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III

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So zierlich, beinahe kokett die Villa von Sandbauer junior in der Parkvorstadt der Kleinen Fontäne dalag, so grau und düster war der wenige hundert Schritte entfernte „Choutor“ seines Vaters. Seit dem Tode der alten Madame Sandbauer hatte da keine pflegende Hand mehr gewaltet. Alles war verwittert und verwildert. Der Hausherr, der zusammen mit einer entfernten ältlichen Verwandten als seiner Wirtschafterin das stille, zum grossen Teil unbenutzt abgeschlossene Gebäude bewohnte, hatte auch, als er noch gesund war, nie Sinn und Zeit für den äusseren Schmuck des Daseins gehabt. Dazu lasteten zeitlebens die Sorgen des Weizengeschäfts zu schwer auf ihm. Und nun war er krank, todkrank. Gerade heute ging es besonders schlecht. Der alte ungepflegte Diener, der dem Ehepaar öffnete, zuckte auf die Frage Nicolais nur stumm die Schultern: er wisse nicht, ob man mit dem Gospodin werde sprechen können — und schritt dann auf den Fussspitzen voraus bis zu dem Gartenzimmer, das Dominik Sandbauer, seit er das Haus nicht mehr verlassen konnte, halb als Krankengemach, halb als Privatkontor benutzte. An seiner Schwelle liess er die Besucher allein und zog sich geräuschlos zurück.

Die Türe war halboffen. Das Innere hüllten die herabgelassenen Vorhänge in Dunkel. Man konnte nur undeutlich die Gestalt des alten Kaufherrn unterscheiden, der in einem Rollstuhl sass, seine Pflegerin Marussja Sandbauer, eine verarmte stille Witwe, neben sich. Sie war stets schwarz gekleidet. Ihr Mann hatte sich vor zwanzig Jahren in der Nacht, ehe der Konkurs über seine Getreidefirma in Cherson verhängt und er nach russischem Gesetz in Personalhaft genommen werden sollte, erschossen.

Sie war jetzt beinahe die einzige Gesellschaft des Kranken. Ihr erzählte er stundenlang, wenn, wie in diesem Augenblick, die Anfänge greisenhaften Träumens über ihn kamen . . . oder vielmehr seine Gedanken ziellos in die Erinnerung zurückwanderten, zu den Merksteinen, nach denen er sein Leben zählte, den grossen Krisen in der Kornausfuhr, den Jahren der Trockenheit, der Heuschreckennot, der Kriege . . .

Nichts rührte sich. Nur die fast erloschene Stimme Dominik Sandbauers murmelte durch den dämmernden Raum. „. . . Ich war damals noch ein junger Bursch, Marussja . . . ich hatte mich, obwohl ich als Ehrenbürgerssohn die Adelsvorrechte hatte und nicht zu dienen brauchte, in die Opoltschenje, die Reichswehr, aufnehmen lassen und freute mich über meine grüne Uniform und hatte ein Fernrohr. Damit schauten wir aufs Meer, ob sie nicht bald kämen. Und eines Morgens, Marussja . . . das war wie eine Lustspiegelung über dem Schwarzen Meer . . . als kämen alle Schiffe der Welt auf einmal herangefahren . . . wie weisse Mauern . . . Segel an Segel . . . tausend und mehr . . . die ganze See war bedeckt, so weit man sehen konnte . . . das war die Flotte der Verbündeten, Engländer, Franzosen, Piemontesen, Türken . . . nie hatte ein Mensch derlei für möglich gehalten . . . die Muschiks knieten auf der Strasse nieder und bekreuzigten sich: Gott hat uns gestraft! Und in den Kirchen sangen die Mönche: Herr, erbarme dich! Erlöse uns von dem Antichrist . . .“

„Er ist im Krimkrieg!“ flüsterte Nicolai seiner Gattin zu. Sie waren auf ein Zeichen der Wärterin am Eingang stehen geblieben. Lisa nickte nur. Stärker als je empfand sie den leisen Schauer, den ihr auch früher schon die Erzählungen des greisen Schwiegervaters zuweilen eingeflösst. Das war für sie, die in der zweiten Hälfte der Zwanziger stand, so schwer auszudenken, dass ein Mensch noch lebte, der all jene Zeiten und Schicksale Odessas noch mitangesehen, die man heute kaum noch vom Hörensagen kannte — die Jahre, in denen in heissen Sommern der kaukasische Rotwein billiger gewesen war als das Wasser aus den Zisternen — in denen grosse Räuberbanden unmittelbar vor der Stadt in den Klüften der Steppe gehaust und die Tataren ihre Lastkamele durch die ungepflasterten Gassen getrieben hatten. Damals wohnte man hier noch an der Grenze der Wildnis, an der Schwelle des Orients, von der aus sich alljährlich Tausende von Soldaten zum Kampf gegen die Bergvölker des Kaukasus einschifften. Europa war weit, schwer zu erreichen. Man musste durch das Schwarze Meer fahren, durch die Sulinamündung und die Stromschnellen des Eisernen Tores aufwärts in wochenlanger Reise nach Wien. Das alles war so unwahrscheinlich, wenn man sich jetzt in die glänzende internationale Hafenstadt versetzt und ständig durch Eilzüge, Telegraph und Telephon mit Westeuropa verbunden wusste.

Der Kranke drinnen hatte Atem geholt. Dann sagte er müde: „Die Verbündeten haben uns aber nicht viel geschadet, Marussja! Die Stadt liegt zu hoch. Ihre Bomben konnten Odessa nicht erreichen. Vier Kanonenboote kamen bis in den Hafen . . . Eines ist aufgelaufen . . . da hat es mit einer Kettenkugel eine ganze lange Doppelreihe von unseren Soldaten in Stücke gerissen. Man lud sie auf Karren und führte sie weg, um sie zu begraben . . . es bewegte sich noch auf den Karren . . . aber die Treiber riefen: ,Gott mit euch, Brüder!‘ . . . ich hab’ dabei gestanden, Marussja! . . . In den Jahren ist die Ernte auf dem Feld verfault. Niemand konnte Getreide verschiffen . . . Da hasste ich die Franzosen und hatte sie in Paris doch gern gehabt . . . Gerade vorher hatte mich der Vater dorthin geschickt gehabt, wie ich zwanzig Jahre alt war . . . Da hab’ ich unterwegs . . . zum ersten Male in meinem Leben . . . einen Wald gesehen . . . bis dahin nur Meer und Steppe . . .“

Marussja erhob sich leise, als er verstummt war, ging zum Fenster und öffnete den Vorhang. Es wurde hell. Ein Sonnenstrahl lugte herein und spielte über den Kopf des Kranken, der still in den Kissen lag und mit seiner wachsgelben Farbe, den geschlossenen Augen und dem halboffenen Mund schon beinahe an einen Toten erinnerte. Er hatte nichts von derbem Bauerntum an sich, wie andere aus der nun schon fast ausgestorbenen zweiten Generation der in Odessa eingewanderten schwäbischen Kolonisten, deren Kinder und Kindeskinder, soweit sie zu Wohlstand gelangt, längst jede Eigenart abgestreist hatten. Dominik Sandbauer stammte aus dem stubenhockenden grüblerischen Geschlecht der Schwarzwälder Dorfuhrmacher, die jahraus jahrein in ihren einsamen Häuschen sassen und bastelten und sinnierten, und sein Vater noch war zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts mit einem Bündel Uhren auf dem Rücken, den Wanderstab in der Faust, in Odessa eingezogen und erst nach einer günstigen Heirat mit einer Landsmännin aus dem deutschen Kolonistendorf Gross-Liebental, die ihm Kapital mitbrachte, Getreidehändler geworden. Schmächtig und schwächlich wie er war auch Dominik Sandbauer sein Leben lang gewesen, äusserlich ein unscheinbarer kleiner Mann. Aber jetzt noch zeigte der Zug eiserner Starrheit, der unter dem schütteren grauen Vollbart um die welken Lippen eingegraben lag, dass, der da ruhte, in seiner Art kein gewöhnlicher Mensch gewesen — sondern das halb gefürchtete, halb bewunderte Vorbild eines rücksichtslos dem Erfolge alles opfernden, durch keinen Fehlschlag entmutigten Kaufmanns, der das kleine Weizengeschäft, das er als Erbe übernommen, im Laufe eines langen Daseins, über die Leichen anderer Firmen hinweg, zu seiner heutigen stolzen Höhe geführt hatte.

Der Tagesschein weckte den Kranken aus seinem Halbschlaf auf. Seine Augen belebten sich. Er erkannte Lisa. Mit einem freundlichen Lächeln streckte er ihr mühsam, zitterig die Rechte entgegen. Also zurück!“ sagte er leise. Wie geht es?“

Sie war zu ergriffen, um zu antworten. Sie nahm seine Hand und führte sie an die Lippen. Der Greis liess es geschehen. Dann wandte er den Kopf seinem Sohn zu. Sein Gesicht wurde plötzlich trotz seines leidenden Ausdrucks unerbittlich hart.

„Ist es wahr?“ sagte er mit viel lauterer Stimme als bisher.

„Was denn, Papa?“ Nicolai beugte den Kopf etwas vor, in einer schonenden Haltung, wie man mit einem Schwerkranken, nicht mehr ganz Zurechnungsfähigen spricht.

„. . . Dass du gestern wieder Getreide blanko verkauft hast?“

„Ja.“

„Und viel?“

„Ziemlich. Etwa zehntausend Tschetwert.“

„Grosser Gott!“ Der Alte zuckte, wie von einem körperlichen Schmerz getroffen, zusammen und starrte eine Weile hoffnungslos vor sich hin. Dann begann er dumpf: „Siehst du denn nicht, dass du auf diese Art die Firma ruinierst!“

„Keineswegs!“ sagte Nicolai kühl.

„Du verkaufft Unmengen von Getreide, das wir noch gar nicht besigen!“

„Wir werden es kaufen!“

„Wann?“

„Nach der Ernte.“

„Wo?“

„Hier in Südrussland.“

„Und wenn die Ausfuhr des Getreides aus Russland verboten wird, musst du anderswo kaufen, um deinen Verpflichtungen nachzukommen, und da überall in der Welt bis Amerika und Argentinien hin die Preise jäh steigen werden, eine furchtbare Differenz gegen den Verkaufspreis zahlen. Die einfachste Überlegung müsste dir doch sagen, dass man nichts riskiert, solange die inneren Gouvernements bei uns von Hungersnot und der Markt daher von einer Grenzsperre bedroht ist. Das kann dich ja Hunderttausende von Rubeln Kosten, Nicolai!“

„Es gibt eben keine Grenzsperre!“

„Doch!“

„Hast du Beweise dafür?“

„Hast du welche dagegen?“

Nicolai zuckte die Achseln und wandte sich zu seiner Frau: „Du siehst, Lisa: es ist, wie ich es dir sagte! Papa sieht die Dinge schwarz, ich sehe sie weiss. Er glaubt an das Unglück — ich glaub’ an das Glück! Da kann man sich nicht einigen.“

„Ich glaub’ nicht an das Unglück!“ murmelte der in alte Kaufmann müde. Dazu hab’ ich keinen Grund! Aber Vorsicht tut not!“

„Warst du denn immer vorsichtig?“

„Ich war es nicht. Ich habe mehr als einmal Spekulationen gewagt, bei denen viel zu gewinnen und zu verlieren war. Aber vorher hab’ ich hier im Hause des Nachts gesessen und gerechnet und alles Für und Wider erwogen und den Zufall ausgeschaltet, soweit das ein Mensch kann . . . Du aber rechnest gerade mit dem Zufall, ob das Ausfuhrverbot kommt oder nicht — du setzst blindlings auf eine Karte und denkst: Es wird schon glücken! Du bist kein Kaufmann, sondern ein Spieler. Du spielst ja fast jede Woche ein, zwei Nächte hindurch.“

Nicolais männlich-schönes Antlitz versinsterte sich etwas. Er empfand die Erwähnung seiner Kartenleidenschaft, gerade in Gegenwart seiner Frau, sehr unangenehm und sagte, so ehrerbietig er sonst auch vor dem Vater stand, doch mit einiger Schärfe: „Das ist wohl meine Privatangelegenheit . . . ich bin doch schliesslich ein Mann zu Mitte der Dreissig . . . und was die Getreideverkäufe betrifft — du lebst doch leider hier ganz abgeschieden . . . du hörst doch nur von Herrn Roloff, was draussen geschäftlich vorgeht — oder vielmehr, du willst es von niemand anderem hören . . .“

„Nein!“ sagte der Alte: „Denn Roloff hat mehr Verstand wie die anderen alle zusammen.“

Sein Sohn bezwang sich, um ruhig zu bleiben. Verstand mag er haben — sogar viel, das leugne ich nicht. Aber seinen geschäftlichen Einfluss halte ich für ein Unglück. Mit dieser ewigen Kälte und Ruhe kommt man nicht vorwärts. Man muss doch auch einmal ein bisschen Wagemut in sich spüren. Schliesslich ist doch nicht dieser Mann, den du aus dem Hafen aufgelesen hast, von dem niemand weiss, woher er kommt und wer er eigentlich ist, der Chef der Firma, sondern du und ich. Und da du leider nicht herauskommen und disponieren kannst, so muss ich, der ich mitten in der Welt stehe, es eben an deiner Stelle tun, so wie ich es für das beste halte . . .“

Dominik Sandbauer hob rasch den Kopf. Ein unheimliches Lächeln spielte über seine abgezehrten Züge. „Und ich bin schon ganz zum alten Eisen geworfen? Beinahe begraben — denkst du? Nein — Nicolai — so schnell geht das doch nicht. Vorderhand bin ich noch da und werde verhindern, dass du zerstörst, was ich mühsam aufgebaut habe . . . Willst du mir dein Versprechen geben, künftig keinen Verkauf ohne Beratung mit mir abzuschliessen?“

„Wie kann ich das? Du weisst, wie schnell das im Geschäft geht. Man wird antelephoniert oder der Makler kommt, und man muss sich entscheiden.“

„Also du willst nicht?“

„Nein.“

„Gut!“ Dominik Sandbauer drückte auf eine Klingel neben seinem Krankenstuhl und frug ganz ruhig den eintretenden Diener: „Wartet Herr Roloff, wie ich angeordnet hab’?“

„Er wartet!“

„Sage ihm, ich liesse bitten, zu kommen!“

„Ich höre!“

Der Diener ging. Nicolai hatte im ersten Augenblick eine Bewegung gemacht, als wolle er vor ihn treten, aber dann frug er nur mit einem heiseren Klang in der Kehle, der seine unterdrückte Erregung verriet: „Was hast du denn mit Roloff vor?“

„Du wirst es sehen!“

Das klang so schroff, dass Lisa bang auf ihren Mann blickte. Sie befürchtete bei ihm einen Zornausbruch, aber seine weltmännische Haltung siegte. Er lächelte nur verächtlich und ging langsam, wie gelangweilt, auf und nieder. Nun wollte sie sich zurückziehen, wie es die stumme Pflegerin Marussja schon getan, um die Männer bei ihren finanziellen Besprechungen allein zu lassen, aber Nicolai rief sie beinahe ungeduldig wieder her: „Bleib doch nur! Das sind keine Geheimnisse!“ Und sie merkte, dass ihre Gegenwart von ihm und wohl auch von seinem Vater als ein Vorbeugungsmittel empfunden wurde, um sich nicht gehen zu lassen und nicht allzu heftige Auftritte herbeizuführen, Auftritte, wie sie vor langen Jahren, noch ehe sie selbst in das Sandbauersche Haus gekommen, in furchtbarer Weise stattgefunden hatten. Man erinnerte sich wohl noch daran, auch nachdem die Beziehungen zwischen Vater und Sohn sich äusserlich wieder gebessert — aber den wahren Grund ihrer gegenseitigen, von da ab entstandenen Entfremdung wusste keiner und ahnten die wenigsten: Dominik Sandbauer hatte damals Wechsel in Händen gehalten, auf denen sein Name stand, und hatte seinen Namen doch nie auf diese Wechsel geschrieben, die sein Sohn Nicolai in Umlauf gebracht. Er hatte, geschwiegen und gezahlt und die Papierstreifen mit zwei Fingern, als ekle er sich vor ihnen, gepackt und auf den glühenden Holzkohlen unter dem Samowar verbrannt. Dann aber hatte es eine Aussprache mit Nicolai gegeben, nach deren Verlauf jener blass wie eine Leiche das Gemach des alten Herrn verlassen und beide ein Jahr lang nur geschäftlich Worte miteinander gewechselt hatten, bis die Zeit die Kluft überbrückte.

Das war lange her. Nicolai hatte es wohl schon ganz vergessen. Er besass eine glückliche Gabe, alles zu vergessen, was ihm unangenehm war. Seine Papyros rauchend, stand er gleichmütig mit ironisch-heiterem Gesichtsausdruck da. Lisa war auf ihren Platz am Fenster zurückgekehrt. Da blieb sie. Es war ganz still im Gemach, bis die Türe von aussen aufging.

Draussen klangen rasche feste Schritte und Robert Roloff trat an dem öffnenden Diener vorbei in das Zimmer. Lisa hatte seinem Kommen mit einem leisen Unbehagen entgegengesehen. Die wilden zerlumpten Gestalten der Schwarzarbeiter, wie sie sie eben noch auf dem Platz vor der Branntweinschenke geschaut, wollten ihr nicht aus dem Sinn. Aber der Angestellte des Hauses Sandbauer und Sohn, der da stand, war ein Mann wie andere, über mittelgross, zu Ende der Dreissig, unauffällig in einen leichten grauen Sommeranzug gekleidet, mit kurzem dunkelbraunem Vollbart. Nichts an ihm verriet, dass ihn die Schlünde des Lebens schon einmal in ihre Tiefen gerissen und dem Tag wieder zurückgegeben hatten, nirgends war an ihm eine Spur der Unterwelt, aus der er kam. Nur war sein Gesicht von der Sonne gebräunter, seine Gestalt straffer und breitschultriger, seine ganze Haltung unwillkürlich selbstbewusster, als es sonst bei einem Kaufmann der Fall war, der sein Leben im Kontor verbracht. Er erinnerte eher an einen Landwirt. Luft, Wind und Sonne schienen ihm von früher her vertraut, und auch jetzt war es ja nicht sein Beruf, in der Stube zu sitzen, sondern auf weiten Reisen durch die Weizengouvernements des südlichen Russlands den Saatenstand zu prüfen und die Aufkäufer der Firma zu überwachen.

Er begrüsste seine beiden Chefs mit der Zurückhaltung des Untergebenen und verbeugte sich leicht, in einer ihm selbst vielleicht unbewussten ruhig-sicheren Art, vor Lisa. Ihr vorgestellt zu werden, erwartete er in seiner abhängigen Stellung wohl gar nicht, und Nicolai, der auch seinen Gruss nur obenhin erwidert hatte, machte auch keine Miene dazu. Aber sein Vater murmelte doch mit einer Handbewegung: „Lisa — dies ist unser Herr Roloff!“ Und er verneigte sich noch einmal, stumm und gemessen, wie es ihm hier zukam.

Dabei sah sie, dass sein dichtes braunes Haar an einer Stelle über der Stirne dunkler und wie zusammengeklebt erschien. Und ein diesem Punkte entsprechender Flecken, aber hellrot, war an der weissen Schirmmütze, die er in der Rechten hielt. „Sie bluten ja!“ sagte sie erschrocken.

Roba Roloff verneinte. „Ich geriet in einen kleinen Judenkrawall hinein — nahe am Magazin Ihres Herrn Vaters — und machte mir Platz. Das ist alles, gnädige Frau!“

Seine Stimme war tief, mit einem leisen, ehernen Grundklang. Es fiel ihr auf, dass er, wie heute morgen sein Freund Görwihl, nach dem Brauch des Westens „gnädige Frau“ sagte und nicht „Madame Sandbauer“. Das war ein Zeichen, dass er mit der deutschen Kolonie in Odessa nichts gemein hatte. Sie blieb stumm und er wandte sich wieder den beiden Herren zu, um deren Befehle entgegenzunehmen. So konnte sie von der Seite sein Gesicht betrachten. Es lag darauf — im Gegensatz zu der kränklichen Gereiztheit ihres Schwiegervaters, der lächelnden Nervosität ihres Gatten — eine unerschütterliche Ruhe. Man fühlte: den Mann da konnte nicht mehr leicht etwas aus seiner Gelassenheit bringen. Er hatte zu viel gesehen und erlebt und sich in zu viel Dinge und Menschen hineingelebt, um sich noch aufzuregen. Das war ihm nicht mehr der Mühe wert. So waren auch seine Augen . . . hell . . . leidenschaftslos . . . eigentlich heiter. Und was ihm noch etwas Besonderes gab: Wenn er sprach, gestikulierte er nicht mit den Händen, wie es sonst jeder vom Grosskaufmann bis zum jüngsten Laufburschen tat, der sich in Odessa am Glücksspiel des Getreidehandels beteiligte, sondern stand, ohne sich zu rühren, da, — gleich als ginge ihn der Kampf ums Dasein eigentlich gar nichts an, sondern er mache das Spiel nur einmal in philosophischer Ruhe als Unbeteiligter mit.

„Sie haben mich rufen lassen, Herr Sandbauer?“ frug, er, da der Kranke noch zögerte und, erschöpft und leidend vor sich hinstarrend, mit einem Entschluss zu kämpfen schien.

Dominik Sandbauer strich die Decke über seinen Knieen glatt, hüftelte und begann dann unvermittelt: „Haben Sie Nachrichten aus Petersburg?“

„Jawohl! Vorhin!“ Roloff zog eine Depesche hervor.

„Bitte, lesen Sie!“

Und der andere las mit seiner tiefen gedämpften Stimme: „Scholims Befinden seit gestern eher wieder schlechter. Doch hat unser hiesiger Arzt immer noch Hoffnung auf Genesung.“

„Nun also!“ sagte der alte Grosskaufmann. „Da hörst du es wieder, Nicolai — wenn du eben hören wolltest. Jeden Tag lauten die Nachrichten ungünstiger! Ein Kind müsste begreifen, dass die Katastrophe unvermeidlich ist . . .“

„Es steht aber doch: immer noch Hoffnung auf Genesung.“

„Natürlich — aber Hoffnung trügt — das glaubst du eben nicht! Was denken Sie heute von der Lage, Herr Roloff?“

Der Angeredete steckte die Depesche wieder ein. „Immer das gleiche, Herr Sandbauer: Über kurz oder lang erhalten wir die Nachricht: Scholim ist verschieden.“

„Das mein’ ich auch!“ Der Alte nickte trübe. Die Drei Männer schmiegen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Endlich entschloss sich Lisa, die, ohne ein Wort von der ganzen Sache zu verstehen, zugehört hatte, zu der Frage: „Wer ist denn nur dieser Herr Scholim, der euch so am Herzen liegt?“

Roba Roloff, der ihr zunächst stand, lächelte. Dadurch veränderte sich sein gebräuntes Gesicht. Es sah viel gutmütiger und lebenslustiger aus. Sein wahrer Mensch schaute da heraus.

„Unser armer Freund Scholim macht uns allerdings schwere Sorgen, gnädige Frau!“ sagte er. „Er steht schon die längste Zeit auf recht schwachen Beinen. Aber zum Glück existiert er eigentlich gar nicht.“

„Er existiert nicht?“

„Nein. Oder vielmehr, es gibt nur ein Wort Scholim im Jüdisch-Deutsch, das Frieden bedeutet — in unserem Fall der Handelsfrieden, der durch die drohende Getreidesperre gestört werden würde. Und da die Telegraphenzensur uns keine offenen Depeschen über den Stand der Dinge erlaubt, so telegraphiert uns unser Vertreter in Petersburg eben ein ärztliches Bulletin. Das ist das ganze Geheimnis.“

„Ach so!“ Lisa ärgerte sich ein wenig, als Gattin und Tochter eines Kaufmanns so naiv gewesen zu sein, und ihr Mann sagte trocken: „Es war wohl kaum nötig, dass Herr Roloff dir das verriet. Jedenfalls brauchst du es aber nun nicht gleich weiter zu erzählen! Sonst verdirbst du mir damit das Geschäft.“

Dominik Sandbauer hatte sich etwas in seinem Krankenstuhl aufgerichtet. „Das Geschäft! Also, du beabsichtigst, mit diesen Getreideverkäufen fortzufahren, Nicolai“

„Allerdings, Papa — ich halte es für das richtige . . .“

„Und ich für das Gegenteil!“

„Verzeihe! Aber einer von uns muss doch die Geschäfte führen. Und da du ja leider verhindert bist . . .“

„Ich bin allerdings persönlich verhindert!“ sagte sein Vater ruhig. „Aber ich kann mich ja doch vertreten lassen. Ach, Herr Roloff . . . kommen Sie, bitte, etwas näher. Sie sind zwar wenig über ein halbes Jahr bei uns, aber Sie haben sich als eine so ungewöhnliche Kraft erwiesen und derart mein Vertrauen erworben, dass ich Ihnen von heute ab die Prokura für Sandbauer und Sohn erteilen will. Ich nehme dabei an, dass Sie in wichtigeren Sachen nur nach Rücksprache mit mir für die Firma zeichnen werden. Lassen Sie jetzt gleich die Anzeige an unsere Geschäftsfreunde mit Ihrer Unterschrift hektographieren!“

Roloffs Gesicht blieb so gelassen wie zuvor. Erst schien er etwas entgegnen zu wollen. Aber dann sagte er nur ruhig: „Ich danke sehr, Herr Sandbauer!“, verbeugte sich vor dem Vater und dem Sohn, der ihm, am Fenster stehend, in voller Absicht den Rücken zudrehte, dann vor Lisa und verliess das Zimmer.

Kaum war er fort, so wandte sich Nicolai hastig um. Seine Frau stellte sich ihm in den Weg. Aber ihre Besorgnis, er werde rücksichtslos seinem Zorn die Zügel schiessen lassen, war unnötig. Ein Blick auf das eingefallene Gesicht des alten Herrn, der, von der ungewohnten Anstrengung erschöpft und schweratmend mit, geschlossenen Augen in den Kissen ruhte, lehrte ihm Mässigung. Mit einem Sterbenden fing man keinen Streit an. In kurzem war ja doch alles vorbei und wurde alles anders . . .

So lachte er denn nur wild auf, um seinem Groll Luft zu machen: „Wahrhaftig . . . eine stolze Vertretung unserer Firma . . . ein Mensch, den man mit zwei Fingern aus den Schwarzarbeitern im Hafen herausgesischt hat . . . Vorigen Winter hat er für Sandbauer und Sohn Getreidesäcke getragen — jetzt zeichnet er in Prokura für Sandbauer und Sohn. Haha! Es wäre ja zu komisch, wenn es nicht so toll wäre!“

„Hast du schon einmal jemanden gefunden, der über Herrn Roloff gelacht hat?“ Frug sein Vater. Ich nicht.“

„Über ihn wird man nicht lachen, aber über uns, Sie einen Abenteurer an die Stelle setzen, wo der Chef allein schalten sollte — einen Aufpasser . . . oh . . . ich verstehe . . . er soll mich in deinem Auftrag überwachen . . . meine ganze Tätigkeit lahmlegen! Aber ich mache das nicht mit! Soll ich mich von unseren jungen Leuten hinter meinem Rücken verhöhnen lassen? Ich fahre jetzt ins Geschäft, schliesse meine Bücher ab und see dann keinen Fuss mehr hinein! Dann mag Herr Roloff drinnen tun, was er will — oder vielmehr, was du willst. Ich kümmere mich um nichts mehr!“

Der Kranke hob die Hand. Er wollte ihm ins Wort fallen. Aber Nicolai war zu erregt, um noch zu hören. Der schöne blondbärtige Mann zitterte am ganzen Körper, sein Gesicht war blass vor Zorn. „Entschuldige mich, Lisa!“ sagte er heiser. „Aber ich will jetzt gleich weg in die Stadt. Vielleicht holst du mich dann gegen Abend im Kontor ab, ja? Bis dahin habe ich dort meine Sachen erledigt! Du kannst dann Papa melden, dass alles für Herrn Roloff bereit ist. Also adieu!“

Sie schaute ihm durch das Fenster nach, wie er auf die weissflimmernde Strasse trat, in der seine Lackschuhe tief im Staub versanken, den nächsten Iswoschtschik mit dem Stock herbeiwinkte und in das winzige Wägelchen sprang. Dann trat sie in das Zimmer zurück, zu ihrem Schwiegervater, der wie schlafend in seinem Rollstuhl ruhte. Aber seine welken Lippen bewegten sich. Er war nach der Aufregung wieder in sich zusammengesunken, im Übergang vom Wachen zum Traum.

Er soll mir das Geschäft nicht verderben . . . der Nicolai . . .“ murmelte er. „Er will es besser wissen als ich, Lisa . . . als ich . . . der ich vor sechzig Jahren schon die Taschen voll Weizenproben gehabt habe und als kleines Kind schon unseren Knechten im Schuppen geholfen hab’, den Mais umzuschaufeln. Und damals waren andere Zeiten wie jetzt. Kein Pflaster. Im Herbst, wenn die Tausende von Getreidewagen aus der Steppe kamen, dann waren alle Strassen in Odessa grundlos . . . man versank im Schlamm . . . man hat damals Stricke längs der Häuser gespannt, um sich daran zu halten, wenn man Sonntags wenigstens zur Kirche gehen wollte . . . der Pfarrer ist einmal doch bis an den Leib in eine Pfütze eingesunken und von der Gemeinde herausgezogen worden. Er hat arg auf Schwäbisch gescholten und dann doch gepredigt. Ich entsinne mich wohl . . .“

Er rief seine wandernden Gedanken zurück. „Mach das Zimmer wieder dunkel!“ bat er. „Ich will schlafen.“

Lisa tat es. Dann suchte sie leise in der Dämmerung den Weg zur Türe. Da hörte sie noch einmal die müde Greisenstimme: „Lisa, mein Kind . . . hinter meinem Stuhl steht der Geldschrank . . . zieh den Schlüssel ab und gib ihn mir!“

Als er ihn hatte, wurde er ruhig und barg ihn sorgfältig in der Tasche. Das war wie eine sinnbildliche Handlung. Solange er lebte, sollte niemand, auch der eigene Sohn nicht, mit dem Gelde schalten, das Dominik Sandbauer so schwer sich erworben, für das er sein ganzes Dasein hindurch all seine Kräfte und seine Gesundheit aufgebraucht hatte. Er lag da noch in seinem Stuhl und besass es. Hinter ihm stand eine unheimliche, mächtig schwarze Masse im Dämmern des Zimmers, der gepanzerte Schrank. Und es war Lisa, während sie behutsam die Klinke ausdrückte und noch einmal zurückblickte, als sei dieser düster ragende, den Kranken überspannende Schatten etwas ganz anderes, etwas, was man fühlt und nicht nennt: der Tod hielt am Lager des alten Kaufherrn Wacht . . .

Gib mir die Hand

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