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Noch einmal kam Lisa auf der Rückfahrt in das Getümmel der Judenverfolgungen hinein. Ein Haufen Kerle, an der Spitze ein kleiner, zerlumpter und bebrillter Mensch, der eine rote Fahne trug, rannte lautlos auf blossen Sohlen über das heisse Pflaster und schleuderte dabei rechts und links Steine in die Fenster. An denen war niemand sichtbar. Die Strasse lag lautlos in der Mittagsglut. Man hörte nur das Klirren des zerspringenden Glases. Dann fern ein schriller Pfiff. Von einem berittenen Stadtsoldaten geführt, flitzte im Galopp ein Kosakentrupp heran, das Gesindel zerstob wie ein Spuk am lichten Tag, Abdul, der Tatar, gab, bleich vor Schrecken, mit aufmunternden Kehltönen den Orlofftrabern die Köpfe frei, und gleich darauf war um den Wagen wieder alles still, nichts als Staub, Sonne und die verwelkten Bäume des Wegs zur Kleinen Fontäne.

Lisa hatte nicht einmal Angst empfunden. So leicht vergriff sich diese Horde an einer „Barinja“, einer Herrin, doch nicht. Und überhaupt . . . seit sie wieder in Odessa war, war ihr Wollen und Denken gelähmt. Sie war teilnahmlos gegenüber den Eindrücken der Aussenwelt. Träumerisch müde, mit halbgeschlossenen Augen sass sie da, bis die Equipage wieder vor der Villa Sandbauer hielt.

Nun war sie endlich in ihrem Haus allein und stieg die halbdunklen Treppen hinauf, an ihren eigenen Räumen vorbei, zu dem seit zwei Jahren kahl und leer daliegenden Kinderzimmer. Dahin konnte sie nicht mit Nicolai gehen. Die Gegenwart ihres Mannes wäre ihr dabei wie eine Entheiligung erschienen. Das war für sie, wie für andere der Weg zur Kirche. Man will allein sein mit seinem Gott und mit seinem Schmerz. Dieser Schmerz war die Jahre hindurch unverändert stark und tief geblieben — er war mit ihr zu einem Teil ihres Selbst verwachsen, ohne das sie sich ihr Dasein gar nicht mehr denken konnte. Wenn sie jetzt in die Vergangenheit zurückblickte, dann war es ihr, als sei sie erst Mensch geworden, da sie Mutter wurde, und als habe sie das Leben erst begriffen, da der Tod an sie herantrat.

In dem Zimmer lehnten noch die Puppen mit grossen erstaunten Augen in den Ecken, am Boden stand der dreiräderige Karren mit der kleinen Sandschaufel, das Bettchen war aufgeschlagen — nichts hatte sich geändert seit jenem Tag, da man den kleinen Sarg die Treppe hinabgetragen und die Gatten oben einer den anderen gehalten und sich unter stummen Tränen noch einmal zu einem langen Kuss gefunden hatten, in dem sie sich eins fühlten in ihrem Leid und ihrem Drang nach Trost. Aber das war nicht von Bestand gewesen. Nicolai lebte rasch. Ehe noch draussen auf dem Kirchhof am Rand der Steppe die Kränze über dem kleinen Grab vergilbten, war er schon wieder der alte, und sie musste sich einsam in ihr Schicksal finden: zwei Menschen liebte sie — ihr Kind und ihren Mann. Das eine hatte sie durch den Tod, den anderen durch das Leben verloren. Nun war nichts mehr da. Die Tage kamen und gingen, und sie wartete und wusste doch selbst nicht auf was.

Sie weinte nicht. Dazu war schon zu lange Zeit verstrichen. Sie bemerkte manchmal zu ihrem eigenen quälenden Bangen, dass sie bereits Mühe hatte, sich die Gestalt des Kindes, sein blasses Gesichtchen so greifbar deutlich in der Erinnerung vorzustellen, wie es früher vor ihr gestanden. Mit trockenen Augen schloss sie langsam, vorsichtig, als gelte es, einen Schlafenden nicht zu erwecken, die Türe und schritt wieder hinab in die unteren Räume des Hauses. Dort war für zwei zum Frühstück gedeckt. Aber Nicolai befand sich ja in der Stadt und sie selbst setzte sich gar nicht erst zu Tisch. Die Einsamkeit, die Stille, das Halbdunkel in der ganzen Villa beklemmten sie. Sie vermochte diese schwüle dumpfe Luft, diesen aus allen Möbeln und Teppichen dringenden Kampfergeruch, durch den trotzdem massenhaft die Motten schwirrten, nicht zu ertragen.

Im Garten, in den sie hinaustrat, glühte die Sonne freilich noch stärker. Aber vom Meer wehte doch ein leiser Hauch herüber. Man wusste die Weite um sich. Man konnte atmen. Ihr Lieblingsplätzchen, eine von Akaziengebüsch gebildete Laube am Abfall des Parks zur See, war zudem eben erst von dem aufmerksamen Gärtner mit Wasser besprengt. Da war es schattig und verhältnismässig kühl. Da liess es sich gut ruhen und den leisen Stimmen der Stille lauschen, die jetzt allein noch, wo sonst das grosse Mittagsschweigen die Welt beherrschte, um sie lebten — dem eintönig sich wiederholenden Plätschern der Wellen am Ufer unten, dem hundertstimmigen Zirpen der Zikaden im Gras, dem schwachen Flüstern der Seebrise in Baum und Strauch.

Draussen auf dem Meer musste der Wind stärker sein. Da funkelten immer noch weisse Schaumkronen in dem stahldunklen, sonnenüberzitterten Blau, neigten sich zerschellend vornüber und leuchteten an anderer Stelle wieder auf. Ein mächtiges Dampfboot glitt durch sie hin dem Hafen zu. Mit dem Fernrohr, das in einem Lederfutteral in der Laube hing, hätte man seinen Namen lesen können. Nicolai und andere Grosskaufleute, die ganze Schiffsladungen verfrachteten, pflegten wohl des Abends oder am Sonntag von hier aus den Verkehr im Hafen, die Abfahrt- und Ankunftszeiten ihrer Lastdampfer zu überwachen. Aber sie rührte nicht die Hand, um das Instrument zu ergreifen. Es war ja ganz gleich. Es war ja alles gleich im Leben . . .

Auf dem Sand des Weges klangen feste Schritte. Ein Mann kam vom Hauseingang, wo er offenbar vergeblich um Einlass geschellt, langsam durch den Garten und blickte suchend umher, ob er nicht irgend ein dienstbares Wesen fände — ein kraftvoll gebauter, mehr als mittelgrosser Mann, eine weisse Schirmmüsse über dem tiefgebräunten, von einem kurzgeschnittenen Vollbart umrahmten Gesicht. Sie erkannte Roba Roloff.

Und zugleich sah auch er ihr helles Kleid in der Laube schimmern und grüsste, draussen in der Sonne stehen bleibend, ehrerbietig. „Verzeihen Sie, gnädige Frau, dass ich hier eindringe . . . aber der Dwornik scheint zu schlafen!“

„. . . und ich war ein halbes Jahr weg!“ sagte sie, sich erhebend, mit einem leichten Seufzer. „. . . und da Sie russische Dienstboten kennen, wissen Sie, dass ich jetzt erst wieder von Anfang an neu Ordnung schaffen muss! . . . Suchen Sie meinen Mann, Herr Roloff? . . . Er ist schon vor gut zwei Stunden ins Geschäft gefahren . . .“

„Ich komme vom Kontor, gnädige Frau. Dort ist Herr Sandbauer nicht.“

Sie zuckte unmerklich zusammen. Der vor ihr bewahrte seine unbewegliche Miene. Und doch wusste sie genau, dass er in diesem Augenblick dasselbe dachte wie sie: der Chef der Firma war zu Madame Yannopoulo geeilt, um dort seinen Zorn über den Auftritt mit dem Vater auszuschütten und sich beruhigen zu lassen.

Aber sie behielt äusserlich ihre Gleichgültigkeit bei. „Mein Mann wird jedenfalls noch hinkommen! Dann können Sie ja mit ihm sprechen!“

„Aber nicht allein!“ sagte Roba Roloff mit seiner tiefen Stimme. „Und es hätte mir viel daran gelegen!“

Er verstummte und zögerte, wie um sich zu verabschieden. Und sie war im Begriff, ihn durch eine Neigung des Kopfes wieder gehen zu heissen. Das war gegenüber einem Angestellten des Hauses, der in Geschäften kam, das Natürliche. Aber dann fiel ihr ein: gerade diesem Mann, der eine so seltsame Vergangenheit in den Tiefen des Lebens hinter sich hatte, wollte sie keinen Hochmut zeigen. Ihn konnte kränken, was bei einem anderen selbstverständlich war, und so sagte sie: „Aber Sie stehen da in der Sonne! Wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen?“

Roloff setzte sich mit einer stummen Verbeugung ziemlich weit von ihr auf die Ecke eines Gartenstuhls und sah sie ruhig, fragend an. Offenbar erwartete er, dass sie irgend einen Auftrag für ihn habe. Sie fühlte plötzlich eine leichte Verlegenheit, und auch das schien er zu merken. Denn er begann nun seinerseits rasch und bestimmt.

„Gnädige Frau . . . da Sie ja vorhin bei unserem Gespräch dabei waren . . . ich weiss, meine Ernennung zum Prokuristen — überhaupt meine Anwesenheit in der Firma ist Ihrem Herrn Gemahl unangenehm. Ich möchte ihn nun gerne versichern, dass mir nichts ferner liegt, als mich da eindrängen und etwa dauernd festfetzen zu wollen. Ich rechne durchaus damit, sofort entlassen zu werden, wenn Ihr Herr Gemahl einmal in der Lage ist, völlig selbständig zu disponieren. Ich finde ja auch Stellungen genug. Man ist hier in der Branche auf mich aufmerksam geworden. Wenn ich nicht jetzt schon ausscheide — angesichts der Abneigung Ihres Herrn Gemahls — so tue ich das nur wegen des alten Herrn Sandbauer. Ich kann nicht zur Konkurrenz übergehen und gegen einen Mann kämpfen, der mein Wohltäter ist . . . der mich gewissermassen an der Hand gefasst und mir geholfen hat, ein neues Leben zu beginnen. Deswegen allein bleibe ich vorderhand und habe ich auch heute die Prokura angenommen . . . Das hätte ich gerne Ihrem Herrn Gemahl unter vier Augen erklärt.“

„Vielleicht schreiben Sie es ihm.“ Lisa sagte das, nur um etwas zu sagen. Die merkwürdige Beklommenheit, die sie sonst gar nicht kannte, wollte nicht von ihr weichen.

„Dazu ist es zu spät! Die Kontorpause, während der ich herausfuhr, ist gleich um.“

Und mit dem halben Lächeln, das sie schon kannte und das sein Gesicht so eigen erhellte, setzte er hinzu: „Ich habe ohnedies schon die Unterrichtsstunde versäumt, die ich sonst um diese Zeit bei unserem Buchhalter Sruhl Freidkind nehme.“

Es wunderte sie, dass dieser grosse starke Mann noch etwas lernen solle, und sie frug: „Weiss denn Herr Freidkind etwas, was Sie nicht wissen?“

Er lachte: „Ich habe nur praktische Kenntnisse, gnädige Frau! Doppelte Buchführung und all das versteht vorläufig jeder Lehrling besser als ich. Und ich will doch ein ganz geschulter Kaufmann werden.“

„Und dem opfern Sie auch noch Ihre Mittagsruhe?“

„Hauptsächlich den Sonntag. Da kommt Freidkind zu mir hinaus nach Hadschi-Bey.“

„Da draussen wohnen Sie . . . in der Steppe?“

Er bejahte. „Da hab’ ich mein Pferd und meine Flinten und meine Hunde und ein Boot und Angelgerät für den See. Da ist es schön.“

„Aber es ist doch sonst fast niemand dort!“

„Ja — eben, gnädige Frau.“

Dabei lächelte er wieder heiter, wie jemand, der sich im Besitz eines Geheimnisses vor anderen weiss — der Kunst, ohne Menschen auszukommen.

Sie frug weiter: „Da haben Sie hier wohl wenig Verkehr in Odessa?“

„Wie sollte man mit mir verkehren, gnädige Frau?“ sagte er ganz unbefangen. Man weiss doch, von wo ich komme. Nur Herr Görwihl . . . Sie kennen ihn?. . .“

„Den Vertreter des grossen englischen Hauses?“

„Ja. Mit dem und seiner Frau bin ich manchmal zusammen.“

Er wollte sich bei diesen Worten erheben und griff nach seiner Mütze. Ihr Blick fiel wieder auf den ausgewaschenen Blutflecken über dem Schirmrand.

„Sie haben uns etwas verschwiegen!“ sagte sie schnell und fühlte, wie sich ihre Wangen leicht röteten. „Mein Vater hat mir jetzt erzählt, dass Sie heute vormittag einem Menschen das Leben gerettet haben.“

„Ja — sie hätten den armen Hebräer wahrscheinlich totgeschlagen!“ bestätigte Roba Roloff so gelassen, als handelte es sich um das Schicksal einer Fliege.

„Und Sie beinahe mit!“

„Nein. Mir tun die Schwarzarbeiter nichts! Wir kennen uns doch!“

Mit leisem Grauen dachte Lisa an die zerlumpten, langmähnigen und kohlenberussten Wilden, die sie heute überall auf Strassen und Plätzen bei ihrem Zerstörungswerk beobachtet hatte. Das waren Geschöpfe, die nach der allgemeinen Odessaer Anschauung nur noch halb zu den Menschen rechneten. Es dünkte ihr ganz unmöglich, dass dieser europäisch gekleidete, ihr ruhig, mit höflicher Ehrerbietung gegenübersitzende Mann je unter diesen Ausgestossenen gelebt haben könne.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin heute ein paarmal mitten darunter gekommen. Es sind furchtbare Menschen!“

„Unglückliche!“ sagte Roba Roloff.

„Aber doch auch Verbrecher!“

Er verneinte: „Sie wollen nichts Böses, sie tun es bloss — Sie wissen es nicht besser. Ihr Leben heisst Leiden. Sie tragen Getreide ins Schiff und haben selbst nichts zu essen, sie tragen Kohlen heraus und erfrieren selbst im Winter . . . sie sehen bei anderen Kleider und haben selbst nur Lumpen — sie sehen Nachts helle Fenster und gehen in leere Fässer und Strassengräben schlafen — keiner erbarmt sich ihrer. Nur der Staat, die Krone, mischt für sie Gift und macht sie durch ihren Branntwein zu tobenden Tieren und jagt sie dann durch ihre Kosaken wieder an die Arbeit, und gibt ihnen für das bisschen Geld, das sie da verdienen, wieder Branntwein und lässt dann wieder die Kosaken kommen. Erwägen Sie selbst, wie ein Mensch da werden soll. Jeden Tag lehren die Popen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!’ Ich habe noch keinen gefunden, der die Schwarzarbeiter geliebt hätte . . .“

„Und Sie selbst . . . haben Sie denn nicht einen Schrecken, wenn Sie an diese Leute zurückdenken?“

„Ich gehe jetzt noch oft in den Hafen hinunter und setze mich zu ihnen und unterhalte mich mit ihnen, gnädige Frau.“

„Aber warum denn . . .?“

„Nun — es sind doch auch Menschen. Wenn auch andere wie die hier oben!“

„Und Sie ziehen wirklich die da unten vor?“

„Ich schaue die einen an und die anderen, gnädige Frau. Man braucht ja nicht immer zu vergleichen!“

„Nun ja . . . wenn man so viel erlebt hat wie Sie . . .“ Lisa brach ab. Sie hatte noch immer eine Scheu, mit ihrem Gast über seinen Aufenthalt im Hafen zu reden.

Aber Roloff sagte ganz ruhig: „Ich habe nicht mehr gesehen als jeder andere auch, der sehen will. Eine grosse Menge aus der menschlichen Gesellschaft ausgestossener Bettler.“

„Und denen soll man, meinen Sie, weil sie Ausgestossene sind, alles verzeihen?“

„Man soll hier oben nichts verzeihen, gnädige Frau! Eher umgekehrt: die da unten denen hier!“

Lisa beugte sich etwas vor. „Und wenn man nicht richten soll, kann man diesen Ärmsten nicht wenigstens helfen — vielleicht durch Ihre Vermittlung?“

„Man kann es versuchen. Ich habe es selbst schon versucht. Aber die allermeisten sinken wohl wieder zurück. Der Drang nach oben — der muss von innen kommen.“

„Auch bei solchen Unglücklichen, die vom Leben schon so hart zugerichtet sind?“

„Gerade bei diesen!“ sagte Roloff. „Man kann am Leben zu Grunde gehen, gnädige Frau . . . aber ich glaube, man kann auch daran genesen. Ich meine . . . das Leben . . . das ist vielleicht Gist und Gegengift zugleich. Aber mir scheint eben . . .“ er erhob sich . . . „man muss dabei den Mut haben, sein eigener Arzt zu sein . . .“

Er stand — vielleicht absichtlich — so weit von ihr, i dass sie ihm nicht nach russischem Brauch die Hand reichen konnte. Er wollte ihr das wohl unauffällig ersparen. So sagte sie nur unwillkürlich wieder stockend: „Nun finden Sie wohl meinen Mann im Kontor!“

Und er erwiderte: „Hoffentlich, gnädige Frau!“ Dann verbeugte er sich tief und ging.

Seine Schritte verhalten. Lisa sass da, ohne sich zu rühren, und schaute vor sich hin. Roloffs letzte Worte klangen in ihr nach: „Man muss den Mut haben, sein eigener Arzt zu sein!‘ — Ja — wer den Mut hatte!

Ein Mann vielleicht! Einer, dem es schlecht gegangen — dem lehrte es der Kampf ums Dasein, die Not. Aber die anderen, die anscheinend Glücklichen und Sorglosen, die das Schicksal nie von aussen rauh angepackt, — nein, denen es von innen allmählich, unmerklich, tückisch das Lebensblut aus den Adern gesogen — die waren zu schwach — die waren zu müde — die trauten sich selbst zu wenig, um sich zu befreien. Die mussten erlöst werden durch einen Willen, der stärker war als sie . . .

Um sie herum zirpten die Grillen eintönig, rastlos im Grase, über dem die heisse Luft leise zitterte; unten murmelte das Meer, sein schwacher Hauch umfächelte ihre Stirne — sie schloss die Augen und begann zu träumen, ganz dem tiefen Mittagsfrieden hingegeben, der sie umfing. Eigentlich war es gar nichts Besonderes gewesen, was Roloff ihr gesagt hatte. Aber die Art, wie er es gesagt, das war das Eigene. Es war solch eine seltsame Ruhe in ihm. Die war nicht gemacht. Er merkte sie vielleicht selbst gar nicht. Sie ging von seinem Blick aus, seiner Haltung, seinem Schritt — nicht nur von seiner Sprache. Der schwere Ernst des Lebens spiegelte sich darin wieder. Er wusste, was das Leben war, besser als andere. Er kannte die grossen Kaufleute hier oben und die Bettler unten im Hafen, er kannte in seiner Landwohnung in Hadschi-Bey die Einsamkeit eines einsiedlerischen Mannes und kannte doch — ihr Gefühl sagte es ihr, so zurückhaltend er auch gewesen — von früher her die Gesellschaft der Frauen. Und was musste er früher erlebt haben, wovon er nicht sprach — vor seinem Sturz in die Tiefe und seiner Auferstehung?

Nun kam doch allmählich in der glühenden Stille die Ermüdung der langen Eisenbahnfahrt über sie. Ihre Gedanken verwirrten sich und wanderten und lösten sich zu einem Halbschlummer, in dem sie doch undeutlich das Rauschen des Meeres, das Singen der Grillen, fernes Möwengeschrei und Hundegebell in ihren Traum hinein hörte . . .

Ein seltsamer, beängstigender Traum, wie ihn die Hitze und die unbequeme Lage erzeugte. Sie war wieder klein, kaum vierzehn Jahre, und ging zu ihren Grosseltern, den längst toten, in das alte Haus an der Alexander-Perspektive. Aber das Haus war geschlossen — alle Läden zu. Es war Winter und wieder Judenverfolgung in Odessa. Die Schneeflocken und die Bettfedern stiebten durcheinander auf der Strasse, und unbekannte, furchtbar böse Männer trugen Beile in der Hand und stapften durch den Schnee auf sie zu. Sie wollte fliehen und war doch auf den Platz gebannt und rief Nicolai um Hilfe. Aber der blieb in der Ferne, da, wo er stand, und rührte sich nicht. Und die Männer kamen dicht heran, und einer lachte und sagte im Vorbeigehen: ‚Brüder . . . der tun wir nichts!‘ Und sie zogen weiter und drehten sich noch einmal um und zeigten ihre wirrbärtigen, von Kohlenstaub unkenntlichen Gesichter, in denen nur die weissen Augäpfel rollten und die weissen Zähne blitzten, und sie dachte sich aufatmend: Gott sei Dank, dass Roloff ihnen befohlen hat, mir nichts zu tun . . .

Dann hatte sie, wieder halb zur Wirklichkeit zurückkehrend, das Gefühl, es müsse jemand neben ihr in der Laube sein . . . sie glaubte ein gedämpftes, zögerndes „Barinja“ zu hören und schlug die Lider auf. Vor ihr stand der Diener und meldete: „Der Wagen ist vorgefahren!“

„Der Wagen?“ Sie war noch ganz verwirrt. „Ich habe ihn doch auf sechs Uhr bestellt.“

„Es ist sechs Uhr Abends, Barinja!“

Sie wollte es anfangs gar nicht glauben, dass sie den Nachmittag verschlafen und verträumt, aber ein Blick nach dem Strand hinunter zeigte ihr, dass die Sonne schon tief stand. Die Klippen warfen lange Schatten über den Sand und dazwischen wimmelte es jetzt überall in der Ferne von Badenden beiderlei Geschlechts und klang das Geschrei und Gelächter der Kinder.

Während sie nach dem Hause ging, um sich zurechtzumachen, wollte ihr der Alpdruck des Traumes nicht aus dem Sinn. Sie war noch ganz benommen davon, als sie in die Stadt hineinfuhr, wo sie, der Verabredung gemäss, ihren Mann im Bureau abholen sollte, bis sie sich endlich damit beruhigte, dass das doch ganz einfach eine Rückspiegelung ihrer Erlebnisse am heutigen Tag gewesen. Das war sehr naheliegend. Sie sagte es sich selbst. Aber ein unbestimmtes, quälendes Empfinden blieb.

Das Kontor der grossen Getreidefirma Sandbauer und Sohn lag im vornehmsten Stadtteil zur ebenen Erde. In dem Korridor, den Lisa flüchtig durchschritt, sassen in langer Reihe die jüdischen Makler, Papierdüten mit Weizen- und Maisproben in der Hand — im Bureau daneben beugte sich ein Dutzend Köpfe über Rechnungen und Briefe, die Korrespondentinnen — je eine junge Russin, Deutsch-Jüdin, Griechin und Engländerin — klapperten auf der Schreibmaschine oder stenographierten nach dem halblauten, in sechs Sprachen wechselnden Diktat des Disponenten —, der Lagerist lief wichtig und eilig wie immer, ganze Pakete von Getreidemustern in den abstehenden Rocktaschen, mit einer tiefen Verbeugung an der Gattin des Chefs vorüber auf die Strasse, um zurück nach den Kornschuppen zu fahren, und in seinem, durch Drahtgitter von der Aussenwelt gesonderten Verschlag kauerte Sruhl Freidkind, der endlos lange, wie ein Bogen gekrümmte Buchhalter, auf dem Drehstuhl, zählte lautlos und blickte dazwischen zuweilen zur Decke hinauf, um dann wieder mit einem drohenden: „Nü — werd’s?“ seinen Lehrling Mowsche Mitzenmacher, einen „jungen Mann“, der der Übung halber mitrechnete, zur Eile zu mahnen.

Nicolais Privatkontor hatte einen eigenen Eingang. Als Lisa klopfte, hörte sie schon drinnen seine weiche helle Stimme in eifriger Rede, dazwischen ganz kurz einmal Roloffs tiefen Bass. Die beiden Männer standen sich an einem Tisch gegenüber. Zwischen ihnen lagen aufgeschichtete Haufen von Wechseln und Schlussscheinen, Schiffskonnossementen und hektographierten Korrespondenzen. Sie waren vollkommen ruhig und geschäftsmässig. In diesen Räumen gab es nichts anderes.

Bei Lisas Eintritt machte Roloff eine tiefe Verbeugung und zog sich noch ein paar Schritte nach dem Fenster zurück. Nicolai nickte ihr zu, mit einem Blick nach dem Sofa, wo sie schon oft, wenn sie ihren Mann abholte, gesessen und gewartet hatte, bis die auf Russisch, Polnisch, Griechisch, Jüdisch-Deutsch und Englisch geführten Unterhandlungen mit Aufkäufern, Maklern, Gutsbesitzern, Reedern, Seekapitänen und Zollbeamten, die Klagen über Dürre und Heuschreckenplage, das Hin und Her des Handels zu Ende waren und nur noch zahllose Zigarettenstummel und ein dichter Rauchschleier im Zimmer an die stunden- und halbe Tage langen Debatten all dieser aufgeregten Geschäftsleute erinnerten.

Sie nahm Platz und fast zugleich rückte sich auch Nicolai einen Rohrstuhl heran und warf sich darauf. Roloff liess er vor sich stehen. Solcher Hochmut war sonst nicht seine Art. Das war Absicht. Sie kannte ihn und fühlte es. Er wollte in ihrer Gegenwart den Abstand zwischen sich und dem Angestellten, der nach dem Willen des Vaters seinen Posten einnahm, verdeutlichen.

Roloff verzog keine Miene und seine tiefe Stimme war unverändert ruhig, während er in der Verlesung eines Geschäftsbriefes aus Cherson fortfuhr. Aber Lisa fühlte wieder, wie eine leise Röte des Unmuts ihre Wangen färbte. Sie schämte sich der Kleinlichkeit ihres Gatten. Und das Bild machte sich auch ganz anders, als er es sich gedacht. Wohl stand Roloff vor ihm, aber zugleich schaute er doch auch auf ihn herab . . .

Nicolai bemerkte die Veränderung ihrer Züge, ein finsterer Schatten glitt über sein Gesicht. Er wandte sich ab und winkte in seiner lässig-herrischen Art: „Genug, Herr Roloff! Diese Sachen in Cherson gehen mich nichts mehr an. Ist sonst noch etwas?“

„Nicht dass ich wüsste, Herr Sandbauer!“

„Schön!“ Nicolai stand wieder auf. „Dann arbeiten Sie also von morgen ab selbständig mit meinem Vater weiter. Ich komme nicht mehr und mische mich in nichts. Nun schicken Sie mir bitte noch Herrn Freidkind.“

„Sehr wohl!“ Roloff ging. Die beiden Gatten tauschten einen kurzen Blick. Aber sie sprachen nichts. Gleich darauf erschien Sruhl Freidkind, der Buchhalter, auf der Schwelle, gespenstig lang und mager, in gebeugter Haltung, auf den schmalen abschüssigen Schultern ein langes hässliches Gesicht mit wunderbar schönen traurigen Augen. Sruhl Freidkind war immer traurig. Er hatte Heimweh nach dem elenden galizischen Judenstädtchen zwischen Tarnopol und Przemysl, wo sein Vater und Grossvater Rabbis und auch er schon Bocher gewesen war, um ein Schriftkundiger zu werden. Aber die Mittel hatten nicht gereicht. Er hatte in die Welt hinaus gemusst, um sein Brot zu verdienen, und ersehnte den Augenblick, wo er genug besass, um wie ein Mönch in seiner Zelle daheim in einem Stübchen zu hausen und den ganzen Tag über dem Talmud zu tüfteln und über den Erklärungen zu grübeln, die vor vielen hundert Jahren ein Kaz ben Salomo oder Gerschom ben Eliesser dazu der Judengemeinde in Worms oder Prag gegeben, und selbst, wenn auch nicht als ein Rabbi, doch als ein Talmid-Chachochim und Bal-Toire, ein gründlicher Gesekeskundiger, dazustehen.

Nicolai streifte die Asche von seiner Papyros und sagte obenhin, ohne ihn anzuschauen. „Wie vorhin schon im Kontor bekannt gemacht, führt Herr Roloff von morgen ab Prokura. Verständigen Sie sich also bitte bis auf weiteres, was Ihr Rayon betrifft, mit ihm. Ich will mich ein paar Wochen von den Geschäften erholen, ehe die Getreidekampagne beginnt.“

Der Ahasver ihm gegenüber verzog keine Miene, sondern griff nur mechanisch nach dem Ohr, ob da die Feder auch noch festsässe. Natürlich konnte er sich denken, was vorgefallen. Wenn in einer Firma der Vater à la Hausse, der Sohn à la Baisse disponierte, musste es ja einmal zu einem Krach kommen. Aber er hütete sich wohl, sich den Mund zu verbrennen. Binnen kurzem — das wusste ja jeder im Kontor — war doch Nicolai alleiniger Inhaber des Hauses. So schwieg Sruhl Freidkind und verschwand, da er sah, dass keine weiteren Befehle mehr vorlagen, mit einer ungelenken Verbeugung seines langen Leibes wieder in seinem Drahtverschlag.

„So, nun bin ich fertig!“ sagte Nicolai. Lisa stand auf. Sie war froh. Das vielgeschäftige, über Länder und Meere ausstrahlende Treiben im Kontor von Sandbauer und Sohn beengte sie heute. Sie hatte — im Gegensatz dazu — immer die trostlose Öde in dem Orchestrionmagazin ihres Vaters vor Augen, wo, nach dem Kraftwort des Gospodin Gaas, seines sibirischen Schwiegersohns, schon jede Fliege ihren Vor- und Zunamen besass. Mehr wie je fühlte sie den Unterschied zwischen dem Reichtum hier und der Armut dort, fühlte sie ihre Abhängigkeit von ihrem Mann.

Der rief auf dem Korridor mit lauter Stimme: „Mitzenmacher!“ Und Mowsche Mitzenmacher, Nicolais besonderer Günstling und Galopin, der inzwischen mit dem Buchhalter gerechnet, huschte, als habe er schon gewartet, in derselben Sekunde hinter der Türe hervor, lächelte unterwürfig und liess seine ewig unruhigen und neugierigen schwarzen Elsteraugen von dem einen zu der anderen wandern.

Nicolai sagte ihm rasch etwas, was Lisa nicht ganz verstand. Sie hörte nur, dass von Herrn Yannopoulo die Rede war, den er unbedingt heute abend noch sprechen müsse. Dann fuhr er, zu ihr gewandt, im Hinausgehen fort: „Papa wünscht nicht, dass ich die Firma weiter mit Spekulationen engagiere! Schön! Dann werde ich mir eben mit Yannopoulos Vermittlung ein Privatbureau einrichten. Da kann mir doch wenigstens nicht Herr Roloff bei jedem Schlussschein über die Schulter schauen!“

Lisa antwortete nichts. Sie verstand ja nichts von diesen Dingen. Er aber hielt das Gespräch bei Roba Roloff fest.

„Sag einmal!“ begann er finster. „Wie in aller Welt kommt denn dieser Mann auf die Kühnheit, dir einen Besuch zu machen?“

„Das hat er nicht getan. Er war draussen und suchte dich.“

„Er hat aber doch, wie er mir sagte, längere Zeit mit dir gesprochen?“

„Ja — weil ich ihn aufgefordert hatte, Platz zu nehmen.“

„Und das nahm er an?“

„Es wäre unhöflich gewesen, wenn er es abgelehnt hätte.“

„Ja — aber was ist dir denn dabei eingefallen?“ Er schaute finster auf den Schwarm von Kommis, Korrespondentinnen, Lehrlingen und Laufburschen zurück, der sich jetzt nach dem abendlichen Geschäftsschluss aus dem Hause von Sandbauer und Sohn drängte. „Wenn du alle diese Leute da, unsere Angestellten, bei dir empfangen willst, dann wird dein Salon bald eigentümlich genug aussehen.“

„Du weisst recht gut, dass Herr Roloff etwas anderes ist als diese Leute.“

„Freilich! Man hat ihn im Hafen aufgelesen!“

„Eben deswegen!“ Sie sagte das lebhafter als sie wollte. „Ich mochte gerade ihm keinen Hochmut zeigen!“ Und in Erinnerung an das Bild vorhin im Kontor fügte sie hinzu: „Schwer ist es ja wahrhaftig für uns nicht, andere von oben herab zu behandeln! Aber es zeugt kaum vom besten Geschmack!“

Nicolai blickte stumm und ärgerlich vor sich nieder. Dass er, in seiner Eitelkeit durch den Vater tödlich gekränkt, Eifersucht gegen den Mann empfand, der ihn aus seiner geschäftlichen Stellung verdrängte, das war ihr klar. Aber mit ungläubigem Staunen meinte sie zu fühlen, dass er diese Eifersucht auch auf sie übertrug. Das war ihr so neu, so unwahrscheinlich, dass sie im nächsten Augenblick schon wieder überzeugt war, sie müsse sich geirrt haben. Aber die innere Unruhe blieb . . .

Die weichlich vornehmen, spitzbärtigen Züge ihres Gatten heiterten sich sofort wieder auf, sowie er sich auf der Strasse und von allen Seiten beobachtet, von Dutzenden von Menschen gegrüsst sah. Dazu war viel zu viel halb unbewusstes Schauspielertum in ihm. Er wollte heute absichtlich an der Seite seiner schönen Frau, gleich nach deren Rückkehr von einer Reise, über die man viel geredet und gelästert, ein glückliches Familienleben zeigen und darum nicht mit ihr am ersten Abend zu Hause bleiben, sondern zunächst in einem vielbesuchten Restaurant speisen und dann auf dem abendlichen Stelldichein von ganz Odessa, auf dem Boulevard, Tee trinken.

Es sass sich da gut, auf dieser mächtigen Fläche von Asphalt, von Kiespfaden und mit Akazienreihen überdachten Rasenstreifen, hinten die geschlossene Front von Regierungspaläften, Hotels und Häusern des Hochadels, vorn der freie Blick über die Häfen und das weite Meer, zu denen vom Richelieudenkmal aus die gewaltige steinerne Freitreppe hunderte von Fuss hinabführte. Da unten, im Quarantäne- und im praktischen Hafen, im Hafen Platonowsky und Androssowsky, wurde immer noch gearbeitet — die Eisenbahnzüge rollten bis weit in das Reich der Wellen hinaus, zum Ende der Molen, längs des Maften- und Wantengewirrs und der schwarzen Riesenrümpfe der Schiffe dahin, wie kriechende Käfer zogen sich die Karrenreihen, Korn bringend und Kohle holend, mit kleinen Bauernpferden und silbergrauen, weitgehörnten Steppenrindern bespannt, in ununterbrochener Schnur bergauf und bergab; als ein schwärzliches Ameisengerimmel kribbelten Menschen in Massen um die träge qualmenden Dampferkolosse, stiegen reihenweise die Laufplanken hinauf, verschwanden in der geöffneten Unterwelt der Fahrzeuge und kamen schwerbepackt wieder zum Vorschein; im Hafenwasser, auf der anderen Seite der vertauten Frachtboote schwammen Schwärme von Gondern — aber alles war weit, tief unten, winzig, kaum erkennbar in der rasch einfallenden Dämmerung, dem Dunst der Schlote, dem Staub, durch den auch das Geräusch der Arbeit nur gedämpft, verworren heraufdrang, ein dumpfes unaufhörliches Wagenrasseln, das klagende Geheul der Lokomotiven der Lastzüge, das Krächzen und Klirren der Schiffskrane, das helle durchdringende., umsonst Feierabend gebietende Glockenläuten der Hafenkirche.

Nach Norden zu war schon halbe Nacht. Schwere trübe Wolken hingen da über dem Peressip, dem stundenweiten Fabrik- und Lagerviertel Odessas. Die brüteten auch bei Tag, bei Sonnenschein und blauem Himmel dort über den Dampfmühlen und Zuckersiedereien, den haushohen, runden weissen Petroleumtanks, den eine ganze Stadt für sich bildenden Hunderten von Getreideschuppen, unter denen auch die Firma Sandbauer und Sohn ihre ausgedehnten Grundstücke besass. Das da drüben war eine Welt für sich. Nur wer dort Geschäfte hatte, fuhr in den Staub und Lärm, die schmutzigen Proletariergassen des Peressip hinein. Mit Einbruch der Dunkelheit wurde der Aufenthalt dort und auch unten im Hafen für Gutgekleidete lebensgefährlich. Da suchte, wer konnte, sein Landhaus am Meere auf oder freute sich auf dem Boulevard der Kühlung, die von der See herüberwehte.

Es war eine wahre Völkerwanderung aus dem Inneren der Stadt nach der Strandpromenade. Um die Judentumulte sorgte man sich nicht mehr viel. Sie waren diesmal unbedeutend. Mochte es draussen, in den letzten Gassen, zu neuen Zusammenrottungen kommen, mochte es vielleicht sogar einmal fern an einer Strassenecke verdächtig wie von einer Gewehrsalve des Militärs knattern — hier auf dem Boulevard drängte sich die geputzte Welt Kopf an Kopf, die Regimentskapelle spielte, die Kellner liefen mit schäumenden Bierseideln und dampfenden Teegläsern, man lachte und plauderte, man lüftete den Hut und beobachtete sich und schob sich ununterbrochen in zwei aneinander vorbeiflutenden Menschenströmen längs des Musik-Kiosks und des Restaurants hin.

Von dem kleinen Tischchen aus, an dem sie mit ihrem Gatten sass, schaute Lisa Sandbauer gleichgültig und zerstreut in das Gewühl. Sie wusste: fast jeder kannte sie, der zehnte grüsste sie und erzählte später, er habe die schöne Madame Sandbauer und ihren Mann im besten Einvernehmen beisammen gesehen — von überall her trafen sie neugierige Blicke — sie war hier wie zur Schau gestellt — aber es war ihr alles so einerlei — diese Welt so fremd — das zog an ihr wie ein Wandelbild vorbei, hunderte und tausende modisch gekleideter, lächelnder Männer und Frauen, selten einmal ein Farbenflecken des Orients, ein roter Tarbusch, eine weisse kaukasische Lammfellmütze dazwischen — das drehte drüben, am Rondell vor dem Woronzoffschen Palais, wieder um und kam zurück und wandelte weiter bis zum Gebäude der Duma, der Stadtverwaltung, auf der anderen Seite, und kehrte abermals wieder und schwatzte und gestikulierte, und man wusste nicht, waren es dieselben Menschen, waren es andere, die da in einem ewigen Rundgang auftauchten und verschwanden. Es war für Lisa quälend, dem zuzusehen. Wozu bewegte sich dies alles um sie her — wozu diente dieser unermüdliche Kreislauf, hier und überall sonst im Leben? Man kam doch nicht vorwärts — man wurde gestossen und liess sich weiterdrängen und gelangte schliesslich immer wieder da an, von wo man ausgegangen, gerade wie all diese Leute vor ihr. Das alles hatte so gar keinen Zweck und Sinn Und dann fielen ihr wieder die Worte Roloffs ein: das Leben ist Gift und Gegengift zugleich. Man muss nur den Mut haben, sein eigener Arzt zu sein! — und sie versank noch tiefer in ihre Gedanken.

Alle Sprachen der Welt schlugen von den Lippen der Vorüberwandelnden an ihr Ohr — Russisch und Polnisch und Hebräisch-Deutsch, das Griechisch und Italienisch der Levante, Yankee-Englisch und Rumänisch, das rauhe, seit einem Jahrhundert bewahrte Schwarzwälder Alemannisch einer Gruppe deutscher Kolonisten aus der Steppe, die Weizen in Odessa verkauft hatten, und das Französisch der eleganten Welt — aber sie hörte nicht darauf. Dies babylonische Gewirr, an das sie doch von Kind auf gewöhnt war, war ihr heute lästig und widerwärtig. Sie wandte sich nach der anderen Seite und schaute auf den Hafen hinab. Der lag nun auch schon im Dunkel der hier im Süden rasch sich nahenden Nacht. Das dumpfe tiefe Pfeifen der Lokomotiven belebte ihn nach wie vor. Überall leuchteten die blauen elektrischen Lichter auf. Dazwischen glitten schnell und geheimnisvoll, scheinbar zwischen den Sternen, die bunten Mastlaternen eines einfahrenden, in der Finsternis unsichtbaren Dampfers.

Während Lisa in die Ferne blickte, erkannte sie ziemlich weit von ihr an einem Tisch ihren Vater. Der fadenscheinige kleine Ehrenbürger sah sie nicht. Er sass mit einigen Gefährten zusammen, die, wenn sie auch äusserlich nicht so verwahrlost waren wie er, doch etwas Misstrauenerweckendes an sich hatten. Sie teilten alle sein Schicksal. Sie waren auch deklassiert und lebten jetzt, man wusste nicht recht wie. Lisa kannte sie: da war der seit undenklicher Zeit pensionierte, in eine schmutzige Uniform von längst veraltetem Schnitt gekleidete alte Oberst, ein dem Trunk ergebener dicker kurzer Mann, den man allgemein wegen seiner runden Gestalt und seines kupferrot glänzenden Gesichts „Samowartschik“ — das Teekesselchen — nannte; da war der Fürst Dschidschinasi, ein Bummler und Borger ersten Ranges, mager und lang, mit einem schlitzäugigen gelben Tatarengesicht; da war Giuseppe Delfino, ein schöner Graukopf, Sprosse einer der ältesten italienischen Familien der Stadt, der sein ganzes grosses Vermögen im Englischen Klub verspielt und deswegen auch jetzt noch dort geduldet, aber an keinen grünen Tisch mehr zugelassen wurde, seitdem die Karten in seinen Händen eigentümliche Mischungen und Schicksale erlebt hatten; da war . . . Lisa schloss unwillkürlich die Augen. Ihr war, als stäke sie in einem Sumpf und sänke immer tiefer und tiefer hinab.

Dann sagte sie zu ihrem Mann: „Nächstens, wenn ich Papa draussen am Liman besuche, bringe ich ihm Kleider und Wäsche mit!“ Und Nicolai nickte nur. Er war froh, dass der alte Ehrenbürger nicht zu ihm herüberkam und Tochter und Schwiegersohn durch sein viel zu kurzes, beflecktes Jäckchen, seine ausgefransten Beinkleider und zerrissenen Lackstiefel kompromittierte. Und über Lisa kam wieder das bittere Gefühl, wie sehr sie bei ihrem Mann wegen ihrer Verwandtschaft in der Schuld sei. Und er hatte um sie gefreit zu einer Zeit, wo es schon sehr schlecht um das Orchestriongeschäft ihres Vaters stand — ohne Aussicht auf Mitgift — eher mit der Anwartschaft darauf, die Ihren bald unterstützen zu müssen, wie es jetzt tatsächlich der Fall war.

Plötzlich zuckte sie unwillkürlich zusammen. Eine Dame rauschte, einen Platz suchend, dicht an ihnen zwischen den Tischen vorüber in dem leichten wiegenden Gang der Polinnen, mit Pariser Eleganz gekleidet, eng geschnürt, obwohl ihre Gestalt an sich schon schmächtig genug in Schultern und Hüften war. Ihr schmales langes Gesicht war weiss gepudert. Ein starker Parfümhauch wehte hinter ihr drein. Sie sprach lebhaft auf Französisch mit dem zu ihrer Rechten hinkenden anatolischen Getreidespekulanten Tedesco, der, das Sandbauersche Ehepaar grüssend, zwei Finger an den Rand seines roten Fess legte. Auch ihr Begleiter links lüftete seinen Panama, ein mittelgrosser gebräunter Mann mit einem Stiernacken und aufgedrehtem schwarzem Schnurrbart.

Nicolai hatte den Gruss lässig-vertraulich, aber doch etwas verlegen erwidert. Es ärgerte ihn, dass die Yannopoulos — sei es mit oder ohne Absicht — diese Begegnung hier herbeiführten. Lisa tat, als habe sie die drei überhaupt nicht bemerkt. Das konnte er nicht anders erwarten. Aber es verstimmte ihn doch. Er sass finster da. Die schweigende Entfremdung zwischen den beiden Gatten, die schon im Kontor begonnen und den ganzen Abend über bestanden hatte, wuchs immer mehr.

Endlich gab Nicolai dem Ausdruck, indem er heftig und unvermittelt, wie um ihrer beider Gedanken von dem Schiffsmakler Traklîs Yannopoulo und seiner Frau abzulenken, sagte: „Papa wird schon sehen, was er an diesem Roloff erleben wird. Man kann ein guter Getreidekenner sein — das ist er wirklich! — und auf zehn Schritte Entfernung dem Makler erklären: das ist bester Gutsbesitzerweizen, mit Dampf gedroschen — oder: das ist kein deutscher Kolonistenweizen von einer reinen Tenne, sondern mit gemeinem russischem Bauernweizen voll Spreu und Unrat gemischt — darauf gibt es keinen Vorschuss! — All das kann man Roloff zugestehen — aber von da bis zu dem Entschluss, einem Menschen mit einer solchen Vergangenheit einfach die Geschäfte in die Hand zu legen . . .“

„Es weiss doch niemand etwas von seiner Vergangenheit!“

„Doch. Papa hat er es erzählt, gegen das Versprechen, es nie zu verraten!“

„Nun — und glaubst du, dass Papa etwa einem früheren Raubmörder Prokura geben wird?“

Nicolai zuckte die Achseln. „Ein Verbrechen hat er natürlich nicht auf dem Gewissen. Das ist klar. Aber es gibt auch Dinge, die das Gesetz nicht bestraft und die doch . . . Darum erachte ich äusserste Vorsicht für geboten. Und darum möchte ich nochmals dringend bitten, ihm nicht zum zweiten Male einen Stuhl anzubieten, wenn er unter dem Vorwand von Geschäften zu mir ins Haus kommen sollte . . .“

Sie sah ihren Gatten befremdet an. Wieder stieg der Verdacht von vorhin in ihr auf. Da winkte er ihr mit dem Kopf zu: „Lisa — da draussen sind Görwihls!“ Und sie sah in der langsam vorbeiflutenden Menge den Direktor Karl Görwihl, den fröhlichen und bierfeuchten, noch jugendlichen Hanseaten, mit dem sie heute morgen im Zug gefahren, an der Seite seiner hübschen blonden Frau.

Nicolai hatte in der vertraulich-lächelnden Art gegrüsst, mit der der Chef einer Firma den angestellten Leiter eines anderen noch viel grösseren Hauses keinen gesellschaftlichen Abstand fühlen lassen will. Aber dann verfinsterten sich auf einmal seine weichlichen Züge. Er schaute in das auf dem Tisch liegende Konzertprogramm, ohne den Kopf zu heben. Und Lisa bemerkte mit plötzlichem Herzklopfen, dass sich in der Gesellschaft der Görwihls Roloff befand, den das Gedränge ein paar Schritte von ihnen entfernt gehalten hatte. Er grüsste ehrerbietig gemessen wie immer. Sie neigte leicht, fast ohne hinzusehen, das Haupt. Gleich darauf fluteten draussen schon wieder fremde Menschen vorüber. Nun schaute sie ihm nach. Roloff begleitete wohl das ihm befreundete Ehepaar, das in der Nähe wohnte, bis zu ihrem Hause und kehrte dann in sein Steppenheim bei Hadschi-Bey, von dem er ihr erzählt, in die Einsamkeit der ausgetrockneten Salzsümpfe, zu seinen Hunden und Gewehren zurück, um morgen früh wieder unten im Peressip den Weizen prüfend durch die Finger gleiten zu lassen und kaltblütig mit den Maklern zu feilschen.

Eine Weile war es zwischen ihnen still. Dann sagte Lisa ruhig: „Das muss Roloff gemerkt haben!“

„Was denn?“

„Dass du seinen Gruss nicht hast erwidern wollen!“

„Dann mag er es merken!“

Diese Art war bei Nicolai ungewohnt. Und befremdender noch der dumpfe Groll in seiner Stimme, als er hinzusetzte: „Dieser Mensch ist gefährlich! Vergiss das nicht!“

Wem gefährlich? Dem Geschäft? Sie wollte nicht fragen. Aber sie fühlte deutlich: Nein — das meinte er nicht! Er, der sein ganzes Leben mit Frauen und für die Frauen verbracht, der allmählich selbst aus ihrem Wesen heraus zu denken und zu fühlen gelernt hatte, er hielt sich plötzlich für verpflichtet, sie zu warnen — er zeigte ihr, deren er sonst so achtlos sicher schien, dass er sich kaum um sie kümmerte, ganz unverhohlen seine Eifersucht, und weckte dadurch vielleicht erst etwas in ihr auf, an das sie selbst noch gar nicht gedacht hatte . . .

Sie war so betroffen, dass sie kein Wort der Erwiderung fand. Sie sann nur: er muss ja wissen, wer gefährlich ist und wer nicht! Aber warum sagt er es? — Und Nicolai selbst bereute sofort wieder seine übereilte, nervöser und gekränkter Eigenliebe entsprungene Äusserung, und fing an, plötzlich gesprächig und liebenswürdig werdend, von seinen geschäftlichen Plänen zu reden und dass er überzeugt sei, mit seiner Zuversicht auf das Ausbleiben des Ausfuhrverbots richtig zu liegen, und dass er daher, wenn er jetzt das Kontor nicht mehr betrete, mit voller Hoffnung auf eigene Faust weiter spekulieren werde. Um Herakles Yannopoulo und seine Frau, die mit dem jüdisch-italienisch-anatolischen Fessträger Tedesco gar nicht weit entfernt sassen, kümmerte er sich dabei geflissentlich in keiner Weise.

Eine Zeitlang hörte Lisa zu. Dann stand sie auf einmal auf und sagte ihm ruhig mitten in einen Satz hinein: „Ich möchte nach Hause!“ Und er brach betroffen ab. Er war ganz anders wie sonst. Unruhig und unsicher.

Der Tatar Abdul hielt seitwärts auf dem Boulevard mit dem Wagen. Nicolai begleitete sie hin und wollte selbst mit einsteigen. Aber sie frug: „Fährst du denn nicht gleich wieder in die Stadt zurück?“

„Ja. Ich habe noch Geschäfte.“

„Nun — dann bleibe doch gleich da! Ich will dich nicht aufhalten. Ich habe ja den Diener auf dem Bock. Es kann mir nichts passieren.“

„Gut!“ erwiderte er kühl und half ihr in den Wagen und nickte ihr, während die Pferde anzogen und Hufe und Räder eine deutliche Spur in den vor Hitze noch weichen Asphalt schnitten, noch einmal lächelnd zu. Dann ging er wieder zurück auf die Terrasse.

Nun setzte er sich wohl zu den Yannopoulos. Alle Welt sah es. Er war dazu im stande. Oder nein . . . so geschmacklos, so auffällig war er nicht. Er liess die jetzt ruhig auch nach Hause gehen, und eine Viertelstunde später war er bei ihnen und lachte mit der Polin beim summenden Samowar und rauchte mit ihrem Mann eine Papyros um die andere und redete mit ihm von Geschäften und mit ihr von tausend Dingen — er erzählte ihr ja alles! — und fühlte sich da wohl und behaglich, ganz anders wie in seinem eigenen Heim, eben weil es nicht sein Heim und ihm schon dadurch langweilig war.

Aber bei dem Gedanken daran litt Lisa Sandbauer nicht unter der überströmenden Bitterkeit und Verachtung wie sonst. Es war leichter in ihr geworden — freier. Sie empfand deutlich, wie die Macht, die ihr Mann über sie übte, im selben Masse schwand, als er ihr seine Eifersucht verraten hatte. Sie war ihm und seiner Eitelkeit doch mehr, als sie gemeint, und in diesem Bewusstsein stärkte sich ihr Selbst gegen ihn, so unnötig auch — das sagte sie sich, um es zu glauben, immer wieder während der Fahrt vor — seine Warnung vor Roba Roloff gewesen war . . .

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