Читать книгу Der Bauer in der Au - Rudolf Stratz - Страница 6
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ОглавлениеDen ganzen Abend hatte die Marei in der Kuchl gehockt und mit ihren braunen Fingern die Feldblumen, die sie am Nachmittag gesammelt, zu einem Boschen gewunden — einem Boschen, drei Fuss lang, schmal und spitz wie ein Fuchsschwanz, prächtig in seinen schreiend grellen Farben und Bändern.
Den Almboschen befestigte sie morgens vor dem Haus mit einem urväterlichen, buntgestickten Ledergurt auf der Stirn der Scheckei, der Leitkuh. Dann knüpfte sie innen den Lieblingskühen kleine Sträusschen an die Hörner. Dem Maxl, dem dunklen, vierjährigen Zuchtstier, der daneben, wie ein Galeerensträfling in Ketten, widerkäuend lag, banden der Flori und der Simon ein Tuch vor die weissglühenden Augen und lösten ihn aus den Eisenringen und führten, Knüttel in den Fäusten, den blinden Wüterich ins Freie. Die Herde wogte hinter dem steil ragenden Blumenboschen der Scheckei mit melodischem, hohem und tiefem Glockengebimmel, unter Peitschengeknall und Geschrei. Die alte Katrein schrie, der alte Wastl, der Peperl, der Dienstbub, der Steffel, ein schwächlicher, junger Knecht, der an der fallenden Sucht litt, die Toni, eine unansehnliche kleine Magd. Aber am gelisten schrie die Marei. Der Flori hörte beim Stiertreiben durch das braunweissgefleckte und gehörnte Gewimmel vor ihm ihr helles, durchdringendes: „Gäh, Kühlein — gäh!“
Sie fegte, das Lodenhütl mit der flatternden Hahnenfeder tief auf dem braunen Zopfnest im Nacken, mit geschwungenem Bergstock in langen Sätzen links hinunter zum Bach und scheuchte den abgeirrten Jungochsen: „Gehst bei, Sauhund, elendiger!“ und jagte aus dem Waldhang rechts die schwerfällig galoppierenden Kühe: „I reiss’ euch d’ Schwänz aus, ihr Luader, ihr drecketen!“
„Schimpf net so, Dirn!“ rief der Flori von hinten, und die Marei drehte ihm, hell vom blauen Himmel abgehoben, über die Schulter ihr dunkelrot erhiztes Gesicht zu und zeigte atemlos die weissen Zähne.
„Du wirst mir lehren, mit die Viecher umgehn, Bauer! Platteln kannst und Komödi spielen und Rehböck’ derschiessen! Aber des gedenkt mir bald nimmer, wann i di mal im Kuhstall g’sehn hab’!“
„Recht hat sie, die Speikatz’“, sprach der Simon. Der Vogl-Flori schwieg. Stund’ um Stunde ging es hinauf durch Berghochwald. Dann wurde der immer lichter und niedriger, nun nur noch verkrüppelte, kriechende Latschen, eisgraue Moosflechten wie die Bärte alter Männer um die borkige Rinde. Sonnengoldene, grüne, freie Weite. Das Reich der Matten.
Der grosse Almstier lief schon ohne Binde. Er schnob durch die Nüstern. Er stiess ein helles Gebrüll aus, das beinahe wie das Wiehern eines Pferdes klang. Er stürmte federnd schnell trotz seiner Plumpheit durch das Glockengebimmel seines Harems auf und nieder.
„Was der Maxl scherzt!“ sagte die Marei bewundernd mit verschlungenen Händen. „Recht frisch is er beisammen!“
„Von hier ab bringt’s ihr die Herde leicht auf d’ Alm!“ Der Flori setzte sich verdüstert auf einen Stein. „Macht’s nur voran! I komm’ euch nach!“
Das Gebimmel der Glocken verhallte immer höher über ihm in der dünnen, klaren Luft. Nun war alles still. Er hörte nur noch den klagenden Schrei einiger schlanker, schwarzer Alpendohlen. Er sass mit dem Rücken gegen die aufsteigenden, baumlosen Weiden und das kahle Felsgezack dahinter und schaute hinab ins Tal.
Tief da unten lag winzig und weiss ein Hof. Und wer den Hof kannte, der wusste, dass er in Wirklichkeit nicht klein war, sondern mächtig gross, und dass er Beim Vogl in der Au hiess, seit undenklichen Zeiten, und ihm, dem Flori, gehörte, und ringsherum weithin im Grund die Wälder und die Wiesen.
Aber durch diese Wälder unten sah der Vogl-Bauer oben im Geist einen fremden, grossen, dicken, bärtigen Mann gehen, und das war der Lechner, der Holzhändler, und der hatte all die Baumriesen auf dem Stamm gekauft. Und über den Wiesen sah der Vogl-Bauer schwere, schwarze Schatten trotz des wolkenlos blauen Maihimmels, und das waren die Schulden auf dem Hof in der Au. Und hinter den Fenstern seines Hauses sah der Vogl-Bauer viele fremde Herren sitzen und schreiben und rechnen, und das waren die Beamten aus der Stadt mit ihren hundert Verboten und Verordnungen und Gesetzen mitten hinein in den ewigen Kreislauf des uralten Bauernguts.
Drüben im Westen färbte sich jetzt mählich schon der Abendhimmel purpurn. Der Flori Vogl sass aufrecht und straff, einen Halm zwischen den weissen Zähnen unter dem dunkeln Schnurrbart, den Hut mit dem steifen Adlerflaum schief auf dem linken Ohr, den Bergstock quer über den braunen, blossen Knieen, und spähte aus seinen dunkeln, raubvogelscharfen Augen über die dämmernde bayerische Hochebene hin, die sich fern zu seinen Füssen breitete. Wie Stücke eines zerbrochenen Spiegels schimmerten aus ihr, im Abendschein, die grossen und kleinen Seen. Ganz im Westen am Horizont lag eine mächtige, bleigraue Wasserfläche. Der Vogl in der Au kniff vielsagend das linke Auge zu, in der Richtung nach dem da sichtbaren Chiemsee. Dort am Ufer des Bayerischen Meeres lag das Dorf Walching. Und einer seiner Höfe hiess Beim Distl. Und in dem Hof sass eine — die hiess Vroni und wartete, bald der Rechte käm’ . . . Und hatte a Geld . . .
Wär’ nicht schlecht, wenn man da als Tochtermann einständ’ . . . Dann war alles in der Reih’ . . . Und wenn’s die Vroni nicht war, dann war’s eine andere! Da unten hat’s viele Dörfer, und in jedem dritten, vierten Dorf eine Bauerntochter, meinetswegen gar eine junge Witfrau, die nach ’nem Mann aussah. Wartet’s nur! Der Flori nickte, so wie wenn ihm sonst auf dem Anstand im Juni ein roter Sechserbock schussgerecht vor die Büchse trollte. Er kannte seine Gewalt über die Weibsleut’ . . .
Dann gähnte er und reckte sich in den breiten Schultern und stand auf. Er war im Begriff, sich vor dem Weitersteigen die Pfeife anzuzünden, und horchte, und das Streichholz verflackerte ihm dabei im Bergwind in der Hohlhand . . .
. . . Sie war nicht gerad’ gross und auch nicht gerad’ klein gewachsen . . . ein zartes, rankes Figürl in städtischer Tracht, einen Topfhut auf dem schwarzen Bubikopf, darunter ein liebes, rundes, weiches Gesicht mit dunkeln, sanften, katholischen Augen. Haferlschuh’ hat sie gerad’ an, der Stadtfratz, da heroben in den Bergen! Sie hatte einen dünnen, zusammengelegten Schirm geschultert. An dessen Spitze baumelte hinten eine kleine gelblederne Reisetasche. Bravo! So geht man auf d’ Alm! Der Flori musste lachen . . .
Das Fräulein war noch jung — so ein paar Jahr’ über zwanzig — sie war nicht erhitzt vom Bergsteigen, sondern blass von der Anstrengung.
„Grüss Gott!“ sagte sie lustig, obwohl es ihr den Atem verschlug, und schaute den Vogl-Bauer vertraulich an. „Bin i hier recht nach der Frauenalm?“
„Freili san S’, Fräulein!“
„I kann bald nimmer! Wie weit is dann noch?“
„A gute halbe Stund’!“
„Net mehr? Für wahr und g’wiss?“
„I muss es doch wissen!“ Der Bursche lachte und zündete sich jetzt seine Pfeife an. „I bin doch der Bauer auf der Alm!“
„Der Vogl-Bauer?“
„Derselbige! Woher wissen S’ denn das?“
„Ja — weil i auf der Alm bleiben möcht’ — ein paar Wochen zur Erholung — wissen S’. . .“
„An Unterschlupf mit an Bett hat’s oben schon!“ sagte der Flori gutmütig. „Aber ’s muss Sie erst einer eing’laden haben!“
„Ja. Das hat doch der Mauser g’macht . . . Ich weiss net, wie er eigentlich heisst . . . Er zieht überall ’rum und fangt die Schermäus’ z’sammen!“
„I kenn’ ihn, den alten Haberer!“
„ . . . und wann er die Maulwurfsfelle nach München bringt, ins Pelzgeschäft, dann kehrt er als gern bei uns ein! I bin nämlich Kellnerin, in ’ner Wirtschaft dort im Tal . . . “
„Ja so . . . “
„ . . . und da sagt er, er kennt die alte Sennerin auf der Frauenalm — die Katrein —, der soll ich nur sagen: ,Der Mauser schickt mich.’ Die braucht’ bloss den Bauern um Erlaubnis zu fragen! Ja — hat sie denn das nit getan? Das is doch schon ein paar Wochen her!“
„Damals hat mei’ Vatter noch g’lebt!“ Der Flori machte eine ergebungsvolle Handbewegung. „Der hat mir nie nix g’sagt . . . “
„Jetzt bin i vorgestern nach Holzing kommen — da hat mir der Bruckbräu gesagt: „G’fehlt is! Die Alm is noch net b’fahrn!’ Da hab’ i beim Bruckbräu gewartet, und heut früh hat der Viehhändler, der Kreitmayr, unten in der Schwemm’ gesagt: ,Alleweil treiben s’ aufi!’ Da hab’ ich mich schnell zurechtgemacht . . . “
„Aber jetzt komm’ i am End’ nit zupass?“ Sie musste das blasse Münchner-Kindl-Gesicht heben, um dem riesigen jungen Bergbauern aus ihren sanften, dunkeln Augen ängstlich in das braungebrannte, trotzige Antlitz zu sehen. „Sie, Herr Vogl — sagen S’gerad’, wie’s is! Muss i wieder umdrehn?“
„Ja — warum denn, Fräulein? Wann S’ da sind, san S’da!“
„Da dank’ i auch schön!“
„Kei’ Ursach’! Kommen S’! Gehn wir aufi! Ach — sperren S’ Ihna net! Geben S’ schon her!“
Der Flori hakte die Reisetasche von dem geschulterten Regenschirm und nahm sie in die Hand. Für ihn war das ein Federgewicht. Aber das Fräulein atmete auf.
„Blutsauer is mir’s geworden!“ sagte sie, während sie zusammen emporstiegen. „I schwitz’ — sag’ ich Ihnen — i schwitz’! I bin halt noch schwach . . . “
„Ich war nämlich so krank!“ erzählte sie weiter, vorsichtig die Haferlschuhe mit den umgekrempelten Übersöckchen zwischen die scharfen Steinbrocken des Bergpfads setzend. „Vier Wochen hab’ i im Krankenhaus links der Isar gelegen. Auf der Brust — wissen S’, Herr Vogl — hab’ ich’s gehabt! Kellnerin — das is ein strenger Beruf. Und daheim bei den Eltern hab’ ich mich nit erholen können. Da ist’s zu eng. Mein Vater is Maurer in Giesing — wissen S’ — hinterm Nockherberg. Und der Doktor hat gesagt: ,Höhenluft. So recht hoch! Und ordentlich a Milch!‘ Ja — und so is es kommen!“
„Gangen S’zu, Fräulein!“ rief der Flori, schnell nach oben schauend, und da sie ihn nicht gleich verstand, sondern gar noch stehenblieb und ihn fragend anblickte, fasste er sie um die Taille und zog sie, dicht an sich gepresst, an einer verwitterten Steinhalde vorbei, an deren Fuss unten regellos einzelne Felsbrocken lagen. Recht weich war sie und mollig. Sie schaute ihn halb erschrocken an. Aber sie gab sich doch mit halbgeschlossenen Augen in seinen Arm. Er liess sie los.
„Steinschlag! Hat’s gern an der Stell’!“ sagte er. „Da kimmt gerad’ was!“
Ein kopfgrosses Stück Berg tanzte in ungeschlachten, langen Sprüngen den Hang herab und klatschte auf und blieb stumpfsinnig liegen. Die beiden waren ein wenig verwirrt. Die Wangen des Fräuleins färbten sich ganz schwach rot. Er blickte sie von der Seite an. Er sah: sie hatte eine Stupsnase und einen weichen, herzförmigen Mund. Recht froh war das Gesichtl. Sonnig und weich, mit innigen Augen. Da lag nicht die harte Bauernarbeit darauf, die den Zügen etwas Strenges gab. Das war was Feines — was Städtisches. Das war halt München.
Sie gingen weiter, durch ein wüstes einsames Trümmertal von Steinblöcken. Es pfiff schrill da und dort aus dem Geklüft.
„Jesses, Herr Vogl: wo halten sich denn die Leut’ all versteckt? Die werden uns doch nix tun?“
„Das sind die Mankeis! Die gibt’s noch da heroben. Schauen S’: da hält so a Manderl Ausguck auf einem Stein!“
Das Murmeltier, da da sein Männchen machte, verschwand mit einem gellen Pfiff in seinem Loch. Schiessen durfte man die Viecherln nur in ein paar Herbstwochen, wenn überhaupt. Trotzdem hätte der Flori, der Jäger, sonst kein Auge von dem seltenen Wild verwandt. Jetzt schaute er statt des Mankei das Münchner Kindl an.
„Wie haben S’denn die Sucht auf der Brust derwischt, Fräulein?“
„Ja . . . schauen S’: der Winter in München ist doch gar so kalt und hart — indem dass es so frei daliegt — gerad’ wie ein Stück Leberkäs auf dem Teller. Jetzt gar der Fasching! Vor sechs kommt man ja nimmer ins Bett!“
„So lang haben S’ als Kellnerin arbeiten müssen? Dös is ja a Sünd’ und Schand’!“
„Ah na! Die Bäll’ dauern so lang! Die Bäll’!“ Das Münchner Kindl lachte. Seine dunkeln, frommen Augen glänzten. „Sie, Herr Vogl — wissen S’, wieviel Bälle dass ich heuer mitgemacht hab’? Dass ich net lüg’: A Stucker siebenundzwanzig! . . . Und Pareh’s drunter und . . . aber z’meist bin ich als Maschkerer gegangen . . . als „Alt-Heidelberg’ . . . das passt sich doch gut — net — wo ich doch selber a Kellnerin bin! Sie — das war zünftig! Da hat’s Kaw’liere gegeben . . . die haben fei’ gleich an Schampus spendiert . . . “
„So . . . so . . . “
„ . . . und einmal . . . da haben wir gerad’ den Frasseh getanzt — wissen S’ . . . wann alle so in zwei Reihen pfeifen und in die Händ’ patschen — ja . . . tanzen denn Sie keinen Frasseh?“
„I bin Fahnenträger vom Gebirgstrachtenverein! Wir tanzen nur unsere alten, rechten Bauerntänze — nix von dem neumodischen G’lump!“
„So? Na — ihr seid mir die Rechten! Das muss ich sagen! Also bei selbigem Frasseh — wie wir nachher am Morgen im Schneesturm zum Donisl sind, Weisswürst essen — da hab’ ich mich so arg verkühlt und bin krank geworden. Aber schön war’s doch! Jesses, Maria und Joseph — was wird denn jetzt dös?“
Über den Saumpfad vor ihnen war von oben eine Schlamm-Muhre niedergegangen. Zehn Fuss breit sperrte der gelbe Brei aus Lehm und Steingebröckel und Wurzelwerk den Weg. Die kleine Münchner Kellnerin starrte auf ihre Haferlschuhe.
„Wie soll i denn da hinüber? Durch den Mordsdreck?“
„Gehst halt her!“ Der Flori nahm das Handtäschchen zwischen die Zähne und das Fräulein mit einem Schwung auf die Arme. Er stapfte mit ihr durch den Bergschlamm, der ihm die Nagelschuhe und Wadenstutzen lehmgelb färbte und bis zu den blossen Knieen reichte. Sie hielt in der einen Hand den langen Alpstock, den er ihr gegeben, die andere schlang sie um seinen Hals und lachte ihm freundlich ins Gesicht. Zärtlich fast. Es wurde ihm warm. Beide atmeten schnell.
„Bin ich nit zu schwer, Herr Vogl?“
„Net schwerer als a Sechswochenkalb!“ Er liess sie jenseits der Muhre zu Boden gleiten. Sie zupfte an sich herum, rückte sich den Topfhut zurecht und legte herzlich die sauber gepflegte, kleine, weisse Hand in seine riesige braune Rechte.
„Vergelt’s Gott vieltausendmal! Ohne Sie hätt’ ich jetzt gleich umdrehn dürfen! Sie sind a guter Mensch, Herr Vogl!“
Und im Weitersteigen: „Zum Oktoberfest, wann S’ nach München kommen, dann müssen S’ bei uns im Tal z’ Mittag essen! Ich versprech’ Ihnen a Protektionshaxen!“
„I zahľ mei’ Haxen selber!“ sprach der Flori störrisch. „I bin der Bauer in der Au! Wissen S’, Fräulein — was das heisst? Nix weisst!“ Und dann milder, mit einem wohlgefälligen, gutmütigen Augenzwinkern: „Wie heisst’s d’ dann eigentlich?“
„Blumetsrieder-Fanny! Also Fannerl sagen s’ meist zu mir!“
„Guck, Fannerl, da oben — na — besser rechts — so — die grauen Steine auf dem Schindelbach — dös is die Frauenalm!“
„Gelobt sei Gott — i bin halb hin!“
„Wirst die Viertelstund’ schon noch schaffen! Komm nur, Fannerl!“