Читать книгу Schließe Freundschaft mit deiner Wut - Russell Kolts - Страница 6
ОглавлениеVorwort
Wir wissen, dass Mitgefühl für unser Wohlbefinden sehr wichtig ist. Wenn man gestresst oder erregt ist, ist es immer besser, freundliche und hilfsbereite Menschen um sich zu haben, als kritische, ablehnende oder uninteressierte. Es ist jedoch nicht nur der gesunde Menschenverstand, der uns etwas über den Wert von Freundlichkeit und Mitgefühl sagt – Fortschritte in jüngerer Zeit bei wissenschaftlichen Untersuchungen von Mitgefühl und Freundlichkeit haben unser Verständnis erheblich vorangebracht, wie mitfühlende Qualitäten der Psyche Gehirn, Körper und soziale Beziehungen tatsächlich beeinflussen sowie sich auf unsere Gesundheit und unser Wohlsein auswirken. Doch trotz gesundem Menschenverstand, uralter Weisheit und modernem Wissen leben wir in einer Zeit, die Selbstmitgefühl und Mitgefühl mit anderen schwierig macht. Wir leben in einer Welt des Gewinnstrebens, der Leistung und der Gier, von Vergleichen mit anderen, denen es vielleicht besser geht und von Unzufriedenheit, Enttäuschung über sich selbst und Selbstkritik und Selbstentwertung. Die Forschung hat gezeigt, dass solche Umgebungen uns wirklich unglücklich machen und dass psychische Krankheiten und Störungen auf dem Vormarsch sind, besonders bei jungen Menschen. Russell Kolts zeigt uns, dass Frustration, Reizbarkeit und Wut sehr verbreitete Symptome der Umwelten sind, in denen wir heute leben. Sei es Gereiztheit aufgrund langer Warteschlangen, übermäßig komplizierter Geräte, Verkehrsstaus, schreiender Kinder oder inkompetenter Politiker – die Liste der Dinge, die uns in Zustände hoher Spannung versetzen ist endlos.
Wenn es noch nicht reicht, dass man wütend, gereizt und gestresst ist, kann man diesen Emotionen entsprechend handeln und sich dann rechtfertigen: „Sie haben es verdient, sie hätte dies oder jenes nicht tun sollen.“ Und natürlich bezeichnen wir die Leute, auf die wir wütend sind, als „dumm“, „dämlich“, „nervig“ oder „hirnlos und stumpfsinnig“. Es gibt in der Gesellschaft auch subtile Botschaften, dass Wut mit Machismo zu tun hat, dass mit dieser Person eben nicht zu spaßen ist. So eine Haltung kann sogar hinter ziemlich ernster Gewalt stecken – wo Menschen das Gefühl haben, sie müssten ihr Gesicht wahren, müssten zu ihrem Recht kommen und dürften sich nicht demütigen oder respektlos behandeln lassen. In einigen Teilen der Gesellschaft sitzt die Angst vor Demütigung so tief, dass explosive Wut und Gewalt zum Alltag gehören.
Es ist sogar leicht, Aggressivität mit Selbstbewusstsein zu verwechseln, und wenn man das tut, kann man Menschen sehr verletzen oder verärgern. Kolts zeigt, dass Wut eine flüchtige, impulsive und nicht sehr kluge Emotion ist. Wenn man ihr einfach nachgibt, kann es sein, dass man dies noch lange Zeit bereut. Wut ist auch ziemlich „klebrig“, da man dazu neigt, über die Dinge, die einen wütend gemacht haben, endlos zu grübeln. Wir hören nicht auf, darüber nachzudenken, was uns angetan wurde. Manchen Menschen können Gefühle der Wut sehr Angst machen, deshalb versuchen sie, ihre Emotionen zu unterdrücken, um Konflikte zu vermeiden. Andere reagieren selbstentwertend und verurteilen sich dafür, dass sie wütend geworden sind und sich eben nicht nett und freundlich verhalten haben. Wir kritisieren uns und meinen, wenn wir uns über uns selbst ärgern, hörten wir auf, ärgerlich oder wütend zu sein. Und die Umwelt neigt dazu, Vorwürfe zu machen und zu beschämen, wenn jemand mit seinen Emotionen zu kämpfen scheint.
Warum sind wir nun so empfänglich für Frustration und Ärger oder Wut, und warum nehmen sie in der modernen Gesellschaft zu? Kolts zeigt uns aufgrund seines reichen Wissens und seiner Erfahrung, dass viele unserer Emotionen eigentlich das Ergebnis eines sehr langen Prozesses der Evolution sind. Die Emotionen waren ursprünglich dazu bestimmt, mit unmittelbaren Gefahren in den Dschungeln und den Savannen fertig zu werden; an unsere moderne Welt sind sie leider nicht so gut angepasst. Und es dient auch nicht unserem Wohlbefinden, wenn wir von Ärger oder Wut erfüllt unser neues Gehirn mit seiner Fähigkeit, zu denken und zu grübeln, benutzen und nicht mehr aus der Wut herausfinden. Menschen sind die einzigen höheren Lebewesen, die mit der Fähigkeit ausgestattet sind, unter einem Baum zu sitzen und zu grübeln, wie sie ihr Recht bekommen können oder wie wütend sie aufgrund irgendeines Ereignisses sind, und Rache schmieden oder sich einfach in einem Zustand der Wut halten. Man kann sogar wütend wegen etwas sein, was man fühlt – wütend oder ärgerlich, weil man Angst hat, weil man deprimiert ist, weil man dauernd müde und erschöpft ist. Wie wir über die Dinge in unserem Leben, die uns Stress verursachen, denken und grübeln, kann uns manchmal wirklich den Verstand rauben. Wenn wir das verstehen und die Identifikation mit den Emotionen aufgeben können, können wir erkennen, dass unsere Empfänglichkeit für Wut überhaupt nicht unser Fehler ist. Schließlich haben wir unser Gehirn mit seiner Fähigkeit, Emotionen wie Angst und Wut zu empfinden, nicht selbst gemacht. Und auch unsere Fähigkeit für komplexes Denken, das unser Erleben von Wut und Frustration sogar noch intensiver machen kann, haben wir nicht geplant oder gemacht. Und auch unsere Geschichte oder unsere Gene, die uns für Wut empfänglicher machen können, haben wir uns nicht selbst ausgesucht. Dies ist die zentrale Botschaft des Compassionate Mind Training und der Compassion Focused Therapy, denn Mitgefühl beginnt damit, dass man ein tieferes Verständnis dafür entwickelt und anerkennt, wie problematisch unser Gehirn aufgebaut ist. Das klingt ziemlich merkwürdig, nicht wahr? Aber wenn wir sehen, wie problematisch unsere Emotionen sein können, können wir Abstand zu ihnen nehmen und Mitgefühl für unsere Schwierigkeiten und Probleme empfinden.
Was können wir nun vor dem Hintergrund der Tatsache, dass unser Gehirn von der Evolution gemacht und von der Umwelt geformt wurde, in der wir leben, tun, was uns helfen könnte, wenn wir wütend werden? Zum einen können wir lernen, darauf zu achten, wie unser Denken beschaffen ist und wie es funktioniert, und achtsam bei den Gefühlen sein, die mit Wut zu tun haben, und sie genau beobachten. In diesem hilfreichen Buch zeigt Russell Kolts, wie manche Menschen gelernt haben, für die Situationen sehr sensibel zu sein, die ihre Wut auslösen können, wie z. B. Erfahrungen von Frustration oder eher geringfügige Kritik.
Wenn wir uns unserer Wut stellen und mit ihr arbeiten sollen, dann ist die Beziehung, die wir mit uns selbst haben, sehr wichtig. Wenn man dazu neigt, sich abzuwerten und übertrieben streng mit sich zu sein, dann ist die innere Welt kein angenehmer Ort. Wenn man unter Scham leidet und sich in einer entwertenden Weise kritisiert, sich verurteilt oder sogar ablehnt, wird Selbstvertrauen untergraben, und man fühlt sich noch schlechter. Menschen, die im Allgemeinen zuversichtlich sind und sich selbst mögen, neigen viel weniger zu Wut als Menschen, die unsicher sind, sich leicht als Opfer fühlen und für Ablehnung empfänglich sind.
Außerdem ist Wut natürlich nicht immer nach außen gerichtet, sie kann auch nach innen gegen einen selbst gerichtet sein, und dies verursacht wirklich Probleme. Leider kritisieren sich heute viele Menschen auf eine selbstentwertende Weise, und wenn etwas schiefgeht oder wenn sie Fehler machen, reagieren sie mit Frustration und Wut auf sich selbst, statt zu versuchen, etwas Nützliches und Unterstützendes für sich zu tun. Dies ist kein sinnvoller Umgang mit Wut, denn damit gibt man, wie Kolts beschreibt, dem Feuer unseres Bedrohungssystems noch mehr Nahrung. Im Gegensatz dazu ist Selbstmitgefühl eine Weise, wie man mit Unterstützung und Ermutigung bei sich und bei allen Emotionen, so unangenehm sie auch sein mögen, sein kann, ohne sich zu verurteilen. Die Forschung zeigt, dass man um so glücklicher ist und um so resilienter wird, je mehr Mitgefühl man in schwierigen Situationen mit sich hat. Zudem kann man besser auf andere zugehen und sich helfen lassen und man empfindet auch mehr Mitgefühl mit anderen.
Mitgefühl hat oft den Beigeschmack von „weich“ oder „schwach“ oder fühlt sich so an, als mache man sich „wehrlos“ oder „strenge sich nicht genug an“. Es ist ein großer Fehler, Mitgefühl so zu sehen, denn es setzt im Gegenteil voraus, dass man für schmerzhafte Gefühle offen sein und sie aushalten kann, um sich schwierigeren Emotionen und Problemen zu stellen. Manchmal ist es Wut, die uns vor schmerzhafteren Dingen Deckung bietet, aber es ist Mitgefühl, das den Mut verleiht, uns ihnen zu stellen. Mitgefühl bedeutet nicht, dass man sich von emotionalen Schwierigkeiten oder von etwas Unangenehmem abwendet oder versucht, sie loszuwerden. Es ist keine weiche Option. Vielmehr verschafft uns Mitgefühl den Mut, die Aufrichtigkeit und die Stärke, die wir brauchen, um mit unseren Schwierigkeiten umzugehen, und Wut und andere Probleme zu mildern. Es befähigt uns, das zu tun, was für uns und unser Leben sinnvoll und hilfreich ist, und unser Leben voller und zufriedener zu leben.
In dieses Buch bringt Russell Kolts seine langjährige Erfahrung als klinischer Psychologe und als Psychotherapeut ein, der in Washington mit Menschen arbeitet, die an einer Vielzahl verschiedener emotionaler Probleme leiden. Außerdem meditiert er seit vielen Jahren. Er hat besonderes Interesse an der Arbeit mit Menschen, die sich aufgrund von aggressivem Verhalten im Gefängnis befinden. Er bringt auch seine Erfahrung mit der Compassion Focused Therapy (CFT) bei der Behandlung von Wut ein. In diesem Buch beschreibt er ein Modell von Mitgefühl, das Ihr Selbstvertrauen stimulieren und aufbauen kann, sodass Sie auf Ihre Wut zugehen und sich mit ihr auseinandersetzen können. Sie werden lernen, wie Sie eine unterstützende Freundschaft mit sich selbst aufbauen können, die Ihnen in schweren Zeiten helfen wird. Kolts leitet Sie an, wie Sie eine mitfühlende Motivation, mitfühlende Aufmerksamkeit, Gefühle, die von Mitgefühl getragen sind, mitfühlendes Denken und mitfühlendes Verhalten entwickeln können. Sie werden etwas über die potentielle Wirkung von Bildern lernen, die Mitgefühl ausdrücken oder verkörpern, und die Sie geistig entwickeln können – Bilder, die bewirken, dass Sie sich selbst als mitfühlend empfinden, und die aus der eigenen inneren Weisheit und den Qualitäten des Wohlwollens gespeist werden. Das sind Qualitäten, die Sie sehr wahrscheinlich empfinden, wenn Sie ruhig sind oder Anteilnahme zeigen. Es ist sehr nützlich, zu lernen, wie man atmen muss, um „langsamer zu werden“, und auch diese Qualitäten zur Verfügung zu haben, wenn Frustration, Wut und Zorn uns wie ein Sturm mitreißen. Mit dem Gebrauch verschiedener Bilder, die Mitgefühl verkörpern, werden Sie entdecken, dass Ihre Orientierung auf Mitgefühl visuell oder auditorisch sein kann (zum Beispiel die Imagination einer mitfühlenden Stimme, die zu Ihnen spricht, wenn Sie sie brauchen). Diese Bilder sind besonders nützlich, um in Momenten intensiver Not oder negativer Emotionen mit mitfühlenden Gedanken und Wünschen in Berührung zu kommen.
Der Ansatz, dem Kolts folgt, ist der Compassionate Mind Approach. Wenn man Mitgefühl weckt und sich davon leiten lässt, wird es unsere Aufmerksamkeit, die Gedanken und Gefühle und unser Verhalten beeinflussen – mit anderen Worten, wie unser Geist als Ganzes funktioniert. Der Compassionate Mind Approach geht auf viele andere gut entwickelte Ansätze zurück, darunter auch auf buddhistische Traditionen. Außerdem wurzeln Formen des Compassionate Mind Approach – besonders die, die Teil der CFT bilden – in einem wissenschaftlichen Verständnis davon, wie unser Geist funktioniert. Ohne Zweifel wird sich in Zukunft unser wissenschaftliches Verständnis erweitern und verbessern. Etwas, was sich nicht verändern wird, ist hingegen die Tatsache, dass Freundlichkeit, Wärme und Verstehen immer eine große Hilfe sind. In diesem Buch werden Ihnen diese Qualitäten immer wieder begegnen, sodass auch Sie lernen werden, verständnisvoll, unterstützend und freundlich, aber auch offen und mutig zu sein, wenn Sie mit Ihrer Wut arbeiten.
Viele Menschen leiden stumm und im Verborgenen an einer Vielzahl von Problemen mit Wut und Frustration – manche empfinden deswegen Scham oder, weil sie so empfinden, Ärger, andere haben manchmal Angst, Wut und Frustration könnten die Oberhand gewinnen. Leider hält Scham viele davon ab, Hilfe zu suchen. Wenn wir aber unser Herz für Mitgefühl öffnen, können wir die ersten Schritte tun, auf neue Weise mit unseren Problemen umzugehen. Meine mitfühlenden Wünsche begleiten Sie auf Ihrer Reise.
Paul Gilbert
August 2011