in Menge, und hinter ihnen auch die Russen, je mehr, von baltischen Baronen gebaut, die Eisenbahnen von dem Hafenplatz in das Innere des Zarenreichs vordrangen, dann die Armenier, die Engländer und Amerikaner, und wer in diesem Völkerstreit Sieger geblieben und sich Geld und Gut errungen, der baute sich, als Zeichen seiner Zugehörigkeit zur ersten Gilde, ein Landhaus an Der Grossen oder der kleinen Fontäne und ruhte da in der kühlenden Seebrise von des Tages Last und Sorgen aus. Nur einige der allerältesten und reichsten Familien verzehrten, soweit sie nicht ihren Wohnsitz ganz nach Paris verlegt hatten, ihre Renten im Ausland und erschienen höchstens einmal, im Mai oder wenn im Herbst der Weizen exportfähig wurde, in ihrer Heimat.

Auch in der Bezeichnung der einzelnen Häuser spiegelte sich deutlich erkennbar die Anzahl der Jahrzehnte wider, die der Inhaber oder seine Vorfahren schon im Lande zugebracht. Die Familien, deren Erinnerung noch dunkel an die Zeit zurückreichte, da Odessa eine halb orientalische, ungepflasterte, wasserlose und von wilden Hunden und türkischen Kamelzügen wimmelnde Stadt gewesen, gaben ihrem Sommerheim noch den veralteten tatarischen Namen „Choutor“; die Neueren, hauptsächlich die Russen, bezeichneten es wie überall sonst in Moskau, Kiew und Petersburg als „Datsche“; die Allerneuesten, die westeuropäisch Gesinnten, die Ausländer zogen das farblose, allgemein gültige „Villa“ vor.

Ein jedes dieser meist einstöckigen Gebäude lag inmitten eines weitläufigen, mit Mauern oder Eisengittern umgebenen, mit Akazien bepflanzten Gartens. Aber nirgends war ein grünes Blatt, ein Fleckchen saftiger Rasen zu erblicken. Die Sonnenhitze hatte das Laub gebräunt und verdorrt, die Halme am Boden fahl gebrannt, der Staub lag darüber. Es war ein trauriges Bild, dies mühsame halbverlorene Menschenwerk, in das von ferne schon das eigentliche Reich der südrussischen Natur, die dürstende, glutatmende, unermessliche Steppe hereinlugte.

Der Wagen machte eine Schwenkung und fuhr durch ein offenes Tor in den Sandbauerschen Garten ein. Lisa wollte gar nicht erst rechts und links sehen. Die toten Farben der verschmachtenden Büsche und Wiesen stimmten sie doch nur traurig. Aber plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. Um sie war frisches lichtes Grün. Das Strauchwerk schimmerte taubeperlt, der Rasen dampfte satt, dichtsprossend vor Feuchtigkeit; auf ihm leuchtete ein buntes Teppichbeet mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens.

„Nun — was sagst du zu der Überraschung?“ sprach Nicolai triumphierend. „Ich weiss, wie schrecklich dir dieses Wüstenartige bei uns im Sommer ist. Da habe ich mit der Stadt ein Abkommen wegen des Wassers getroffen und jeden Tag begiessen und sprengen lassen.“

„Aber das wird ja Hunderte von Rubeln kosten!“

„Sogar ein paar Tausend!“ Er machte eine lässige Handbewegung, um den Gedanken an Geld abzuwehren. „Wenn du nur Freude daran hast . . .“

„Und wie!“ Ihre Augen waren feucht. Sie war ganz gerührt und reichte ihrem Mann dankbar die Hand. Aber bei der Art, wie er sie nahm und zerstreut lächelnd an die Lippen führte, durchzuckte sie sofort wieder der Gedanke: Es ist ja doch nur sein schlechtes Gewissen, keine Liebe! Morgen abend spätestens fährt er wieder zu Madame Yannopoulo . . .

Er half ihr aus dem Wagen. Sie traten in das Innere des Hauses, das ganz dämmerig war mit seinen gegen die Sonne herabgelassenen Jalousieen und doch erstickend heiss. Die Dienerschaft drängte sich unter tiefen russischen Verbeugungen zum Handkuss. Sie sagte jedem ein paar freundliche Worte, und währenddessen frug Nicolai: „Wirst du dich noch schlafen legen?“

„Nein. Ich bin gar nicht müde von der Reise.“

„Dann wäre es am besten, wir gehen noch am Vormittag zu Papa hinüber. Um die Zeit ist er am frischesten. Ich erwarte dich hier unten, etwa in einer Stunde. Soll der Wagen angespannt bleiben?“

Von Nicolais moderner, im Stil eines italienischen Landhauses gehaltenen Villa bis zu dem altfränkischen, seit mehr als fünfzig Jahren im Besitz der Familie befindlichen Choutor Sandbauer, in dem sein Vater einsam als Witwer wohnte, waren es nur ein paar Minuten. So verneinte Lisa. „Der Kutscher soll mich lieber dort abholen. Ich will von dort in die Stadt fahren und nach den Meinigen sehen.“

Langsam stieg sie die Treppe hinauf zu ihren Gemächern im oberen Stockwerk. Ihr Lieblingsraum war da das Eckzimmer in dem an die Villa angebauten Turm. Nach drei Seiten öffneten sich in ihm grosse Fenster und boten einen beinahe unbeschränkten Ausblick über Land und See. Da sass sie auch jetzt, nachdem sie sich umgekleidet und von dem Reisestaub befreit, und starrte träumend in die Ferne. Das tiefe russische Schweigen umgab sie lähmend und bannend nach dem Lärm der Fahrt, die gedrückte Stille unter dem weiten Himmel, über der weiten Ebene, in der der Charakter des Volkes sich widerspiegelt. Fuhr draussen ein Wagen vorbei, so rollte er lautlos im Staub, die Bettler und Bauern schlichen unhörbar auf ihren weichen Bastschuhen dahin, die flachsmähnigen Kinder, die seitwärts in den Büschen am Strande, nur mit einem kleinen Heiligenbild um den Hals bekleidet, badeten und spielten, flüsterten nur miteinander — kein Streit und Zank, kein Peitschenknall und Pfeifen, kein Geschrei wie im Westen — aber auch kein Lachen, kein Geträller, kein Vogelruf im Garten — eine Grabesruhe in der Mittagsglut, etwas Geheimnisvolles . . . Schwermütiges . . . etwas, das willenlos machte und, des ewig gleichen Schicksals müde, die Augenlider sinken liess . . .

Sie hob rasch den Kopf und schaute wieder um sich. Dort drüben, weit von hier, hinter den letzten Baumgruppen der Akazien, den dazwischen eingebetteten weissen Vorstadthäusern und Truppenzelten, den grossen öden Plätzen sah man ein Stück Steppe. Nur den Anfang, einen Streifen verdorrte, am Horizont flimmernde Wüste. Was dahinter lag, die Unendlichkeit der baum- und wasserlosen südrussischen Prärie, das konnte man nur ahnen. Anders auf der entgegengesetzten Seite. Da leuchtete das Blau heiss, verzehrend, förmlich lachend durch das Fenster. Oben das lichte, wolkenlose Blau der Himmelswölbung, darunter, bis zu den Grenzen des menschlichen Auges ausgebreitet, dunkler, beinahe stahlfarben, der Spiegel des Schwarzen Meeres. Schneeweisse Gischtkämme blitzten hundertfach darin auf, weisse Fischersegel glitten darauf hin, weisse Möwen flatterten .um sie her. Einige schnurgerade glasgrüne Bahnen zogen sich durch die Wellen, schwere graue Rauchfahnen hingen darüber, und ganz am Horizont, am Ende des Kielwasserstreifens erkannte man die schon winzig klein gewordenen, wie qualmende Nussschalen davonschwimmenden Dampfer. Die fuhren jetzt wohl nach Konstantinopel . . . übermorgen früh waren sie dort und warfen im Goldenen Horn vor dem Yldizkiosk Anker, oder hinüber nach der Krim und landeten morgen vormittag schon an ihren Lorbeer- und Orangenhainen, ihren Moscheen und Tatarendörfern, oder weiter nach dem Kaukasus . . . jedesmal, wenn Lisa ein Schiff den Hafen verlassen sah, bekam ihre Seele die Sehnsucht . . . den Drang: fort von hier! . . . Es war doch sicher nicht das Rechte, wie man hier lebte . . . es musste einen Ort geben, wo das besser war . . . man wusste nur nicht den Weg dahin . . . und lebte weiter . . . und verlernte das Hoffen . . .

Das dritte Fenster ging auf ihren Garten hinaus. Wie eine kleine Oase, frischbewässert und mit staubfrei abgeduschten Bäumen, lag er würzig grün zwischen der trostlosen Dürre der Parks zur Rechten und zur Linken. Eben besserte man das bunte Teppichbeet aus, dessen eine Ecke der Diener beim Hereintragen der Koffer beschädigt. Ein paar stämmige Kerle knieten da unter Aufsicht des deutschen Gärtners und steckten mit ihren plumpen Fingern behutsam die winzigen Pflänzchen in die Erde, ein unscheinbares Bild, in dem sich doch der hochfahrende Reichtum des Hauses Sandbauer offenbarte. Und Lisa Sandbauer schaute ihnen zu und dachte: Warum habe ich das alles und es macht mir doch keine Freude? . . . Und warum bin ich selbst da, ohne dass jemand Freude an mir hat? . . .

Es war Zeit, ihren Mann aufzusuchen. Sie traf ihn unten in seinem Rauchzimmer, ein Bündel Depeschen und kaufmännische Briefe vor sich, die er, die Papyros im Munde, mit seinem gewohnten lässigen Gesichtsausdruck, aber doch nervös durchblätterte. Er war etwas erregt und verhehlte das auch gar nicht.

„Das kann jetzt wieder eine angenehme Begegnung zwischen Papa und mir geben!“ sagte er, auf die Uhr sehend und sich erhebend. „Nimm es nicht übel, wenn es gerade heute, am Tage deiner Ankunft, zu einem Krach kommt. Das Geschäft bringt es so mit sich.“

„Könnt ihr euch denn immer noch nicht im Geschäft vertragen?“

„Weniger als je.“

„Aber warum denn nicht?“

Nicolai ging ungeduldig, mit unruhigen Schritten, in seinem prunkvoll in kaukasischem Geschmack eingerichteten Zimmer auf und ab. „Sehr einfach: Er ist alt und ich bin jung. Er ist vorsichtig — obwohl er als junger Mensch ein tollkühner Spekulant gewesen sein soll — ich bin . . . je nun, meine Gegner nennen es leichtsinnig — aber jedenfalls: der Erfolg gibt mir recht. Er sieht, weil er krank ist, alles schwarz in schwarz, ich denke, weil ich gesund bin: Es wird schon nicht so schlimm werden! Er glaubt steif und fest an das drohende Getreideausfuhrverbot und will keine Ankäufe wagen, ich glaube absolut nicht daran und meine, jetzt gerade muss man auf Kosten der Ängstlichen ein grosses Geschäft riskieren . . .

„Eines von beiden muss geschehen!“ fuhr er fort. „Entweder was Papa will oder was ich will. Nun kann er ja schon seit Monaten nicht mehr in das Kontor und unter die Leute. Im Kontor ist alles von ihm zu stummem Gehorsam gegen ihn oder mich erzogen. Der einzige, der sich einmal ein Wort erlaubt, ist Sruhl Freidkind, der Buchhalter. Aber erstens versteht der nichts vom Weizen und zweitens will er ja weg. Er träumt ja nur davon, alles Weltliche hinter sich zu lassen und da irgendwo in seinem galizischen Heimatnest zwischen Przemysl und Tarnopol Talmudgelehrter zu werden. Mit einem Wort: ich hätte freie Bahn und könnte disponieren wie ich wollte, wenn — ja wenn eben Herr Roloff nicht wäre!“

Da klang wieder der Name, den Lisa heute morgen im Eisenbahnwagen zuerst gehört. Sie schaute ihren Gatten erwartungsvoll an. Aber der schwieg. Er wollte erst noch einmal gefragt werden, ehe er seinem Herzen Luft machte, und so tat sie ihm den Gefallen: „Du wolltest mir doch erzählen, wer dieser Herr Roloff ist.“

„Ja — wenn ich es nur selbst wüsste!“ setzte Nicolai. „Oder wenn es sonst jemand wüsste!“ setzte er hinzu, über ihr Erstaunen die Achseln zuckend. „Aber frage doch, wen du willst, in Odessa. Du bekommst keine Antwort.“

Lisa fiel das eigene, zurückhaltende Lächeln ein, mit dem auch Karl Görwihl in der Eisenbahn über Roloff, mit dem er doch befreundet sein wollte, mehr geschwiegen als geredet hatte. „Aber man kennt doch seinen Namen und wo er her ist,“ sagte sie.

„Er nennt sich Roba Roloff. Wahrscheinlich weil ihm das gerade so gefällt. Wie er vielleicht noch vor einem Jahr geheissen hat, kann man nicht erraten!“

„Aber er hat doch seinen Pass!“

„Einen Pass kann man sich leicht in Russland verschaffen, wenn man es geschickt anfängt.“

„Aber man sieht ihn doch! Man spricht täglich mit ihm!“

„Man sieht ihn und es ist nichts Auffälliges an ihm. Man spricht mit ihm und er antwortet in fliessendem Russisch und in Deutsch mit baltischem Anklang — was meiner Überzeugung nach seine Muttersprache ist —, auch in Französisch oder Englisch. Er ist offenbar ein gebildeter Mann — hat viel gesehen und erlebt. Das wirst du auch an seinem Benehmen merken!“

„Ja — aber von wo ist er denn zu euch gekommen? Daraus liesse sich doch ermitteln . . .“

Nicolai lachte und schaute, die Papyros im Munde, die Hände in den Hosentaschen, tiefsinnig hinaus in den Garten. „Das ist ja gerade das Unerhörte. Ich kenne nur einen Platz auf der Welt, der — ich möchte sagen, das Nichts ist . . . in dem man untertaucht und alles abstreift, was man bisher war . . . wo Leute aus aller Welt zusammenkommen und alle Spuren sich verwischen . . . erinnerst du dich, wie wir vorhin über den Platz fuhren . . . diese Hunderte von Barfüsslern und Schwarzarbeitern aus dem Hafen, die in die Stadt heraufgeschlichen waren, um den Juden die Branntweinfässer einzuschlagen . . .?“

„Nun ja . . . und?“

„Aus dieser Horde,“ sagte Nicolai kaltblütig, jedes Wort wägend, „aus den Schwarzarbeitern im Getreidehafen . . . aus diesem . . . diesem Hexenkessel geradezu, in dem alle nur denkbaren verkommenen und vertierten und verkrachten Existenzen zusammenfliessen — du kennst das nicht so wie wir, die mit diesem Menschenmaterial umgehen müssen — es ist wirklich eine Hölle im kleinen . . . gesetzlos . . . verwildert . . . ohne Ordnung . . . ohne Hoffnung . . . kurz, aus dieser Umgebung hat sich Papa Herrn Roba Roloff herausgeholt und zu einer Art von Vertrauensmann und Berater, beinahe in seiner Krankheit schon zum Stellvertreter, gemacht, der mir nun überall, wo er nur kann, entgegenarbeitet . . .“

Lisa schloss unwillkürlich die Augen und schauerte ein wenig. Sie sah diese zerlumpten, kohlengeschwärzten, lautlos überall wie scheue Tiere herumstrolchenden Gestalten vor sich. Wie ist denn das nur möglich?“ frug sie halblaut. „Ein solcher Mensch . . .“

„Ich will ihm nicht Unrecht tun!“ sagte Nicolai . . . „Ein richtiger abgerissener Barfüssler, wie du dir das nun wohl vorstellst, war er nicht. Er trug Schaftstiefel und eine Lammfellmütze und leidliche Kleider und wusch sich, nur eben statt in einer Waschschüssel direkt im Meer. Sie hatten ein Artêl, eine Arbeitsgenossenschaft . . . er, ein paar Juden, ein Haufen Tataren, ein tscherkessischer Edelmann, einige russische Bauern, ein verkommener polnischer Student . . . so trugen sie gemeinsam Getreidesäcke aufs Schiff . . .“

„Und da sah ihn Papa?“

„Papa hatte sich im Hafen Abends verspätet — vor sieben Monaten — wenige Tage, nachdem du ins Ausland gefahren warst . . . und fand keine Droschke und ging zu Fuss zurück. Da, an einer einsamen Stelle, überfallen ihn ein paar Kerle — wollen ihm Uhr und Geld wegreissen — ihn womöglich niederschlagen und im Schnee liegen lassen. Er schreit um Hilfe und ein Mann, der da unbemerkt gestanden und sich das gefrorene Meer im Mondschein angesehen hat, springt dazwischen und boxt kunstgerecht mit seiner Faust den Strolchen derart rechts und links an die Ohren, dass sie übereinander fliegen und machen, dass sie fortkommen. Das war Roba Roloff. Papa dankt natürlich seinem Retter und fragt, was er für ihn tun könne, und der sagt: ,Geben Sie mir kein Geld! Geben Sie mir eine kleine Anstellung. Ich verlade seit Wochen bei Ihnen Getreide! Und ich verstehe etwas von Getreide!‘ Und das ist wahr. Seine Weizenkenntnis ist gross! Nicht nur wie bei einem Kaufmann, sondern auch wie bei einem geschulten Landwirt — und es ist auch Instinkt da — oder natürliche Begabung! Seit ihn Papa, zuerst in einem ganz untergeordneten Posten, in das Geschäft genommen, hat er ein ganz anderes Leben in unsere Aufkäufer in der Provinz gebracht. Sie fürchten ihn wie den Teufel . . . die Juden . . . die Gutsbesitzer . . . die Konkurrenz . . . alle! Er wäre höchst brauchbar, wenn er sich nicht eben ganz als Papas gefügiges Werkzeug betrachtete, das alles das ausführt, was er selbst wegen seines Leidens nicht mehr kann, und so mir Licht und Luft nimmt. Also so liegen die Dinge zwischen uns, Lisinka, und nun weisst du, was es für eine Bewandtnis mit der Persönlichkeit hat, die sich Robert Roloff nennt.“

„Kann man ihn denn nicht fragen, wer er eigentlich ist?“

Nicolai Sandbauer nahm seinen Tropenhelm und weissen Sonnenschirm. „Versuche es doch! Er wird dir antworten, was er allen zu antworten pflegt: ,Wer unter den Schwarzarbeitern war, hat ein Kreuz hinter sein früheres Leben gesetzt. Das ist begraben. Also lassen wir es ruhen!‘ . . . Und nun komm! Wir wollen zu Papa gehen!“

Gib mir die Hand

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