Читать книгу DAS VERMÄCHTNIS (JET 5) - Russell Blake - Страница 7

KAPITEL 2

Оглавление

Vor drei Monaten, 300 Kilometer östlich von Hobyo, Somalia

Der massige Bug der Salome pflügte durch die tosenden Fluten, deren Wellen meterhoch in die Luft peitschten. Der Wind schien aus allen Richtungen zugleich zu kommen, die Witterung war in diesem Teil des Westindischen Ozeans oft absolut unberechenbar. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und entsprechend schwarz war der neblige Himmel. Nur hier und da schaffte es ein heller Stern, durch die wenigen Löcher im Wolkendach zu schimmern. Die Dieselmotoren des Frachters röhrten heiser, als er sich unnachgiebig in Richtung seines Zieles vorankämpfte – dem Hafen von Jeddah in Saudi-Arabien.

Die Salome war ein mit den Wassern aller Weltmeere gewaschenes Handelsschiff, das seit beinahe zwei Jahrzehnten vor allem vor den Küsten Afrikas, Indiens und Pakistans kreuzte. Es war ein hartes Geschäft, doch es lohnte sich. Die Besatzung bestand aus einer wilden Mischung aus internationalen Seeleuten. Sie fuhr unter der Flagge von Liberia, wie so viele Schiffe, die in diesen berüchtigten Gewässern unterwegs waren. Grund dafür waren die beinahe nicht-existenten Regularien dieses winzigen afrikanischen Staates, der auf diese Art eine Flotte von dreitausendfünfhundert Schiffen beheimatete … beinahe elf Prozent aller Schiffe der Welt.

Auf der Brücke rammte der Nachtwächter gerade dem ersten Maat seinen Ellenbogen in die Seite. »Was meinst du?«, raunzte er und nippte dabei an seiner dampfenden Tasse herrlich schwarzen Kaffees. Sein Blick war auf den Radar gerichtet und er deutete mit der freien Hand energisch auf einen leuchtenden Fleck.

»Sieht für mich wie ein Fischerboot aus. Die machen gerade einmal neun Knoten, wenn überhaupt«, antwortete sein Kollege.

»Wie weit ist es entfernt?«

»Ungefähr sechs Meilen.«

»Wir sollten den Kapitän dennoch aufwecken«, meinte der Wachhabende, wobei er einen weiteren Schluck des Getränks nahm, das er wie aus Eimern konsumierte – am liebsten schwarz und schön heiß.

»Er steht sowieso gleich auf. Halt einfach ein Auge drauf, und wenn die uns zu nahekommen, geben wir Alarm. Bei der momentanen Geschwindigkeit gehe ich aber nicht von einer Gefahr aus. Gönnen wir dem Kapitän doch seinen Schönheitsschlaf.«

Inzwischen betrachtete der Wachmann den Horizont durch sein Fernglas, ließ es kurz darauf aber wieder auf seine Brust sinken.

»Kein Licht zu sehen.«

»Es gibt jede Menge Boote, die sich nicht die Mühe machen. Diese verdammten Schabracken von den Chinesen und Thais sind so alt, dass sie sich kaum über Wasser halten können. Die geben ganz bestimmt kein Geld für neue Birnen aus. Das muss nichts heißen.«

»Das stimmt, aber komisch ist es trotzdem. Lass uns wenigstens unsere beiden Sicherheitskräfte wecken, die können auch mal was für ihr Geld tun.«

Er sprach dabei über die beiden Söldner einer israelischen Firma, die sich auf Vorsichtsmaßnahmen gegen Piraterie spezialisiert hatte. Sie wechselten sich täglich mit Zehn-Stunden-Schichten ab, was vier Stunden übrig ließ, in der beide Männer schliefen. Die Sichtung eines langsamen Fischerbootes klang nicht nach einem absoluten Notfall, doch niemand aus der Crew mochte die Söldner besonders gern. Sie blieben meistens unter sich und machten immer eine große Show daraus, mit ihren Gewehren herumzuhantieren, die die einzigen Waffen auf dem gesamten Schiff waren.

Kommerzielle Seegefährte durften normalerweise nämlich überhaupt keine Waffen mitführen, doch wegen der außer Kontrolle geratenen Piraterie vor der Ostküste Afrikas hatten einige Länder ihre Regeln geändert, was geschäftstüchtigen Sicherheitsfirmen ein ganz neues Betätigungsfeld eröffnet hatte. Mehr und mehr Schiffe auf dieser Route heuerten deshalb routinemäßig Söldner an, um sich vor Entführungen und Raub zu schützen. Die Piraten hatten es auf leichte Ziele abgesehen und waren nicht scharf darauf, bei einem Feuergefecht das Zeitliche zu segnen. Nachdem sich in letzter Zeit sogar internationale Marineverbände an der Jagd auf Piraten beteiligt hatten, waren die Seeräuber allerdings wieder aggressiver geworden und griffen nicht selten mit Maschinengewehren oder sogar Raketenwerfern an.

Der Maat grunzte, als er die Brücke verließ, um die Söldner zu wecken. Die Salome kreuzte weiter mit achtzehn Knoten durch die Wellen und ein halb so schnelles Fischerboot schien keine große Gefahr darzustellen. Deshalb hatte er es auch nicht eilig, die Treppen hinunterzugehen, um das Deck zu erreichen, auf dem die Sicherheitsmänner schlummerten.

Als er die beiden Schlafenden aufweckte, konnte er sich allerdings eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen, während er darauf wartete, dass sich die beiden anzogen. Beide streifen schusssichere Kevlar-Westen über und schnappten sich dann ihre Kalaschnikow AKMs, bevor sie ihm zurück auf die Brücke folgten.

»Womit haben wir es denn zu tun?«, fragte Ari, der Größere von beiden.

»Wahrscheinlich nichts Ernstes.« Er deutete auf den hellen Fleck auf dem Radarschirm. »Es geht um diese Jungs hier. Sie haben kein Licht an und wir wissen auch nicht, ob ihr Kurs sie wirklich in unsere Nähe bringen wird. Aber ich dachte mir, ihr wollt euch vielleicht auch mal nützlich machen. Vielleicht kommt ihr sogar mal dazu, eure Elefantenbüchsen abzufeuern.«

Ari ignorierte die Sticheleien, denn es war nicht sein Job, sich mit der Crew anzulegen. Diese Seefahrten waren immer sterbenslangweilig, und er hatte schon Hunderte von ihnen absolviert, auf denen nie etwas passiert war. Eigentlich schon fast enttäuschend, nach den großen Reden, die die Firma bei seinem Bewerbungsgespräch geschwungen hatte. Er hatte sich exotische Häfen und Kämpfe gegen Piraten auf offenem Meer vorgestellt, doch in Wirklichkeit gab es nur Dieseldämpfe und Seekrankheit.

Er schaute Barry, seinen Partner an und verzog das Gesicht.

»Klingt nicht besonders aufregend. Willst du wach bleiben und dir das mal anschauen? Ich lege mich dann wieder hin. Bei dem Schneckentempo, das die draufhaben, kann ich auch Eis beim Schmelzen zugucken.«

»Klar, mach das. Die Situation ist definitiv nicht so aufregend, dass wir beide ein Auge darauf haben müssen.«

Ari nickte und schlurfte zurück zu dem schmalen Treppenaufgang, der auf das Hauptdeck führte, wobei er sorgsam darauf achtete, dass die Mündung seiner Waffe immer nach unten zeigte. Das Ganze war nur wieder ein falscher Alarm, wie so oft. Jedes Mal, wenn irgendetwas auf dem Radar auftauchte, das nicht auch ein Tanker war, gab es sofort einen Alarm. Doch nach knapp zwei Jahren hatte er sich daran gewöhnt. Eigentlich war es auch gar nicht so schlimm. Die Angriffe, von denen er gehört hatte, hatten eigentlich alle damit geendet, dass die Piraten in dem Moment, als zurückgeschossen wurde, sofort abdrehten und das Weite suchten. Im Grunde waren das doch auch nichts anderes als extrem arme Hunde, die aus purer Not einem kriminellen Geschäft nachgingen. Deshalb war die Anwesenheit von ihm und Barry ja auch so wertvoll. Ein paar Salven vor den Bug von irgendwelchen Piratenkähnen und die suchten sich sofort ein anderes Opfer. Zumindest wurde es ihm so immer wieder erzählt, und er sah keinen Grund, die Geschichten infrage zu stellen.

Auf der Brücke legte Barry jetzt sein Gewehr beiseite und ging, in Erwartung von zwei höchst langweiligen Stunden, in denen er wohl nur auf einen Bildschirm starren und darum kämpfen würde, nicht einzuschlafen, zur Kaffeemaschine.

***

Die Jiang Li, ein dreißig Jahre alter chinesischer Fischtrawler mit Stahlhülle war vor drei Wochen entführt worden. Die Crew hielt man als Geisel, während die Piraten die undichte Schaluppe als Mutterschiff benutzten. Zwei schnelle Motorboote waren am Heck vertäut, und die ursprünglichen fünfzehn Besatzungsmitglieder machten sich inzwischen keine Illusionen mehr um ihr Schicksal. Man zahlte ihnen nicht genug, um sich mit den Piraten anzulegen, und ebenso unwahrscheinlich war es, dass ihr Arbeitgeber ein Lösegeld für sie zahlen würde. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, als einen Tag nach dem anderen zuzusehen, wie die einundzwanzig somalischen Piraten sie an Deck in Schach hielten, wo man sie gegebenenfalls als menschliche Schilde nutzen konnte, falls Kriegsschiffe auftauchen sollten, obwohl das bislang noch nicht der Fall gewesen war. Eine multinationale Eingreiftruppe hatte zwar einige Patrouillen in diese Gegend entsandt, doch der Ozean war groß. Allein das Gebiet, in dem die Piraten unterwegs waren, war größer als ganz Europa. Dadurch würden etwaige Erfolge ihrer Bemühungen nichts weiter als reiner Zufall sein.

Zwei Männer, deren Hautfarbe dunkel wie Ebenholz war, machten sich jetzt an der Vertäuung zu schaffen, dann ließen sie die Beiboote zu Wasser. Nur Minuten später waren achtzehn Bewaffnete an Bord. Ihr Ziel war die Salome, ein mittelgroßer Frachter, der auf dem Weg in den Mittleren Osten war. Ein Komplize, der in Mogadischu Zugriff zum Internet hatte, hatte ihnen einen Tipp gegeben und der Anführer der Piraten hatte daraufhin beschlossen, dass das Schiff ein geeignetes Ziel war.

Die Salome gehörte einer prominenten israelischen Firma, die in den meisten europäischen Häfen Büros unterhielt, was sie zu einem exzellenten Adressaten für Lösegeldforderungen machte. Die Fracht allein war schon mehrere Millionen wert, vielleicht sogar über zehn, sodass man garantiert eine niedrige siebenstellige Summe erwarten konnte. Das würde einen stattlichen Lohn ergeben, auch noch, nachdem die Hintermänner bezahlt worden waren. Inzwischen konnte man die Piraterie schon fast als boomende Branche bezeichnen, und deshalb hatten Informationen mittlerweile auch ihren Preis. Jetzt erwachten die kraftvollen Außenbordmotoren röhrend zum Leben und wenige Minuten später durchschnitten die Boote die Wellen, auf direktem Abfangkurs zur Salome, die nichts von der Bedrohung, die sich ihr von Süden her näherte, ahnte.

***

»Verdammt! Zwei Fremdkörper haben sich von dem Fischkutter abgekoppelt und halten jetzt direkt auf uns zu«, sagte der Wachmann, wobei sein Blick den Lichtpunkten auf dem Radarschirm folgte.

»Wie schnell?«, fragte Barry, der hastig aufstand und dabei bemerkte, wie sich sein Herzschlag angesichts des drohenden Angriffs beschleunigte. Der Himmel begann gerade erst, von zarten roten und orangefarbenen Bändern erhellt zu werden, während die Sonne sich über den Horizont kämpfte. Normalerweise würde es ein weiterer, wunderschöner Sonnenaufgang auf See werden, doch die näherkommenden Schnellboote stellten ihn in den Schatten.

»Ziemlich schnell. Mindestens fünfundzwanzig Knoten. Sie bewegen sich im rechten Winkel auf unsere Position zu, also werden sie uns in ein paar Minuten erreicht haben. Das Fischerboot ist auch nur noch wenige Meilen entfernt; den Rest können Sie sich also selbst ausrechnen.«

»Jemand muss Ari aufwecken. Ich gehe derweil runter aufs Deck, um eine gute Schussposition einzunehmen. Ich werde nicht warten, bis sie in Reichweite sind. Ab sechshundert Metern Entfernung fange ich an, zu schießen. Das sollte reichen, um sie in die Flucht zu schlagen«, erklärte Barry, während er sich sein Gewehr schnappte.

»Alles klar, ich kümmere mich um Ari«, sagte der Maat, als er sich aus seinem Drehstuhl erhob und ihm folgte. »Ich wecke besser auch mal den Captain.«

Sobald sie die Treppe erreicht hatten, räusperte sich der Maat. »Warum schießen Sie denn nicht von hier oben aus? Ist das nicht die bessere Position? Ich meine, vom höchstmöglichen Punkt aus?«

»Es geht mir dabei um die Flexibilität. Ich möchte in der Lage sein, sowohl beide Seiten des Schiffes als auch Bug und Heck abdecken zu können, und das kann ich von hier oben nicht machen. Außerdem gibt es hier viel weniger Deckung.« Er blieb abrupt stehen, wobei sein Fuß in der Luft über der nächsten Stufe schwebte. »Tun Sie mir den Gefallen und holen Sie Ari. Sagen Sie ihm auch, er soll noch mehr Munition und unsere Pistolen mitbringen«, befahl Barry harsch, um den Maat in die Schranken zu weisen. Jetzt, wo der erste ernsthafte Piratenangriff bevorstand, wollte er bestimmt keine Fragerunde abhalten.

Ein salziger Wind peitschte Barry über das Gesicht, als er das Deck erreichte. Er schaute sich eine Weile um, bis er den besten Punkt gefunden hatte, um sich flach hinlegen und schießen zu können. Er musste zusehen, dass er ein möglichst kleines Ziel abgab, so wie er es einst gelernt hatte. Sein Kriegsdienst war zwar schon sieben Jahre her, und natürlich war ein Einsatz auf dem Wasser etwas vollkommen anderes als ein Kampf in der Wüste, doch die Grundlagen blieben die gleichen. Ein Gewehr war ein Gewehr, auch wenn es sich auf einem schwimmenden Stahlkoloss befand, und es kam darauf an, immer die Oberhand zu behalten. Ganz egal, in was für einer Umgebung man sich befand.

Drei Minuten später war Ari an seiner Seite und reichte ihm mit aufgeregtem Gesichtsausdruck zwei volle Magazine und eine Pistole. Barry hob das neopren-ummantelte Fernglas und deutete wenig später in die Ferne. »Da sind sie! Ich kann sie gerade so erkennen. Es sind definitiv Piraten und das Boot ist voll mit Gewehren. Ferngläser haben sie auch. Scheiße, jetzt teilen sie sich auf! Wahrscheinlich wollen sie von beiden Seiten gleichzeitig angreifen. Die sind nicht dumm, das muss man ihnen lassen. Die werden wohl eher vom Heck her kommen, das ist momentan nämlich die angesagte Methode. Wie weit sind sie noch weg?«, fragte Barry.

»Etwa neunhundert Meter. Ich würde noch eine Minute warten und ihnen dann ein paar Kugeln verpassen. Das sollte ihnen genug Angst einjagen. Oh, wow. Die haben auch Raketenwerfer, na ganz toll.«

»Da würde ich mir keine Sorgen machen. Mit denen triffst du nichts über hundert Meter Entfernung. Vielleicht gerade so zweihundert, wenn du Riesenglück hast.«

»Soll ich auf die andere Seite gehen?«

»Nein, noch nicht. Das Ganze ist bestimmt vorbei, bevor es auch nur angefangen hat.«

»Ich wünschte, diese Geizhälse von der Firma hätten uns Scharfschützengewehre gegeben, am besten Barretts. Das hier ist doch scheiße. Ich hasse nichts mehr als einen fairen Kampf.«

»Bei so einer unruhigen See würdest du mit 'nem Zielfernrohr sowieso nichts treffen. Schau doch mal, wie es auf und ab geht. Abgesehen davon ist das alles eh egal. Sobald die mein Gewehr hören und die Kugeln ins Wasser schlagen sehen, hauen sie ab.«

»Aber stell dir mal vor, du hältst ein Maschinengewehr mit Kaliber 50 in der Hand. Damit könnten wir sie zu Kleinholz machen.«

»Oder gleich ein paar Kanonen, wie auf einem richtigen Kriegsschiff. Bumm, Game over!«

Sie warteten ab, während ihr Schiff sich weiter in Richtung Norden bewegte. Ihre Nerven lagen angesichts ihres ersten richtigen Gefechts blank. Barry kniff die Augen zusammen und spähte den Lauf seines Sturmgewehrs hinunter. Er war bereit, zu feuern.

»Wie weit noch?«

»Vielleicht noch sechshundert Meter, aber sie kommen schnell näher.«

»Dann legen wir mal los.«

Das ohrenbetäubende Geknatter der AKM hallte über das Deck, als Barry auf das nähere der beiden Boote feuerte, womit er seinen Plan aufgab, erst einmal nur einen Warnschuss abzugeben. Es war so schwer, das auf den Wellen schaukelnde Boot anzuvisieren, dass er es aus dieser Entfernung sowieso kaum treffen würde.

Ari spähte währenddessen durch den Feldstecher und schluckte dann schwer. »Sie drehen nicht ab.«

»Verdammt. Diese Trottel! Die können sich auf was gefasst machen.«

»Scheiße, die haben nicht nur AKs … jetzt, wo sie näher kommen, kann ich auch andere Waffen erkennen. Die haben mindestens ein Scharfschützenge…«

Ein Kugelhagel prasselte jetzt auf die Metalloberflächen in ihrer Umgebung ein. Das vordere Boot hatte ebenfalls das Feuer eröffnet. Mindestens acht Gewehre gaben Dauerfeuer ab und schickten Hunderte von Geschossen in ihre Richtung. Die meisten schlugen harmlos über oder unter ihnen ein, doch eine erwischte Barry am Hals und durchschlug den Rand seiner Kehle, wobei arterielles Blut auf Aris Gesicht spritzte. Barry grunzte, ließ sein Gewehr fallen und umklammerte dann die Wunde. Seine Augen waren geweitet vor Überraschung und Angst, die allerdings schnell in Panik umschlug, als ihm sein Leben durch die Finger rann.

»Oh Gott, Barry!« Aris Gesichtsausdruck hatte sich jetzt von Erregung in Verzweiflung gewandelt, und für ein paar Sekunden erstarrte er förmlich, denn er war hin- und hergerissen, ob er zuerst seinem Freund helfen oder auf die schnell näherkommenden Piraten feuern sollte. Barry stöhnte leise, als ihn seine Lebensgeister verließen, und damit wurden Ari seine Prioritäten klar. Er musste die Piraten in die Flucht schlagen, denn sonst hätten sie alle keine Chance, zu überleben.

Er legte auf das nähere Boot an und feuerte, die Waffe hatte er zuvor auf Dauerfeuer gestellt. Zu seiner Erleichterung sah er, wie zwei der Männer am Bug zusammenbrachen, einige seiner Kugeln hatten also ihr Ziel gefunden.

Doch das war das Letzte, was Ari registrierte, denn ein Querschläger ließ jetzt den hinteren Teil seines Schädels zerplatzen. Noch bevor er den Treffer überhaupt registrierte, war er tot.

Weitere Kugeln hämmerten auf das Schiff ein und Barry wurde in der Brust getroffen, was seinen qualvollen Überlebenskampf abrupt beendete. Kraftlos sackte sein Körper in sich zusammen.

Der Maat beobachtete das Feuergefecht durch ein Seitenfenster der Brücke. Als er sah, wie die beiden Männer getroffen wurden, traf er eine spontane Entscheidung und gab seinen Posten auf. »Sie sind tot! Ich gehe jetzt da runter. Ich habe keine Lust, monatelang in irgendeinem Scheißloch in Somalia zu hocken«, rief er dem Wächter und dem Steuermann zu und rannte an ihnen vorbei.

»Hey, bleib stehen, das ist nicht deine Aufgabe«, warnte ihn der Wachhabende. »Lass es bleiben, sonst erschießen sie dich auch. Zwei Tote sind schon schlimm genug …«

»Entweder, wir schießen zurück, oder die nehmen uns in Kürze als Geiseln! Dann foltern sie uns wahrscheinlich ein paar Monate lang und töten uns dann. Diese Geschichten habe ich schon oft genug gehört.«

Mit diesen Worten verschwand er durch die Tür und eilte die Treppen hinunter. Als er das Deck erreichte, waren die Piraten nur noch einhundert Meter entfernt. Er duckte sich und schnappte sich eines der Gewehre, wobei er versuchte, das Blutbad zu seinen Füßen nicht allzu genau zu betrachten. Er hatte ebenfalls viele Jahre beim Militär verbracht und schon einige Leichen gesehen, doch die scharlachroten Pfützen auf dem Deck waren wirklich ein grauenvoller Anblick.

Die Piraten entdeckten ihn und drei von ihnen eröffneten sofort das Feuer. Er ließ sich neben den Toten zu Boden fallen und schoss zurück, nur um kurz darauf entsetzt mit anzusehen, wie einer der Angreifer einen Raketenwerfer schulterte. Einen Augenblick später jagte das feurige Geschoss genau auf ihn zu. Es verfehlte ihn zwar, doch die Explosion schüttelte ihn dennoch gewaltig durch und ließ seine Trommelfelle platzen. Außerdem riss sie ein riesiges Loch in die Außenhaut des Schiffes. Er wischte sich den Staub aus den Augen, und erst dann erreichten ihn die Schmerzen. Sein Bein war von Metallsplittern durchbohrt worden und hatte sich in eine brennende Masse aus zermatschtem Fleisch und Blut verwandelt.

Doch er riss sich zusammen und legte das Gewehr erneut an. Grinsend registrierte er, wie zwei der Männer von seinen Kugeln getroffen wurden, doch dann ging sein Blick plötzlich ins Leere. Eine ganze Salve heißen Bleis durchschlug seinen Brustkorb. Als sein Körper sich verkrampfte, glitt ihm die Kalaschnikow aus der Hand. Hilflos musste er dabei zusehen, wie ein weiterer Raketensprengkopf in die Kommunikationsantennen einschlug und Trümmer ins Meer schleuderte.

Das erste Motorboot erreichte jetzt die Steuerbordseite des Schiffes, nahe des Hecks, und einer der Piraten schleuderte einen Wurfanker auf das Deck. Nachdem er sich von dem festen Sitz überzeugt hatte, fing der Mann an zu klettern, und kurz darauf folgten drei andere. Das nächste Boot wiederholte diese Prozedur, und zwei Minuten später standen zehn bewaffnete Piraten auf dem Deck. Einer von ihnen näherte sich den Gefallenen und verpasste jedem von ihnen einen Tritt, um sicherzugehen, dass sie wirklich tot waren. Dann schnappte er sich ihre Waffen, wobei er eine der Pistolen in seinen Gürtel steckte. Die anderen händigte er seinen Kollegen aus.

Die Crewmitglieder der Salome blieben an Ort und Stelle, denn niemand wollte den Zorn der Angreifer auf sich ziehen, die bekanntlich auch einige Kameraden verloren hatten. Außerdem beinhalteten die Pflichten eines Seemannes nicht, sich mit bewaffneten Mördern anzulegen. Keiner von ihnen wollte sich zu den Toten gesellen.

Als der Anführer der Piraten die Brücke erreichte, fanden sie den Kapitän und den wachhabenden Offizier auf dem Boden liegend vor. Blut strömte aus ihren Ohren und Nasen. Der zweite Raketentreffer hatte im Inneren der Brücke ebenso viel Verwüstung angerichtet, wie auf dem Deck. Der Körper des Steuermannes lag unmöglich verdreht in einer abgelegenen Ecke, seine Augen starrten stumpf in die Unendlichkeit. Der Pirat zog seine neu erworbene Pistole hervor und grinste unbarmherzig. Nach einem kurzen Kontrollblick auf das Steuerrad und das Bedienpult, drehte er sich um und schoss den noch lebenden Besatzungsmitgliedern in den Kopf.

»Dreht die Motoren auf. Volldampf voraus in Richtung Land. Wir sollten es noch vor Einbruch der Dunkelheit in unsere Bucht schaffen. Dann gehen wir vor Anker und kümmern uns um die Crew. Vielleicht sind sie mehr wert als das Schiff, vielleicht aber auch nicht. Nadif, du übernimmst die erste Schicht. Ihr anderen treibt die Besatzung zusammen und durchsucht sie. Dann sperrt sie in einen der Lagerräume und stellt eine Wache davor auf. Ich will keine Überraschungen!«

Nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, beeilten sich seine Männer, sie umzusetzen. Ihr Anführer war nämlich alles andere als ein typischer Pirat. Er war inmitten eines Bürgerkrieges aufgewachsen und war brutal, boshaft und vollkommen ohne Mitleid. Während viele andere Piraten ehemalige Fischer oder verarmte Bauern waren, repräsentierte er eine ganz neue Art des hoch motivierten Kriminellen. Er war nur hinter Geld und Reichtum her, und wie er bewiesen hatte, war er bereit, dafür über Leichen zu gehen.

Das große Schiff nahm jetzt Fahrt auf und hatte beinahe zwanzig Knoten erreicht, als Nadif einen Kurs zur Ostküste Somalias einschlug. Ihre Basis befand sich am Rande einer vom Wind gepeitschten Wüste, die von radioaktiven Abfällen belastet war, die europäische und indische Firmen ohne jegliche Form von Regularien dort abgeladen hatten.

Einer der Männer funkte jetzt das Fischerboot an, worauf es ebenfalls seinen Kurs änderte, um an Land zurückzukehren. Es hatte seinen Zweck erfüllt und das Schicksal seiner Crew war weiter ungewiss, solange der zahlungsunwillige Eigentümer noch um das Lösegeld feilschte.

DAS VERMÄCHTNIS (JET 5)

Подняться наверх