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5. Andere sonderbare Männer

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Auf dem schmalen Trottoir sah Modesto zum zweiten Mal an diesem Tag den Nachbarn, der ihm mit Stock und Mops an der Leine entgegenkam.

Schulter an Schulter blieben die beiden Männer stehen, wie im Theater, wenn ein Schauspieler abgeht und gleichzeitig ein anderer die Bühne betritt und beide mit ihren Blicken die Wirkung des Konkurrenten taxieren und sich Gedanken über die Dummheit des Impresarios oder des Publikums machen, die diesen Wechsel auch noch gutheißen. Sie wären noch länger so dagestanden, hätte nicht ein Hupen sie aufgeschreckt und gezwungen, ihren Weg fortzusetzen – der Alte langsam, vom Rhythmus des Stocks begleitet, der Mann im Regenmantel hastig und fast hüpfend.

Die Straßenzüge wirkten grau im spärlichen Licht, die unterschiedlich hohen Gebäude waren fahl geworden, und beim Anblick der Arkaden und Hauseingänge musste Modesto an ein von Menschen durchströmtes Rohrsystem denken.

Als er zu einer Piazza kam, sauste ein Fahrrad vorbei, auf dem eine junge Frau mit rotem Haar und einem leichten, grünen Mantel saß, der unter dem runden Gesäß in Falten lag. Er blickte ihr nach: Wie sie in eine von gelblichen Rasenstücken und ein paar Bänken getupfte Allee abbog, und als sie klingelnd um die Ecke verschwand, hatte Modesto das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. Er drehte sich abrupt um, suchte die Umgebung ab, konnte aber niemanden entdecken.

So lief er weiter, an ein paar Baustellen vorbei, wo die Rufe von Arbeitern, der Lärm quietschender Flaschenzüge und aufschlagender Eimer widerhallten. Dann quer über eine stark befahrene Straße, die rund um eine Art erhöhte Bauminsel voller Skulpturen aus weißem Stein führte. Ein Automobilist streckte seinen kahlen Kopf zum Fenster heraus und raunzte ihn an.

Modesto erreichte den Eingang dieses abgeschiedenen Areals, das in Wirklichkeit ein Friedhof war. Wenn er sich vor dem Aufstoßen des Tors nicht noch einmal umsah, lag das nicht etwa daran, dass sich sein Eindruck, beobachtet zu werden, inzwischen gelegt hätte, er war im Gegenteil zur Gewissheit geworden, sodass es sich gar nicht mehr lohnte, überhaupt darauf zu achten.

Unter dem düsteren Himmel schimmerten die Figuren auf den Gräbern blass silbrig, wie eine Schar an Land katapultierter, dank einer klimatischen Besonderheit fast unversehrt gebliebener toter Fische, mit offenen Kiemen und starrem Blick. Er war zum zweiten Mal hier. Beim ersten Mal, kurz nach Kriegsende, hatte die Märzsonne auf Löcher im Gelände, zerbrochene Marmorplatten und mehrere umgestürzte Bäume herabgeschienen, aber aus Spalten neben den Grabsteinen sprossen wie zum Trotz violette Blumen.

Nach ein paar Schritten auf dem Kiesweg, an dessen Ende eine Säule prangte, setzte er sich auf das erstbeste flache Grab. Er streckte die Beine, fasste die Schöße des Regenmantels und legte sie übereinander auf die Knie, schaute sich dann um. Vor ihm, auf der anderen Seite des Streifens aus Kies, ragte über ein paar Grabsteinen eine Zypresse in die Höhe. Zwei Blätter einer Zeitung hatten sich in ihren Zweigen verfangen.

Er knöpfte den Regenmantel auf, kramte in der Tasche des Jacketts und nahm das Stück Brot heraus, das er zu Hause eingesteckt hatte. Verschlang es in so großen Bissen, dass er davon Schluckauf bekam. Als der nachzulassen schien, hörte er, eine Hand auf das Brustbein gepresst, hinter sich ein Rascheln.

Er drehte sich langsam um – am Gaumen klebte ihm noch Brot – und sah einen alten Mann, der hinter einer Skulptur, einem Skelett mit Kapuze und Augenbinde, hervorkam und sich gerade die Hose zuknöpfte.

Während der Alte sich näherte, fiel Modesto sofort auf, dass ihm eine Hand fehlte und dort stattdessen eine Blechtasse befestigt war – der Henkel schaute wie ein zugeklapptes Messer unter der schmutzigen Manschette hervor.

Modesto sprang auf. Der alte Mann, tiefe Augenhöhlen und gelber Schnurrbart, blieb ganz in der Manier eines Hausherrn ein paar Schritte vor ihm stehen und fuchtelte wortlos mit dem verstümmelten Arm herum, um auf etwas jenseits des Friedhofs zu deuten, irgendwo weit weg.

Modesto machte einen Satz auf ihn zu und schrie: »Warum stellst du mir nach?«

Der Alte wich erschrocken zurück, suchte nach einer Stütze, einem Gegenstand, sah einen roh bearbeiteten Ast an einem Grab lehnen, machte wegen des verstümmelten Arms eine halbe Drehung, um danach greifen zu können. Fuchtelte damit durch die Luft und wies dem vor ihm stehenden Eindringling den Weg zum Ausgang des Friedhofs.

Eine graue Krähe flatterte über ihre Köpfe und setzte sich unweit der Zeitung auf die Zypresse.

Modesto lief zum Tor, gefolgt vom alten Mann, der ihm in einer fremden Sprache etwas hinterherschrie. Auf der Schwelle blieb er einen Augenblick stehen, drehte sich um und sah, dass der Alte noch nicht einmal die halbe Strecke zurückgelegt hatte: Er hielt den Ast umklammert, während die andere Hand, die verstümmelte, hinunterbaumelte, und kam nur mühevoll vorwärts, da er Kiesel, Blätter, Dreck mitschleppte. Modesto musste lachen, hinter ihm rasten Autos vorbei, und beinahe hätte er einen Stein aufgehoben, um ihn in Richtung seines Verfolgers zu werfen, einfach so, zum Spaß, wie auf einen Hund, aber dann ließ er es doch sein. Stattdessen hob er zum Abschied den Arm und überquerte die Straße im Laufschritt.

Er kam an einer Synagoge vorbei, deren Kuppel Grünspan in den weißen Himmel zu schleudern schien. Jahre zuvor hatte er die Synagoge, erinnerte er sich, im Zustand der Verwüstung gesehen: Peitschender Wind hatte Schnee hereingetragen und an den verkohlten Holzsitzen gerüttelt, und obwohl der Krieg vorbei war, hallte unaufhörlich der Lärm berstender Materialien nach, als hätte die Wirkung jede Verbindung mit der Ursache verloren.

Pfeifend, die Hände in die Taschen gesteckt, kam er in die Florentiner Viertel, die so zeitlos waren, dass ihnen das Alter kaum anzusehen war und sie wie soeben entstanden gewirkt hätten, wären da nicht die Quader und Zinnenkränze einiger Palazzi gewesen, die herausstachen wie Signaturen unter einem zu oft umgeschriebenen, durch den Gebrauch so verblassten Dokument, dass man es auch für ein weißes Blatt hätte halten können.

Unter einem Arkadenbogen, nach einem Schaufenster, blieb er unvermittelt stehen. Machte ein paar Schritte zurück, studierte die ausgestellte Ware, blickte sich um und trat ein.

Der Verkäufer teilte ihm mit, die Stiefel seien aus Ziegenleder, und fing an, sie zu beschreiben, als würde Modesto nicht selbst sehen, dass sie einen hohen Schaft, eine seitliche Knopfleiste, dicke Sohlen hatten.

»Ich nehme sie«, sagte er, und es klang eher wie ein Befehl, wofür auch der Umstand sprach, dass der Verkäufer gleich auf der Galerie des Ladens verschwand und sich eine ganze Weile nicht mehr blicken ließ.

Als er wieder herunterkam, die Arme auf Brusthöhe erhoben, die Hände gekrümmt, leer, auch wenn es den Anschein hatte, als würde er etwas Quadratisches tragen, entschuldigte er sich, die gewünschte Größe sei ausverkauft, beziehungsweise sei nur noch das Schaufensterexemplar verfügbar. Modesto atmete laut aus, sagte dann, das gehe auch. Der Verkäufer beugte sich über die Auslage und griff mit einer langen Zange nach dem Stiefel. Behielt ihn in der Hand, um ihn abzuklopfen, und streckte ihn dann Modesto hin, bevor er von Neuem auf der Galerie verschwand.

Dann tauchte er wieder auf, und diesmal sah es aus, als trüge er etwas Größeres – die Ellbogen standen weiter von den Rippen ab, die Finger waren gespreizt.

»Es tut uns schrecklich leid«, seufzte er, »aber aus irgendeinem Grund ist der Zweite unauffindbar.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Und was soll ich mit einem einzelnen Stiefel?«

»Schauen Sie, man könnte ihn mit einem größeren ergänzen.« Er lächelte, wurde rot und brachte einen zweiten Stiefel. »Den können Sie auspolstern, man wird den Unterschied kaum bemerken.«

»Gut«, sagte Modesto. »Ich probiere sie an.«

Er setzte sich auf einen Hocker, schlug die Beine übereinander und zog die Schuhe aus. Während er den ersten Stiefel überstreifte, den in der passenden Größe, sagte er: »Wissen Sie, mir sind die beiden kleinen Zehen erfroren.«

»Wie das?«, fragte der Verkäufer, die Hände über der Brust gefaltet, jede Bewegung des Kunden aufmerksam verfolgend.

Modesto erhob sich und stampfte mehrmals auf.

»Erst Nummer eins, dann Nummer zwei.«

»Bitte, Nummer zwei.« Der Verkäufer streckte ihm den zweiten Stiefel hin.

»Ich meinte die kleinen Zehen.« Er setzte sich wieder hin. »Zuerst Nummer eins, dann Nummer zwei.«

»Probieren Sie mal den Zweiten an.«

»Im Abstand weniger Tage.«

»Hier können Sie etwas Watte hineinstopfen.« Der Verkäufer beugte sich vor und tippte die Spitze an.

Modesto erhob sich wieder. »Und das, obwohl ich sie beide immer genau gleich eingebunden habe.«

»Oh, Sie brauchen sie doch nicht einzubinden.«

»Natürlich nicht.« Modesto sah auf seine Füße hinunter.

Der Verkäufer klatschte in die Hände. »Die passen ja wie angegossen!«

Beim Verlassen des Ladens hatte Modesto den Eindruck, jemand, der ihn an der Ecke abpassen wollte, würde sich durch eine Seitenstraße aus dem Staub machen. Er setzte seinen Weg trotzdem fort, warf ein paar Bögen weiter seine in Seidenpapier gewickelten alten Schuhe in eine Mülltonne. Schaute sich um, erblickte ein Fotostudio und blieb stehen. Zögerte kurz, trat dann ein.

Er erkundigte sich nach den Preisen, nahm dann auf einem fransenbewehrten Damastsessel Platz, um sich fotografieren zu lassen, die Beine übergeschlagen, die Stiefel neu, ohne dass man ihnen irgendwie angesehen hätte, dass einer größer war. Der Fotograf, ein alter, etwas tauber Herr, musste dreimal nachfragen, bis er verstand, dass der Kunde »mehr Inszenierung« wünschte. Daraufhin holte er aus der Abstellkammer eine Stoffpuppe, die sonst bei kleinen Mädchen zum Einsatz kam, sowie eine lädierte Reisestaffelei. So würde auf dem Foto neben den Stiefeln auch die Staffelei zu sehen sein, und krumm daraufgesetzt anstelle eines Gemäldes die Puppe.

Als Modesto ihm nach dem Bezahlen die Adresse gab, an die er die Fotografie schicken sollte, fragte der Mann unvermittelt:

»Woher kommen Sie?«

In der einen Hand hielt er das Geld, in der anderen die Puppe, um sie in die Abstellkammer zurückzubringen.

»Sie scheinen mir nicht von hier zu sein.«

Modesto ging zur Tür. »Auf Wiedersehen«, sagte er und packte die Türklinke.

»Wie bitte?«, fragte der Fotograf.

Dann kehrte Modesto plötzlich wieder um: »Wie viel wollen Sie für die Staffelei?«

Er verließ das Fotostudio mit einem Holzkasten unter dem Arm. In der Nähe musste es auch einen Laden geben, in dem man Leinwand, Farben und Pinsel kaufen konnte.

Draußen gingen die Straßenlaternen an, mehrere gelangweilt blickende Paare liefen unter ihnen durch, ohne dass sie es gemerkt hätten.

Drei Lebende, drei Tote

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