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1. Der Neuntöter und der Mann

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Er schlug die Augen auf. Seine Frau schlief neben ihm auf dem Rücken und schnarchte leise. Ein paar Minuten lag er reglos da und starrte die Decke an, die Arme über dem Laken auf dem Bauch ausgestreckt. Durch das Fenster drang die Morgendämmerung herein, ein Fahrrad quietschte, ein junger Mann sang vor sich hin. Er setzte sich auf und knetete die Füße, bevor er in die Pantoffeln schlüpfte.

Dann trank er ein Glas Wasser und sah sich ohne sonderliches Interesse die Post an. Den Geräuschen aus dem Schlafzimmer nach zu schließen, war inzwischen auch seine Frau aufgestanden.

Als er ihn in den Händen hielt, dachte er zuerst an einen Scherz, aber genau besehen machte ihm dieser gelbe Umschlag doch einen ziemlich ernsten Eindruck: die Briefmarke mit dem Papst, die zierliche, maßvolle Handschrift … Irgendetwas daran wirkte nicht minder real als der Postbote, der ihn hergebracht hatte, oder der Briefkasten, durch dessen Schlitz er ihn eingeworfen hatte. So setzte er sich hin.

Er las ihn mit angehaltenem Atem. Der Brief war anonym, maschinengeschrieben, die »s« dunkler als die anderen Buchstaben, wie kleine Drahtfedern auf dem Sprung, in fast jeder Zeile, und als eine Art Schlusspunkt gab es da diese Beleidigung, die ihm eine Weile durch den Kopf wirbelte, sich dann nach und nach setzte.

Er stand auf, strich sich über den Haaransatz, der im Laufe der Jahre allmählich Richtung Nacken gewandert war, und trat ans Fenster. Las, an den Fensterpfosten gelehnt, den Brief ein zweites Mal, in einem anderen Licht, was am Sinn dieser Worte jedoch nichts zu ändern vermochte:

Werter Herr Lehrer,

glauben Sie ihnen nicht, jenen Dichtern, die behaupten, die Wahrheit sei so nichtig wie die Lüge. Nicht immer kommt man in der Blüte des Lebens mit einem maroden Ruder weiter, denn sobald es ans Verlesen der Namen geht, wird alles samt und sonders an die Oberfläche steigen, die Schreckgesichter ebenso wie die alten Fehler. Und einen Namen haben sie, diese Toten, mag er auch vergessen sein, wohingegen sich über Sie große Stille herabsenken wird. Was jenes Ruder betrifft, mit dessen Hilfe Sie ans andere Ufer übergesetzt haben, so vermodert es nun im Seichten, wie alles, was aus dem Wasser gekommen ist und von diesem wieder zersetzt wird. Deshalb sage ich Ihnen: Eher noch als ein Mörder sind Sie ein ausgemachter Dummkopf.

Er schob die Vorhänge ein wenig zur Seite, sah nach draußen. Im großen Innenhof verfolgten sich zwei schnappende Hunde; neben der Rabatte lag ein umgekipptes Dreirad; ein Herr mit Borsalino und braunem Mantel erfragte eine Auskunft bei einer Frau im Kittel, die am anderen Hofende Wäsche aufhängte.

Der Mann wandte sich ab, ging zum Vitrinenschrank, zog ein Buch mit verblasstem, zerfasertem Rücken hervor und legte es auf den Schreibtisch. Beugte sich im Stehen darüber und blätterte. Es war Der kleine Lavater. Bald fand er die gesuchte Seite und las, mit dem Finger den Zeilen folgend:

Eigenschaften des Dummkopfs. Hinterhaupt sehr rund; kurzer Hals; breite, runde, fleischige Stirn; Auge matt, träge, ausdruckslos; großer, grober Kiefer; kurze, feste Beine, dicke Hüften, Gelenke von kleinem Umfang; Gliedmaßen schlecht gebaut; volles, großes Gesicht; Bewegungen plump.

Er blickte zuerst auf seine Beine hinunter, die tatsächlich etwas stämmig waren, betastete dann, während er das Buch mit zwei Fingern der einen Hand aufgeschlagen hielt, mit der anderen seinen Kiefer. Aus der Küche hörte er Geschirrklappern.

»Hey, Aurora, hör mal …«

»Ja?«

»Sag, findest du meinen Blick träge und ausdruckslos?«

»Wie soll dein Blick sein?«, klang es schrill zurück.

»Ist mein Gesicht voll und groß?«

»Ich verstehe dich nicht. Red lauter!«

»Schon gut, vergiss es«, sagte er und legte das Buch wieder auf den Schreibtisch.

»Der Kaffee ist fertig. Kommst du?«

»Nein.«

Er ging ins Wohnzimmer, sank auf das Sofa und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. Zunächst betrachtete er die grauen Feuchtigkeitsflecken an der Decke, dann sah er zum Fenster: Zwei Spatzen hüpften über den Ast des Zürgelbaums.

»Was hast du?«, schreckte ihn die Stimme seiner Gemahlin auf, die in der Tür stand. »Kommst du endlich zum Frühstück?«

»Okay, okay.«

Er stand auf und schlurfte in die Küche.

»Hast du einen Brief bekommen?«, fragte Aurora am Tisch. »Du hattest einen Umschlag in der Hand.«

»Weißt du, was ein Neuntöter ist?«, gab er zur Antwort.

»Ein Neuntöter.«

»Ein Neuntöter.«

»Keine Ahnung«, Aurora lächelte über ihrer dampfenden Tasse, »was denn?«

»Ein Vogel«, sagte er. Er hielt den Löffel über der Zuckerdose und drehte ihn zwischen den Fingern, ohne sich entschließen zu können, wie gewohnt zweimal zu nehmen.

»Und was ist mit diesem Vogel?«

»Wenn er eine Beute erwischt«, er sah ihr direkt in die Augen, »verspeist er sie nicht sofort.«

»Aha«, sagte Aurora und goss sich die letzten in der Kanne verbliebenen Tropfen Kaffee nach.

»Er spießt sie an Dornen auf«, nun tauchte er den Löffel doch in die Zuckerdose und verstreute ringsum Zucker, »und frisst sie erst später auf.«

»Aha.«

»So macht er das«, sagte er und seufzte, gab endlich zwei Löffel in den Kaffee, rührte.

»Kommst du über Mittag nach Hause?«, erkundigte sich Aurora, drückte die Fingerkuppe des Zeigefingers in den verschütteten Zucker, führte ihn zum Mund und zerknabberte die Kristalle mit den Vorderzähnen.

»Weiß ich nicht«, antwortete er zwischen zwei Schlückchen.

»Wie, weißt du nicht?« Seine Frau hörte auf, Zucker aufzusammeln. »Lehrerkonferenz?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Ich weiß es nicht und fertig! Darf ich endlich in Ruhe meinen Kaffee austrinken?«

Aurora sah auf seine leere Tasse hinunter.

Drei Lebende, drei Tote

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