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KAPITEL 5
ОглавлениеVor drei Wochen, in Jerusalem, Israel
Vier Männer in teuren Anzügen schauten sich in fassungsloser Stille das Video an. Als es vorbei war, lehnten sie sich mit langen Gesichtern zurück. Der würdevoll aussehende, grauhaarige Mann am Kopf des Tisches – Jacob Weinstein, seines Zeichens Präsident der ARCA Handelsflotte – beugte sich schließlich nach vorn und holte tief Luft.
»Ich dachte, diese Piraten kümmern sich gut um ihre Geiseln«, zischte er.
»Das ist normalerweise auch so. Offenbar haben wir es hier mit einem ganz neuen Vorgehen zu tun. Normalerweise interessieren sie sich nur für das Geld, und vermeiden es, mit dem Töten von Geiseln ihre Verhandlungsmasse zu dezimieren. Damit haben wir nicht gerechnet«, gab David Cohen, der Vizepräsident, zu.
»Ja, das merke ich. Sie ermorden jetzt unsere Männer, nur weil du dachtest, wir könnten etwas Geld sparen, wenn wir die Sache hinauszögern. Dann schicken sie uns Aufnahmen von diesem Gemetzel, und alles, was dir dazu einfällt, ist, dass es ein neues Vorgehen ist?«, fluchte Jacob lautstark.
»Jacob, wir konnten doch im Vorfeld nicht davon ausgehen, dass wir es mit absoluten Psychos zu tun haben. So etwas ist noch nie zuvor passiert! Wir haben einfach die gleiche Strategie benutzt, wie jede andere Firma vor uns. Es ist unterm Strich ein ganz normales Geschäft, und dabei will man nun mal nicht mehr Geld verlieren als unbedingt nötig. Wir haben uns das nicht ausgedacht, wir haben nur versucht, unter den gegebenen Umständen das Beste zu tun. Wir haben einfach nur Pech, dass wir es offenbar mit der Piraten-Version von Dschingis Khan zu tun haben.«
»Du hast die Übersetzung doch gehört. Er hat vor, die nächsten drei Gefangenen in … vier Tagen zu ermorden«, sagte Jacob mit einem Blick auf die Uhr. »Ich denke, wir sind uns wohl alle einig, dass wir dringend etwas tun müssen. Sie wollen fünf Millionen. Ich sage, wir geben ihnen drei und vergessen das Ganze.«
David schüttelte den Kopf.
»Da muss ich dir leider widersprechen. Wenn wir jetzt einknicken, werden wir das neue Lieblingsopfer dieser Piraten sein, und dieses Vorgehen wird außerdem salonfähig. Das wird zu vielen weiteren Todesopfern führen, und zu noch größeren Lösegeldsummen. Bei allem Respekt, wir können ihnen keine Millionen als Belohnung zahlen, wenn sie so ein Blutbad anrichten. Damit senden wir die falsche Message.«
Jacob deutete auf den Monitor. »Die falsche Message? Siehst du denn nicht, was ich sehe? In vier Tagen werden die drei weitere Unschuldige ermorden! Was glaubst du, denken unsere Männer auf diesem Schiff über irgendwelche Messages? Was würden ihre Familien dazu sagen? Grundgütiger, wenn das an die Medien gerät … das wäre ein Desaster. Denk doch nur mal an die Gerichtskosten. Wir wären ruiniert«, stammelte er.
»Meine Herren, ich denke, es ist allen klar, dass diese Informationen den Raum niemals verlassen dürfen. Ich möchte gern kurz mit Jacob allein sprechen. Dürfte ich Sie deshalb bitten, vor die Tür zu gehen?«, meinte David an die beiden anderen Anwesenden gerichtet. Die Männer nickten und erhoben sich, schon fast dankbar, sich aus dem Gespräch ausklinken zu können. Jacob war vielleicht der Präsident, aber David leitete die Firma. In politischen Kreisen war Jacob ein echter Tausendsassa und hatte mächtige Kontakte, durch die die Firma in den letzten dreißig Jahren immer mehr florierte, doch es war David, der sich um das Tagesgeschäft kümmerte, und der im Endeffekt auch die Entscheidungen traf.
»Natürlich, David. Ich bin in meinem Büro, wenn du mich brauchst. Abner, wie wäre es mit einem Kaffee?«, fragte der Größere der beiden.
»Das klingt nach einem guten Plan. David, Jacob, ich möchte nur, dass ihr wisst, dass ich hinter eurer Entscheidung stehen werde, wie immer sie auch ausfällt. Dieser Vorfall ist äußerst tragisch, aber wir müssen dennoch das große Ganze im Blick behalten«, erklärte Abner, der Finanzchef der Firma. Mit dem großen Ganzen meinte er natürlich die Kosten.
Nachdem die beiden den Raum verlassen hatten, stand David auf und fing an nervös auf- und abzugehen.
»Das ist viel mehr als ein tragischer Vorfall. Wir müssen ihnen unbedingt einen Knochen hinwerfen und zusehen, dass Gras über die Sache wächst«, erwiderte Jacob.
»Da bin ich mir nicht so sicher. Meiner Meinung nach ist dieser Weg genau der Falsche. Lass uns doch lieber mal in Ruhe nachdenken. Vielleicht bietet sich hierbei ja sogar eine Chance«, sagte David in Gedanken versunken. »Das Schiff und seine Fracht sind komplett versichert, wenn wir nichts von den Piraten wüssten, würden wir das Schiff also einfach abschreiben. Unsere Beiträge würden danach natürlich durch die Decke gehen, aber das wird jetzt sowieso passieren – egal ob wir das Schiff zurückbekommen oder nicht.«
»Aber das ist doch nur die ökonomische Seite, David! Was ist mit den Menschen?«
»Du hast diese Leute doch nicht umgebracht. Diese Wilden sind die reinsten Tiere! Die machen Unvorstellbares, das sind brutale Mörder. Ich habe vielleicht noch keinen perfekten Plan, aber ich weiß zumindest, dass man mit Geisteskranken nicht verhandeln sollte.«
»Wir müssen bezahlen, David! Wenn sich das rumspricht, wird es das Ende unserer Firma sein. Die Anwälte werden uns in den Ruin treiben und uns auch zivilrechtlich ausnehmen. Unser Ruf wäre für immer dahin!«
»Es wird sich aber nicht rumsprechen. Die werden das doch niemandem erzählen. Publicity können die sich gar nicht leisten, sonst würde doch jedes Kriegsschiff in der Gegend Kurs auf sie nehmen, und dann ist das Spiel für sie aus. Die werden nicht reden. Und vergiss nicht: Die sind die Mörder, nicht wir!«
»Ich glaube, mir gefällt die Richtung, in die du denkst, ganz und gar nicht.«
»Lass mich doch erst mal ausreden. Selbst, wenn wir das Geld bezahlen, werden wir uns anschließend im Zentrum einer Untersuchung wiederfinden, und dort wird die Frage aufkommen, warum wir nicht schneller waren und ob wir das Gemetzel nicht irgendwie hätten verhindern können. Anschließend kommt dann die Prozesswelle von den Angehörigen der Opfer, und die wird wirklich hart, denn es gibt ja Zeugen … die überlebenden Mitglieder der Crew.«
»Dann verlieren wir so oder so. Warum zur Hölle haben wir überhaupt zugelassen, dass das Ganze so außer Kontrolle gerät, David? Warum haben wir nicht einfach sofort bezahlt?«
David betrachtete Jacob mitleidig und verschränkte die Arme vor der Brust. »Beruhige dich erst mal und versuch, dich in die Sache hineinzudenken. Wir haben hier eine echte Chance. Eine, die eine ganze Reihe von Problemchen für uns lösen wird. Denk doch nur mal an Sodom.«
Die Erwähnung dieses Namens, der ein Code für ein Geheimnis war, über das normalerweise niemals gesprochen wurde, ließ sofort sämtliche Farbe aus Jacobs Gesicht weichen.
»Bist du jetzt vollkommen durchgedreht, mir damit zu kommen? Was zur Hölle hast du vor … wovon redest du überhaupt? Ich verstehe gar nichts mehr!«
David senkte jetzt seine Stimme: »Jacob, wir haben hier eine Situation, die alles, was du in deinem Leben erreicht hast, vernichten könnte. Wir beide könnten alles verlieren. Es wäre das Ende von allem, was wir aufgebaut haben, und was dein Vater aufgebaut hat. Das darf nicht passieren. Wie tragisch es auch ist, dass die Besatzungsmitglieder in diese Situation gebracht wurden, es ist letzten Endes nicht unsere Schuld. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass diese Krise jahrzehntelange Arbeit und Investitionen in Millionenhöhe vernichtet. Wir sind doch so nah dran, die Zukunft zu verändern!«
Jacobs Augen wurden daraufhin zu Schlitzen. »Was genau hast du vor, David?«
»Ich denke gerade nur laut. Was ist die größte Hürde, die Sod…, ich meine, unser Projekt, noch zu meistern hat? Was hat uns in den letzten zwei Jahren zu schaffen gemacht?«
»Die Durchführbarkeit.«
»Ganz genau, und hier hat uns das Schicksal vielleicht eine Möglichkeit geliefert. Die Lösung unserer Probleme! Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir den Rat einberufen. Je eher, desto besser.«
»Den Rat?«, flüsterte Jacob ehrfürchtig. »Was hat denn unsere Piratensituation mit dem Rat zu tun?«
»Alles«, entgegnete David, zog den Stuhl neben Jacob hervor und setzte sich. Mit gesenkter Stimme begann er zu sprechen und ihm alles im Detail zu erklären.
Zehn Minuten später taumelte Jacob aus dem Besprechungsraum. Er fühlte sich unfassbar müde und, paradoxerweise, gleichzeitig absolut energiegeladen. Er ging zu seinem palastartigen Büro, das einen Ausblick über die ganze Stadt bot. Aus seinem Safe nahm er jetzt eines der bereitliegenden Wegwerftelefone und begann mehrere Anrufe zu tätigen. Nach einer halben Stunde hatte er alle erreicht. Termine wurden verschoben, Entschuldigungen erfunden, und ein Treffpunkt aus den im Vorfeld vereinbarten Möglichkeiten ausgewählt.
Der Rat würde zusammenkommen, um das Problem zu besprechen, und auch die Möglichkeit, die David in dem Ganzen sah. Seine Denkweise war absolut nachvollziehbar und vielleicht war das genau die Chance, auf die sie alle so lange gewartet hatten. Es würde sich allerdings noch zeigen müssen, ob es wirklich so war. Doch als Jacob das letzte Gespräch beendet hatte, fühlte er sich gestärkt. Er nahm das Telefon auseinander und veranlasste, dass die Einzelteile in verschiedenen Mülltonnen in Jerusalem entsorgt werden würden.
Schon morgen Abend würde sich der Rat treffen, und seine Entscheidung könnte die Welt für immer verändern. Jacob seufzte leise, als er sich in seinem Chefsessel niederließ und der Sonne beim Untergehen zusah.
Morgen würden sie sich treffen, und die Erde würde erzittern.
In seinen Knochen spürte er ein aufregendes Kribbeln. Vielleicht hatte David recht und er war einfach nur zu blind gewesen – nein, zu ängstlich – um selbst darauf zu kommen.
Vielleicht war es endlich an der Zeit.
Bald würde er es wissen.