Читать книгу Simmerl - Rudolf Stratz - Страница 9
VI.
ОглавлениеAus der Nacht um das Simmerl-Häuserl wird langsam ein neuer Tag. Die endlose bayrische Hochlandfläche erhellt sich, und es ist, als lohte in ihrem Osten ein ungeheurer Moorbrand über der öden Welt. Ein blutiges Rot ist dort der ganze Horizont. Aber über ihm qualmen keine schwarzen Rauchwolken wie sonst, wenn die Torfgründe unlöschbar, Wochen und Monate lang, bis in ihre Tiefen glimmen, sondern der Himmel darüber ist zart lichtgrün, mit langen, rosigen Querstreifen durch aschgraue Wölkchen. Als ein purpurnes Riesenauge hebt sich der Sonnenball über ein weisswogendes Nebelmeer. Alle die Sumpfwiesen da unten dünsten, die Moorlachen, die Torfgräben, die Birkenmoraste. Die Erde ist vor fliessenden Schwaden noch nicht zu sehen.
Jetzt, wenn der Himmel blaut, regt’s sich im Röhricht. Die wilden Enten schwatzen leise. Überall, wo die scharfen Schilfstauden ragen, die schwarzen Binsenköpfe im Nebel nicken, werden sie rührig, die sonderbaren fremden Gäste, die das bayrische Moos nur ein paar Wochen in Herbst und Frühjahr auf der Durchreise beherbergt: der rostrote Haubentaucher steht aufrecht wie ein Pinguin, mit der weissen Ratsherrnkrause um den spitzen Schnabelkopf und seinem doppelten schwarzen Federbusch, die langschnäbelige Wasserralle, braun wie ein Rebhuhn, rüstet sich flügelschlagend zur Italienfahrt, der aschgraue Strandläufer rennt geschäftig das Schlammufer entlang.
Und da, wo die Moore bald ausgehen, schon nahe bei dem Dorfe Stoissham, da hat es schon lange vor Sonnenaufgang mit dem Kikeriki der Zuchthähne und den Fisteltönen der Junggickel den Morgen angekräht, da gackert es jetzt durcheinander, und das Hühnervolk strömt mit Hunderten von roten Kämmen aus der Farm Erika hinaus zum freien Auslauf über die Heide.
Drinnen, in den leeren Ställen, ist jetzt genug zu tun. Die steinernen Böden ausschwemmen — Gertrud Hellwig, die Geflügelzüchterin, schwingt mit aufgekrempelten Ärmeln den Pumpenschwengel, und ihre Kinder, der Hansel und die Lütte, schieben die Eimer unter das Rohr — die Futtertröge mit Mais und Gerste richten — dem Panje-Gäulchen ein paar Handvoll Hafer und viel Häcksel in die Krippe schütten — die weisse Saanenziege melken für das Frühstück. Beim Einbrocken des Schwarzbrotes in die Milchteller horchte die junge Frau auf.
„Komisch, dass sie um die Zeit vom Kirchturm in Stoissham läuten!”
„Ich hör’ es auch von Osterried drüben!” sagte das keine Stimmchen der Lütte.
„Vorhin ist ein Mann vorbeigegangen”, verkündete der Hansel eifrig mit vollen Backen. „Er hat g’sagt, dös wär’ fei’ a Sturmläuten — meinte derselbige . . .”
„Hansel — sei so gut und sprich hochdeutsch!”
„. . . weil es den Bauern bald zu eng wird!” schloss der Bub. „Mutti: bring’ doch a rechte Kuhschellen aus der Stadt mit, damit ich auch Sturmläuten kann!”
„Ach — helft lieber die Eier packen!”
Die Trinkeier trugen alle den blauen Stempel „Farm Erika” und das Datum. Die seinen Fingerchen der Kinder reichten sie behutsam in die Pappfächer der Versandschachteln. Ihre Mutter verpackte inzwischen mit ihren kleinen, peinlich sauber abgeseiften, aber arbeitsroten Händen die geschlachteten und gerupften jungen Hühner in die Eisenbahnkörbe. Die Begleitadressen für die Geflügelhandlung in München lagen schon bereit. Jetzt kam das Hauptstück: das Panjepferdchen.
„Mutti, heut’ ist die Kathinka wieder mal arg grantig!” kam der Hansel aus dem Stall. Die struppige Zwergstute war steinalt. Sie hatte ihre Kriegserinnerungen aus den Karpathen und hielt nicht mehr viel vom Leben. Es gab einen Kniff, ihr von der linken Seite, wo sie auf dem Auge blind war, beizukommen, ehe sie mit dem linken Hinterhuf auskeilen konnte — auf dem vorderen Knickebein war sie ohnedies lahm — um ihr dann schnell das Kopfgestell über die Ohren zu ziehen.
Gertrud Hellwig hatte darin Übung. Sie sass auf dem Bock des Wägelchens, Zügel und Peitsche in der Hand, Eierkasten und Geflügelkörbe hinter sich. Jetzt sah sie wirklich in dem breitrandigen, grauen Filzhut, der knappen, grauen Jacke mit Hirschhornknöpfen, dem kurzen, grauen Rock und den hohen Stiefeln wie eine Farmerin aus.
Sie fuhr los. Dies Haus Erika musste inzwischen der drinnen eingesperrte Ajax, der grosse Kälberhund, mit seiner warnenden Donnerstimme bewachen. In Stoissham setzte Gertrud Hellwig den Hansel und die Lütte bei der Pflegeschwester vom dritten Orden, der Kordula, ab.
„Ich bitt’ Sie: verwahren Sie mir irgendwo die Kinder, wenn sie aus der Schule kommen, bis ich wieder zurück bin! Ich lass sie nicht allein nach Hause gehen! Der grässliche Mensch, der Radl-Kramer, ist wieder in der Gegend!” bat sie, Unruhe in den braunen, lebhaften Augen und auf den hübschen, windgeröteten Zügen, die Tertiarerin, deren vollwangiges, blühendes Matronengesicht unter der grossen weissen Flügelhaube nickte.
„Ist schon recht! Aber wollen Sie denn wirklich gerade jetzt nach Pfaffing? Dort ist’s heut’ nicht recht sauber!”
„Ich muss! Sonst steigt mir der Händler in München aufs Dach. Eine Geschäftsfrau muss pünktlich wie ’ne Uhr sein, Schwester!”
„Ich lauf’ in einer Stunde auch nach Pfaffing hinein ins Schwesterhaus!” sagte die rotbäckige Pflegerin Kordula. „Aber für den Bub und das Dirndl wird hier gesorgt. Da dürfen Sie sich darauf verlassen! Gute Reis’!”
Sonderbar leer war bei der Durchfahrt das Moordorf Stoissham. Nur der uralte Bacherlvater stand gichtbeinig da, baumlang und zaunackerdürr, mit seinem weissen Schopf.
„Wo die Mannsbilder alle hin sind?” kicherte er zu der jungen Frau, die die Zügel anzog. „Ich hab’ net mehr mitlatschen können, mit meinen krummen Haxen, sondern bloss mit Sturm geläutet. Sie, Frau — das war a Gaudi! Jetzt sind’s alle nach Pfaffing geradelt! Und noch ein Leiterwagen voll mit! Von Osterried sollen’s gar mit dem Autobui gekommen sein. Von überall her! Hört’s die Glocken läuten? Dös haut, sag’ i!”
„Sagen Sie, Bacherl — sind . . . sind auch welche aus den Filzen mit?”
„Dös glaubst! Ein ganzer Haufen Torfstecher is heut’ schon in aller Früh’ durchmarschiert! Der Lange, der Gefährliche — Sie kennen ihn g’wiss auch, Frau — der war voraus! So is recht — fangt’s sie nur zusammen, die Schlawiner aus München, aus dem Steinhaufen, dem verdächtigen!”
„Sch — lass du deine Sprüch’, du alter Haberer!” rief unter der Tür die schwarze Wirtsmarei, bei der der Bacherl tief in der Kreide sass.
„Gleich hältst dei’ Dreckschleuder!”
„Du alter Wilderer — du ausg’schamter, du . . .”
Der Bacherlvater bewegte in Erinnerung an seine wilde Jugend bedeutsam die dürren Lippen. „Ich mein’ als, das schmeckt heut’ nach Blut in Pfaffing!”
Unruhig belebt war die Landstrasse nach dem Marktflecken. Leute zu zweit auf Motorrädern, andere auf einfachen Radeln, welche zu Fuss — das kam von den Einödhöfen über die Feldwege her — das kutschierte mit leichten Schimmerln — alles musste auf das Städtchen Pfaffing hin und strömte durch die enge Spitzwölbung des alten Torturmes auf den weiten, rechteckigen Marktplatz, um den sich nach altem oberbayrischem Brauch die niederen Häuser reihen.
Da, auf dem Markt, findet einer alles, was zu solch einem wie aus der Spielzeugschachtel gepackten Städtchen gehört: das Pfarramt, die Apotheke, das Rathaus, das Amtsgericht, das Weissbräu, das Gasthaus zum Löwen und daneben der Notar. Von dessen Aussenschild und Klingel ist nichts zu sehen. Wenn schon der ganze Marktplatz schwarz ist von Menschen, so stehen sie da knüppeldick, die Leut’, und der heissblütige Kreuzpointner aus Stoissham sagt triumphierend zu der jungen Frau auf dem Wägerl:
„Da derf er sich mal durchdrucken, der Münchner! Wann er angerückt kommt und bieten will!”
„Ja — aber wie soll ich denn da durch? Herrgott — das ist doch dort um die Ecke der einzige Weg nach dem Bahnhof! Ich muss ja hin, mit meinen Eiern und Hühnern! Ich versäum’ sonst den Zug . . .”
„Ja — da schaut’s dumm her! Die Leut’ sind zu aufgeregt. Die gehn net aus dem Weg!” Der Kreuzpointner blickte ratlos auf das Gedränge. „Gerad’ wie wenn die Bienen stossen, hängen sie im Klumpen am Notar seiner Tür!”
Aber da fasste einer — ein Sehniger, Langer mit blauen Augen über dem dunklen Vollbart — ein Sonnengebräunter, der heute nicht die abgerissenen Torfstecherhabern, sondern ein leidliches, bürgerliches Gewand am Leib hatte — also dieser stellte sich vor das vielgeprüfte Panjepferd hin und nahm es dicht am Maul an den Zügeln.
„Geben Sie acht! Das Biest beisst!” schrie Gertrud Hellwig. Aber der Tagelöhner aus dem Torfstich verstand mit Pferden umzugehen. Rückwärts tretend zog er die Kathinka und das Wägelchen mit sich, er bahnte sich eben durch deren Wucht mit dem Rücken einen Weg durch den Bauernbann. Plötzlich waren sie draussen, und die beiden, die Farmerin und der Filzenarbeiter, schüttelten sich lachend die Hand, als wären sie alte Freunde.
„Schönen Dank!” Gertrud Hellwig schaute nach der Stationsuhr des Klingelbähnchens. „Aber Zeit hab’ ich verloren. Um Gottes willen — gleich fährt der Zug — ich komm nicht mehr zurecht mit meinem Kram!”
„Zu zweit schaffen wir’s!”
Die letzten Reisenden, Kälber und Milchkannen waren eben eingeladen. „Herrgottssakerment — wo kommt’s denn ihr zwei noch her — mit euren Körben und Schachteln? . . . Nix wie rein damit! Geht gerad’ noch!”
Das Zügle rollte fern in bedächtiger Schnelle davon. Gertrud Hellwig sagte, noch atemlos:
„Jetzt muss ich das Pferd einstellen . . . gegenüber in der Bahnhofswirtschaft . . .”
„Und dann?”
„Dann muss ich warten, bis sich die Kathinka für die Rückfahrt verschnauft hat. Sie soll ja schon siebenundzwanzig Jahre alt sein. Ein, zwei Stunden heisst’s jetzt schon hier sich die Beine vertreten!”