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KAPITEL 1

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Vor vier Wochen, in Genua, Italien

Kalter Regen fiel vom stahlgrauen Himmel und der unnachgiebige Wind, der die Wolken vorantrieb, brachte den typischen Geruch des Meeres mit sich. Die mediterrane Umgebung hatte jedoch überhaupt nichts mit den Postkartenmotiven gemein, die man aus Reisebüros kennt. Stattdessen prügelte eine Welle nach der anderen mit steigender Intensität auf die Hafenmauern von Genua ein. Als die Dämmerung schließlich zur Nacht wurde, peitschten Blitze über die Stadt und erleuchteten dabei die riesigen Frachtschiffe, die an den Piers vor Anker lagen.

Bäche aus Brackwasser spülten über die alten Pflastersteine, die hier und da aus dem brüchigen Asphalt ragten, der von dem stetigen Verkehr schwerer Verladevehikel stark beansprucht war.

Zwei Sicherheitsmänner in schwarzen Regenjacken patrouillierten am Tor von Hafenabschnitt B. Widerwillig machten sie ihre Runden durch das Donnerwetter, welches die Natur ihnen entgegenschleuderte. Motiviert wurden sie nur durch den Geschmack ihrer starken, filterlosen Zigaretten und der Aussicht auf den nächsten Zahltag, der kurz bevorstand. Außer ihnen war weit und breit niemand zu sehen, denn Seemänner und Hafenarbeiter hatten längst Feierabend und bis auf die eine oder andere Ratte, die es ebenfalls eilig hatte, in ihren Bau zu kommen, war der Hafen vollkommen leblos.

Auf der anderen Seite der Straße, die zu den Piers führte, reihten sich Bars und billige Hotels aneinander und ihre heruntergekommenen Fassaden luden zur typisch rustikalen Gastfreundschaft eines Hafens ein. Professionelle Damen schüttelten sich das Wasser von den Regenjacken und betraten nach und nach die verschiedenen Etablissements, auf der Suche nach den üblichen Kunden, die sich am Ende eines langen Arbeitstages nach ihren Diensten sehnten. Es waren Matrosen, Fischer und Diebe, die in diesen Bars herumhingen, ihre Einsamkeit mit Alkohol begossen und sich gegenseitig feindselig anstarrten, in Erwartung einer weiteren langen Nacht.

Über einer besonders gammelig wirkenden Tränke prangte ein ausgeblichenes Schild mit der Karikatur einer Ente, die einen Piratenhut trug und mit einem Säbel bewaffnet war. Gedämpftes Licht schien in der zweiten Etage durch die geschlossenen Vorhänge, die den Blick auf eine Reihe von Zimmern verdeckten, die stundenweise zu mieten waren. Etwa zwanzig Meter davon entfernt, parkte ein graublauer VW-Bus, dessen Scheiben dunkel getönt waren. Für einen unaufmerksamen Betrachter wirkte das Fahrzeug verlassen, doch hinten saßen zwei Männer und starrten auf geisterhaft flackernde Schwarz-Weiß-Bildschirme.

Die Aufmerksamkeit der Herren galt der Treppe, die zu der Einliegerwohnung über der Bar führte. Ohne Unterlass prüften sie die Signale ihrer verschiedenen versteckten Kameras und der Laser-Mikrofone. Sie hatten nicht viel Zeit gehabt, die Operation vorzubereiten, und der Starkregen machte die Sache nicht gerade einfacher. Sie hatten erst morgens von dem Treffen erfahren und es hatte einiges an Ressourcen gekostet, alles rechtzeitig zu organisieren und aufzubauen. Der Sturm war zusätzliches Pech gewesen, doch nach unzähligen Einsätzen wussten sie, dass Jammern auch nichts nützte. Sie mussten eben mit dem arbeiten, was sie hatten. Schließlich waren sie gereifte und abgehärtete Profis, und wenn es irgendeine Chance gab, ihre Mission zu erfüllen, würden sie diese ergreifen.

Natürlich hatten sie gar nicht erst daran gedacht, die örtliche Polizei einzuweihen, denn in dieser Gegend gab es einfach viel zu viele undichte Stellen. Deshalb durfte man sie lediglich als den letzten Notnagel betrachten, wenn wirklich alles andere schiefgegangen war. Obwohl man sich nach außen hin kooperativ gab und eine Art Duldung herrschte, trauten die beiden Männer niemandem. Selbst ihre eigenen Kollegen wurden immer wieder hinterfragt. Man arbeitete allein und undercover, und das für Wochen oder gar Monate am Stück. Nun waren sie schon über ein Jahr in Italien stationiert, um eine verbündete Regierung zu bespitzeln. Sie trugen beide marineblaue Jacken über ihren grob gestrickten Seemannspullovern und waren äußerlich nicht von den üblichen Hafenarbeitern zu unterscheiden, die aus den verschiedensten Kulturschichten stammten. Es gab darunter Korsen, Mafiosi, Russen und Nordafrikaner. Bei den Rivalitäten der verschiedenen Verbrecherclans wurden die Verträge auch schon mal mit Blut unterzeichnet und Auseinandersetzungen mit erbarmungsloser Härte ausgefochten. Die Verlierer der zahllosen Machtproben wurden anschließend in schönster Regelmäßigkeit zu Fischfutter.

Der Kleinere der beiden Männer, dessen breites Gesicht von einem stoppeligen Dreitagebart geziert wurde, tippte jetzt mit seinem stummeligen Zeigefinger auf einen der Monitore, der wegen eines fehlerhaften Kabels ständig flackerte.

»Wie sollen wir denn irgendwas auf die Reihe kriegen, wenn wir keine Vorbereitungszeit und nur beschissenes Material bekommen?«, fluchte er auf Italienisch – wie vereinbart.

»Adam, musst du dich wirklich jedes Mal so aufregen? Es könnte auch schlimmer sein – zum Beispiel, wenn wir jetzt draußen wären und klatschnass würden. Da nehme ich den Bus hier doch mit Kusshand«, murmelte sein Kollege Samuel. Dann kratzte er sich über seinen Kinnbart und hob die Arme über den Kopf, um sich zu recken.

»Ich dachte, die Party sollte schon längst begonnen haben«, sagte Adam.

Seine Augen waren auf das Monitorbild der Tür geheftet, das von den Kameras und Mikrofonen auf dem Autodach eingefangen wurde. Getarnt als ein Gepäckträger und eine uralte Satellitenschüssel, wie man sie von Campingplätzen kannte.

»Es tut mir leid, wenn unsere Informationen nicht hundertprozentig gestimmt haben. Hast du heute vielleicht noch irgendeine heiße Verabredung, von der ich nichts weiß?«

»Ich mag diese übereilten Einsätze einfach nicht. Wenn man keine Zeit für die Planung hat, steigt das Risiko eines Fehlschlags.«

»Danke für diese griffige Zusammenfassung. Ich werde sie in mein Buch Spionage für Dummies aufnehmen, an dem ich gerade schreibe«, sagte Samuel trocken. Solche flapsigen Gespräche dienten dazu, ihre Anspannung zu senken.

»Bisher ist das Ganze reine Zeitverschwendung, mehr will ich damit ja gar nicht sagen. Seit fünfundvierzig Minuten hat sich niemand blicken lassen, das ist doch alles kompletter Bullshit.«

»Das mag sein, aber noch ist das Licht an, also erwarten sie jemanden. Geduld, mein Freund, Geduld. Wir ziehen das jetzt durch. Warten wir doch einfach mal ab, was die Nacht noch zu bieten hat.«

»Wahrscheinlich noch ein paar weitere zahnlose Nutten und Besoffene. Ansonsten ist anscheinend niemand dumm genug, bei diesem Wetter auf die Straße zu gehen.«

»Seit wann hast du etwas gegen Nutten oder Alkohol?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ganz im Gegenteil, ich bin wahrscheinlich nur neidisch. Alle sind gerade im Trockenen und haben Spaß, während wir uns hier draußen die Ärsche abfrieren. Das ist nicht fair, mehr sage ich ja gar nicht.«

»Alles klar. Ich werde sicherstellen, dass mein Bericht deinen Mangel an Begeisterung darüber widerspiegelt, dass Alkohol und Prostituierte kein Bestandteil unseres Arbeitsauftrages sind.«

»Ja, mach das. Vielleicht ändert sich dann mal was daran. Wäre höchste Zeit.«

Als plötzlich ein Mann in einem offensichtlich teuren Mantel aus einem schwarzen Lexus sprang, der hinter ihnen angehalten hatte, verstummten beide Männer abrupt. Ein Regenschirm hielt den gröbsten Teil des Unwetters von dem Mann ab und als er an dem VW-Bus vorbeieilte, machten Adam und Samuel große Augen. Sie drückten hastig einige Knöpfe an ihrem Bedienpult und starteten die Aufzeichnung.

»Ich kann kaum etwas sehen. Der verdammte Regen und der Schirm machen es nicht gerade leicht«, knurrte Adam, während er an einem Knopf drehte, um die Hauptkamera schärfer zu stellen.

»Schau mal, ob du sein Gesicht draufkriegst. Das hat höchste Priorität, abgesehen von den Tonaufnahmen.«

»Ich versuche es ja, aber ich kann keine Wunder bewirken. Kein Licht, kein Bild.«

»Tu einfach dein Bestes«, herrschte Samuel ihn an, während sich sein Blick in den Monitor bohrte.

»Er geht rein«, stellte Adam überflüssigerweise fest, als ihre Zielperson die Klingel drückte und wartete.

»Kannst du irgendwas Brauchbares aufnehmen?«

»Der Schirm ist im Weg. Das mit dem Licht ist jetzt okay, aber das ist nun mal keine Röntgenkamera.«

»Was ist mit den Mikrofonen?«

»Bis da drinnen jemand anfängt, zu reden, kann ich dir das nicht beantworten. Sieht aber soweit ganz gut aus. Schau dir mal die Signalstärke an«, meinte Adam und zeigte auf ein Messgerät. »Die Türklingel habe ich jedenfalls ganz gut hören können.«

Ihre Richtmikrofone waren darauf ausgelegt, Vibrationen der Fensterscheiben zu registrieren und diese in Klang umzuwandeln. Das Equipment war unter normalen Umständen äußerst zuverlässig, doch bei so einem Unwetter hatten sie es noch nie zuvor eingesetzt. Aber sie hatten keine Alternativen. Natürlich hatten sie überlegt, sich als Straßenarbeiter oder Gebäudetechniker zu verkleiden und ein paar Wanzen zu installieren, doch sobald sie das fragliche Haus erreicht hatten, war ihnen klar geworden, dass das viel zu riskant wäre. Sie durften auf keinen Fall entdeckt werden, daran hatte ihr Einsatzbefehl keine Zweifel gelassen. Sie durften auf keinen Fall in direkten Kontakt mit der Zielperson treten.

Die in der Wohnung befindlichen Personen hatten diese nicht verlassen, seit der Lieferwagen seine Position eingenommen hatte. Gott sei Dank war diese nah genug, dass sie einiges von ihrem Equipment einsetzen konnten. Samuel hatte bestimmt ein Dutzend Runden um den Block gedreht, bis endlich ein guter Parkplatz für ihre Aktion frei geworden war. Nachdem sie sich dort eingerichtet hatten, machten sie das Beste aus der Situation. Sie hatten ein paar gedämpfte Telefonanrufe aufgezeichnet, aber davon mal abgesehen redeten die Leute in der Wohnung nicht miteinander, und sie wussten daher nicht, wie viele es waren.

Adam drehte eines der Mikrofone noch mehr auf und als der Türsummer losging, um den Neuankömmling einzulassen, erklang das Geräusch in ihren Kopfhörern laut wie eine Sirene.

»Konntest du ein Bild von ihm aufnehmen?«, fragte Samuel, doch Adam starrte weiter auf die Signalanzeige.

»Kein besonders tolles, aber ich glaube, es ist trotzdem gut genug, dass wir es an die Zentrale schicken können«, sagte er schließlich, wobei er weiter angestrengt in die Stille lauschte.

»Okay, dann leg mal los«, erwiderte Samuel und behielt dabei den Anzeiger für die drahtlose Verbindungsstärke im Auge.

»Eine Sekunde«, antwortete Adam, während er eine Tastatur an sich heranzog. Dann fing er an, in schneller Folge mehrere Befehle einzutippen. Beide Männer hielten plötzlich inne, als die Tür oben im Appartement mit Schwung zugeworfen wurde.

»Klingt doch gut«, flüsterte Adam.

»Pssssst!«

Eine brutale Windböe bombardierte die Gebäudefassade jetzt mit Regen und brachte sogar ihren Bus zum Wackeln. Es klang, als würde jemand mit einem Vorschlaghammer das Blech der Karosserie bearbeiten.

Murmelnde Stimmen wurden lauter und leiser, als Adam an seinen Steuerreglern herumspielte und digitale Filter an seinem Computer einstellte. Er nahm alles in Echtzeit auf, aber darüber hinaus konnte er bestimmte Frequenzen zusätzlich isolieren und Hintergrundgeräusche teilweise eliminieren.

Samuel fluchte leise, als eine der Kameras plötzlich nur noch ein schwarzes Bild anzeigte, gefolgt von einem Video-Rauschen.

»Verdammt. Der Wind muss das Ding erledigt haben«, beschwerte er sich, wobei sein Blick über die Verkabelung wanderte, um auszuschließen, dass es innerhalb des Busses ein Problem gab.

»Na super. Kann es überhaupt noch schlimmer werden?«

»Frag doch so was nicht!«

»Du weißt, was du zu tun hast.«

Samuel nickte resigniert. Er musste einen Blick auf das Kamerasystem werfen und schauen, ob er den Fehler finden konnte. Währenddessen blies ihm der Wind mit vierzig Knoten um die Nase und der Regen wirkte eher wie Hagel.

Widerwillig schob Samuel den schweren Vorhang beiseite, der den hinteren Teil des Wagens von der Fahrerkabine abschirmte. Er wollte gerade einen richtig schönen Fluch an Adam richten, doch dann sah er das bodenlose Entsetzen in dessen Blick. Er ahnte allerdings nicht, dass in diesem Moment bereits ein roter Lichtpunkt über sein Gesicht wanderte und sich schließlich auf seiner Stirn niederließ.

»Pass auf«, schrie Adam, doch da war es schon zu spät. Samuels Kopf explodierte, als hätte er eine Granate verschluckt. Der vordere Teil des Busses wurde mit Blut und Knochensplittern gesprenkelt, während die Windschutzscheibe in sich zusammenfiel. Adam griff blind nach dem Sturmgewehr, das zu seinen Füßen lag, als eine Salve Kugeln den Wagen durchsiebte und ihn nur knapp verfehlte. Er hob seine Waffe, um zurückzuschießen, als er im Augenwinkel einen Feuerball registrierte. Plötzlich schien die Zeit stillzustehen, denn ein RPG-7 Raketensprengkopf mit thermobarer Ladung zischte durch das klaffende Loch in der Windschutzscheibe und entzündete sich dann zu einem Feuerball, der Adam sofort tötete und den gesamten Innenraum des Wagens in eine schmelzende Masse verwandelte.

Teile des Busses, der nun bis zur Unkenntlichkeit verzerrt war, lagen im Umkreis von zwanzig Metern auf dem Gehweg verteilt. Als sieben Minuten später der erste Polizeiwagen eintraf, qualmte das Metallgerippe des Wagens immer noch. Der Benzintank war irgendwann ebenfalls explodiert, was die Zerstörung noch einmal intensiviert hatte. Niemand in der Gegend hatte etwas gesehen, und nachdem die ganze Nacht ermittelt worden war, kamen die Behörden zu dem Schluss, dass es sich wohl um eine Fehde zwischen organisierten Verbrecherbanden gehandelt haben musste, was absolut nichts Ungewöhnliches für diese Gegend war.

Niemand konnte sich an die Menschen erinnern, die aus dem Appartement gekommen und schweigend in der Nacht verschwunden waren, und natürlich hatte erst recht niemand den Pick-up-Truck gesehen, der die Schützen transportiert hatte.

Zwei Tage lang geisterte die Geschichte durch die lokalen Medien, doch da es keine Spuren gab, landete das Vorkommnis schließlich bei den Hunderten von anderen ungeklärten Vorfällen der Hafenkriminalität, der die Regierung einfach nicht Herr zu werden schien.

DAS VERMÄCHTNIS (JET 5)

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