Читать книгу Schließe Freundschaft mit deiner Wut - Russell Kolts - Страница 8
Оглавление1 | Ärger und WutEinführung und Überblick |
Als ich mich auf dieses Buch vorbereitete, habe ich mich hingesetzt und den Fernsehapparat eingeschaltet. Ich wollte eine interessante Geschichte über Wut finden. Ich suchte ein Beispiel, das Ihre Aufmerksamkeit erregen und Sie fesseln würde und Ihnen das Gefühl vermitteln würde, dass Sie dieses Buch wirklich lesen wollen. Ich dachte mir, dass es sicher nicht schwierig sein würde, im Fernsehen (oder im Internet) ein Beispiel für Aggressivität zu finden, das die meisten Leser interessant finden könnten. Tatsächlich war das auch kein Problem.
Schwierig war nur, ein Beispiel auszuwählen: Sollte ich über die Berühmtheit schreiben, die vor laufender Kamera jemanden mit rassistischen Ausdrücken beschimpft hatte, der nicht einmal dieser Rasse angehörte? Über den Starathleten, der gesperrt worden war, weil er den Spieler einer anderen Mannschaft geschlagen hatte? Oder über die Talkshowgäste, die in farbigen Ausdrücken die ebenso farbige äußere Erscheinung oder die Lebensstile ihrer Gegenüber durch den Kakao ziehen? Ich meine, ich fand diese Stiefel selbst ein bisschen grell, also wirklich …
Am Ende war ich von all diesen Beispielen unbeherrschter Aggressivität ein wenig überwältigt und beschloss, sie alle zu verwenden.
Oft hat man den Eindruck, überall von Aggression umgeben zu sein. Wir schalten die Abendnachrichten ein und sind mit Berichten von häuslicher Gewalt, Gewaltverbrechen, sich befehdenden Berühmtheiten und Politikern, Gewalt im Straßenverkehr und zahllosen Gruppen konfrontiert, die gegen fast alles protestieren, was man sich vorstellen kann. Die Leserbriefe in den Zeitungen enthüllen noch mehr Aggression und Wut, mit Tiraden und feindseligen Attacken gegen Politiker, Personen des öffentlichen Lebens und andere Leserbriefautoren. Mein lokales Wochenblatt hat sogar einen Extrateil für „Meckereien“, der Gelegenheit geben soll, es in maximal 50 Worten jemandem heimzuzahlen, über den man sich geärgert hat. Unsere politischen Parteien haben die Macht von Wut und Angst erkannt, und manchmal sieht es so aus, als schürten sie diese Emotionen absichtlich. Sie attackieren einander in endlosen Wahlreden und Debatten, vielleicht in der Hoffnung, unsere Empörung in Stimmen für ihre Sache und ihre Kandidaten zu verwandeln.
Formen von Ärger und Wut
Ärger und Wut sind vielfältig in unserem Leben. Da ist einmal unsere Frustration, wenn wir uns umsonst angestrengt und unser Ziel nicht erreicht haben – wenn wir hart arbeiten und die Dinge sich doch nicht so entwickeln, wie wir es uns wünschen. Wenn wir gereizt und bereit sind, auf die geringste Frustration zu reagieren, kann sich Wut dicht unter der Oberfläche verbergen. Da ist die impulsive Wut, wenn wir einfach zuschlagen – sie scheint ein Eigenleben zu haben, so schnell und mächtig flammt sie auf. Und da ist die selbstgerechte Wut, wenn wir Ungerechtigkeit erleben oder das Gefühl haben, dass uns unrecht getan oder wir unfair kritisiert wurden. Wut entsteht auch aus einem Gefühl der Ohnmacht, wenn wir uns nicht gesehen oder gehört fühlen. Wir nennen die Ausdrucksformen der Wut „Frustration“, „Gereiztheit“ oder „Empörung“. Aber alle diese Erfahrungen sind Ausdruck des Systems in unserem Gehirn, das uns hilft, auf Bedrohungen und Gefahren zu reagieren (unser „Bedrohungssystem“).
Menschen, die leicht frustriert sind, haben vielleicht solange einen ganz wunderbaren Tag, bis sie plötzlich nicht das bekommen, was sie wollen, oder ihre Unzufriedenheit bricht hervor, wenn ihnen irgendetwas in die Quere kommt. Diese Ausbrüche und Gefühle haben etwas mit „Frustrationstoleranz“ zu tun, die bei manchen Menschen ziemlich niedrig sein kann und viele Probleme verursacht. Die Frustrationstoleranz kann besonders niedrig sein, wenn man unter Zeitdruck steht oder zu viel zu tun hat – ein typisches Muster in unserer heutigen Arbeitswelt. Es ist schon interessant, dass wir uns so oft einem Zeitdruck aussetzen und uns zu viel vornehmen, obwohl wir wissen, wie frustriert uns das machen kann.
Wenn Ärger die Form von Gereiztheit annimmt, erscheint er eher als Stimmung oder dauerhafter Geisteszustand, besonders dann, wenn wir unter Stress stehen, deprimiert oder depressiv sind. Wir gehen dann durch den Tag und müssen jederzeit damit rechnen, dass unsere Wut hervorbricht. Das sind solche Tage, an denen wir bissig auf Familienmitglieder oder Freunde reagieren, oder unwirsch sind, wenn Kinder mit uns spielen wollen.
Wenn es noch schlimmer wird, kann Ärger die Form von Feindseligkeit annehmen und wie ein Teil der Persönlichkeit wirken. Menschen mit einer so tief verwurzelten Feindseligkeit empfinden das Leben als Kampf, und sie reagieren auf Situationen und andere Menschen oft auf eine negative und übertrieben kritische Weise. Es fällt ihnen schwer, den Gefühlen anderer zu vertrauen und Rücksicht auf sie zu nehmen, wenn sie ihre Ziele verfolgen.
Ärger kann von unterschiedlicher Intensität sein, wobei Gereiztheit und Frustration sich am einen Ende des Spektrums und Wut und Zorn am anderen befinden. Er kann langsam oder schnell zum Ausdruck kommen (sich allmählich aufbauen und köcheln oder auf der anderen Seite plötzlich auf jemanden einschlagen) und er kann unterschiedlich lange andauern (chronische Gereiztheit und Feindseligkeit gegenüber kurzen Wutausbrüchen). Wir unterscheiden uns darin voneinander, wie wir unseren Ärger ausdrücken bzw. ob wir ihn überhaupt ausdrücken oder nicht. Ärger kann sich in Form peinlichen, unkontrollierten Verhaltens manifestieren, z. B. als unangemessen formulierte E-Mail, als bissige Bemerkung oder in Form eines Gegenstandes, den jemand durch den Raum wirft. Viele von uns erleben aber auch Ärger, der „überkontrolliert“ ist: wenn man ihn unterdrückt und sich stundenlang damit quält, „wie schlimm man behandelt wurde“, in der Fantasie immer wieder Rachegedanken wiederkäut usw. Andere Menschen sind vielleicht der Meinung, dass es schon inakzeptabel ist, Ärger oder Wut auch nur zu fühlen, und sie haben Angst vor ihren eigenen Gedanken, Wünschen und Fantasien. Solche Menschen verhalten sich in ihrem Leben häufig sehr passiv, sie vermeiden Meinungsverschiedenheiten oder Auseinandersetzungen, auch wenn das zu Problemen in ihrem eigenen Leben führt (1).
Ob es uns gefällt oder nicht, Ärger ist ein Teil unseres Lebens, und ganze Systeme in unserem Gehirn sind damit befasst. Es ist wichtig, zu lernen, mit Ärger zu arbeiten, denn wenn wir nicht bewusst damit umgehen, kann er negative Wirkungen auf unsere psychische und physische Gesundheit haben. Schlecht kontrollierter Ärger kann Beziehungen mit Partnern, Kindern, Freunden und Kollegen dauerhaft beschädigen. Er kann nicht nur zu Erschöpfung, Angst und Depression führen, man hat ihn auch mit reduzierter Funktion des Immunsystems, mit Hypertonie, Infarktrisiko und koronaren Herzerkrankungen in Verbindung gebracht (2). In meiner Danksagung habe ich die Gruppen erwähnt, mit denen ich mit der Compassion Focused Therapy in einem örtlichen Gefängnis arbeite. Die Teilnehmer dieser Gruppen beginnen ihre Therapie mit einer kurzen Vorstellung und sprechen dann über ihre Motivation, weshalb sie lernen möchten, mit Ärger und Wut umzugehen. Mindestens die Hälfte der Teilnehmer einer meiner neueren Gruppen hat erwähnt, dass ihre Verbrechen durch Ärger oder heftige Wutausbrüche und daraus resultierende Gewalt bedingt waren.
Glücklicherweise hat unser Ärger normalerweise nicht so dramatische Folgen wie die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe, aber er kann dennoch eine gewaltige Wirkung auf unsere Fähigkeit haben, ein glückliches Leben zu führen. Denken Sie zum Beispiel an die Probleme, die Sie in Beziehungen hatten. Wie viele dieser Probleme hatten in irgendeiner Form mit Aggression zu tun? Häufig wurzeln diese Probleme darin, wie wir unseren Ärger erleben sowie in unseren Möglichkeiten oder Fähigkeiten, ihn auszudrücken (oder dem Mangel daran). Tatsächlich erleben wir alle Ärger in unserem Leben und wir leben in einer Welt, die von Aggression geprägt ist. Dieses Buch wird Möglichkeiten beschreiben, wie man Ärger und Aggression verstehen und damit arbeiten kann. Das soll uns dabei helfen, bessere Beziehungen zu gestalten, glücklicher zu leben und zu einer friedlicheren Welt beizutragen.
Aus der Nähe betrachtet
Schauen wir uns Steve an – einen meiner Patienten, der sich mit den Konsequenzen seiner Aggression auseinandersetzen musste. Als er sprach, wurde sein Gesicht rot, und als er den Zusammenstoß beschrieb, der ihn seinen Job kosten konnte, nahmen seine Worte einen rauen Ton an. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, was sein Kollege zu ihm gesagt hatte, aber er wusste, dass er respektlos behandelt worden war und dass er das nicht hinnehmen wollte. Seine Wut war so plötzlich gekommen, dass sie ihm Angst gemacht hätte, wenn er nicht so mit ihr identifiziert gewesen wäre. Wie so oft zuvor, begann er zu schreien, und er stieß Drohungen aus. Steve ballte die Fäuste, er griff den Mann nicht an, aber er hatte es gewollt. Nur die Angst vor dem Gefängnis hatte ihn davon abgehalten, das zu tun.
Sein Kollege ging weg und schien durch Steves Reaktion eingeschüchtert und schockiert zu sein, und Steve kochte weiter. Seine Hände zitterten, als er erzählte: „Niemand behandelt mich mit Respekt. Nicht die Leute, mit denen ich arbeite, nicht mein Chef, niemand. Zum Teufel mit ihnen. Ich hätte diesem Arschloch eine Lektion erteilen sollen.“
Aufgrund von Zusammenstößen wie diesem hatte Steve schon eine Reihe von Jobs verloren. Seine Beziehungen mit seiner Frau und mit seinen Kindern waren angespannt, und er merkte, dass sie ihm aus dem Weg gingen, und sehr vorsichtig waren, um ihn nicht zu reizen. Er hatte seine Frau nie geschlagen, aber bedrückende Gefühle stiegen in ihm auf, wenn er sich an die Angst erinnerte, die er manchmal in ihren Augen sah, wenn er von Wut überwältigt war. In diesen Situationen fühlte er sich manchmal stark und mächtig, aber in seiner Erinnerung wich dies schnell Gefühlen von Scham, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Er dachte nur selten über seine Wutausbrüche nach und neigte dazu, sie aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, sobald sie vorbei waren, genauso wie er gelernt hatte, die Erinnerungen an seine Zeit im Irak zu verdrängen und an die Schläge, die seine Mutter und er von seinem Vater bekommen hatten, als er klein war.
Obwohl er es vermied, hinterher an seine Wutausbrüche zu denken, war er doch ständig in einer gewissen Anspannung und aufgeregt. Er hielt andere für „nervig, grob, faul und verantwortungslos“, andere Autofahrer hielt er für „Idioten, denen man den Führerschein entziehen müsste“. Er hatte das Gefühl, dass seine Frau und die Kinder ihn einfach benutzten und das Leben, das er ihnen mit Jahren harter Arbeit in gehassten Jobs ermöglichte, als selbstverständlich nahmen. Wenn er wütend war, fielen ihm oft Leute ein, die ihm geschadet oder ihn respektlos behandelt hatten, und er dachte an vieles in seinem Leben, das nicht so geworden war, wie er es wollte.
Steve fühlte sich von seinen Reaktionen verraten und war frustriert. Er kämpfte abends um seinen Schlaf, und wenn er dann endlich schlief, biss er die Zähne so stark aufeinander, dass am Morgen sein Kiefer schmerzte. Sein Magen war ständig in Aufruhr, er hatte Magengeschwüre und musste ständig Medikamente nehmen. Sein ganzer Körper schmerzte – sein Kopf, sein Rücken, sein Kiefer. Und vor Kurzem hatte er auch noch einen Herzinfarkt Sein Arzt hatte ihm eine Psychotherapie empfohlen, um an seinem „Stress“ zu arbeiten. So war er zu mir gekommen.
So viel Wut er auch gegen andere richtete, niemanden verurteilte er schärfer als sich selbst. In seinen besonneneren Momenten gestand er das überwältigende Gefühl ein, dass er ein gescheiterter Ehemann, Vater, Arbeiter und Mann war. Zu vielen seiner Kämpfe mit seiner Frau war es gekommen, wenn sie ihn als Vater kritisiert hatte – nicht, weil er zu streng mit den Kindern war, sondern dass er sie oft überhaupt nicht disziplinierte. Das war eine Kritik, von der er wusste, dass sie in gewisser Hinsicht zutraf. Steve fühlte sich hilflos. Konnte sie nicht sehen, dass er sich als Vater zurückhielt, weil er Angst hatte, er könnte seine Kinder so behandeln, wie sein Vater ihn behandelt hatte? Sah sie nicht, dass er sie liebte und dass er ihnen die Lektionen ersparen wollte, die er leider von seinem eigenen Vater hatte lernen müssen? Steve hatte schreckliche Angst vor seiner eigenen Wut und vor dem Kontrollverlust, der sie begleitete. Er spürte, dass ihm seine Familie entglitt, und er wusste nicht, wie er das aufhalten sollte. Dafür hasste er sich.
Steves Geschichte ähnelt der von vielen, die mit Wut kämpfen. Sein Leben mag uns extrem erscheinen. Andere, die aufgrund ihrer unkontrollierten Wut ihre Ehe, Familie oder sogar ihre Freiheit verloren haben, können wahrscheinlich gut verstehen, in welchem Maß er sich zurückhält. Wie Steve fühlen sich vielleicht viele von uns in einer Art Falle ihrer Wut und möchten etwas verändern, aber sind entmutigt, weil sie mit allem, was sie aufbieten konnten, erfolglos waren.
Was meinen wir mit „Ärger“ oder „Wut“?
Eine der Herausforderungen der Psychologie besteht darin, dass viele Dinge, die wir studieren, auch wenn sie uns sehr vertraut erscheinen können (wie „Liebe“, „Selbstwertgefühl“ und auch „Ärger“ oder „Wut“), manchmal ziemlich schwer zu definieren sind. Bleiben wir einen Moment dabei, um ganz klar zu machen, was wir mit „Ärger“ meinen.
Wut gilt als eine der Grundemotionen (3) neben Emotionen wie Angst, Ekel, Freude und Traurigkeit. Dies bedeutet, dass diese Emotion unabhängig zu allen Zeiten und in verschiedenen Kulturen beobachtet wurde. Der Gesichtsausdruck von Wut wird überall verstanden, sogar in der Tierwelt. Das Erleben von Wut kann auch mit den sog. „sekundären Emotionen“ in Verbindung gebracht werden, die Bewusstsein von einem selbst voraussetzen und zu denen Scham (4), Stolz und Verlegenheit gehören.
Wenn wir an eine Emotion denken, stellen wir uns vielleicht schnell vor, wie wir uns „fühlen“, wenn wir diese Emotion erleben. Zu dem „Gefühl“ von Ärger und Wut gehören eine Menge Erfahrungen oder Wahrnehmungen, zum Beispiel körperliche Empfindungen, Motivationen und Weisen zu denken. Wut und andere Emotionen organisieren das Bewusstsein auf eine bestimmte Weise und wirken sich darauf aus, wie man das Leben erlebt und wahrnimmt. Entsprechend stellen sich Wut und andere Emotionen in unserem Gehirn dar – es gibt keine bestimmte Stelle im Gehirn, wo Wut und Ärger zu finden wären. Eher interagieren die Teile des Gehirns, die beeinflussen, wann man wütend oder ärgerlich wird, mit vielen anderen Bereichen des Gehirns und des Körpers (5), die alle zusammen einen „inneren Zustand“ der Wut oder des Ärgers oder ein entsprechendes Muster im Gehirn (brain pattern) hervorrufen. Beim Compassionate-Mind-Modell verwenden wir oft das „Spinnendiagramm“ (Diagramm 1.1), um darzustellen, wie innere Zustände der Wut uns innerlich bewegen können (6). Dieses Diagramm zeigt, wie Wut unser Verhalten uns selbst gegenüber sowie anderen Menschen und der Welt gegenüber verändert.
Wenn wir uns anschauen, wie Ärger oder Wut unser Bewusstsein organisieren, können wir verstehen, dass das, was wir „Ärger“ nennen, eigentlich ein fortschreitender Prozess im Gehirn ist, vergleichbar einer Reihe von Dominosteinen, die alle von allein umfallen, wenn der erste umgestoßen ist. Wenn man seine Wut bemerkt, hat das Gehirn schon den ersten Dominostein gekippt, denn es bewertet die Situation sofort als unerwünscht oder bedrohlich. Der erste Dominostein steht für die Aktivierung unseres Bedrohungssystems durch unser Bewusstsein.
Diagramm 1.1: Wie Ärger und Wut Bewusstsein und Denken organisieren
Bestimmte Teile unseres Gehirns, wie zum Beispiel die Amygdala, entscheiden, wann wir wütend werden. Diese Teile sind die primären Spieler bei dem, was wir das „Bedrohungssystem“ nennen. (Wir werden in Kap. 2 darauf zurückkommen.) Für jetzt reicht es, zu wissen, dass die Aufgabe des Bedrohungssystems darin besteht, Gefahren zu erkennen und schnell darauf zu reagieren. Wie wir sehen werden, hat das System sehr schnelle Reaktionen entwickelt, da sonst die Abwehrmaßnahmen zu spät kommen könnten. Diese Teile unseres Gehirns sind also sehr effizient, und oft sind wir uns dessen, was passiert, nicht einmal bewusst, da sie uns sehr schnell aktivieren, damit wir auf eine reale oder auf eine wahrgenommene Gefahr oder Bedrohung reagieren. Die Dominosteine haben begonnen zu fallen, bevor wir überhaupt wissen, was los ist. Wenn wir zu unserer Erfahrung „erwachen“, sind wir schon mitten in unserem Wutausbruch … und haben zum großen Teil verpasst, wie sich der Prozess aufgebaut hat. Dies ist der Grund, weshalb es sich so anfühlt, als tauchte die Wut plötzlich aus dem Nichts auf.
Es ist wichtig, zu verstehen, dass dieser Ablauf der Dinge nicht unser Fehler ist. Unser Gehirn funktioniert einfach so. Dies ist eine ganz entscheidende Einsicht, auf die wir noch oft zurückkommen werden: Das Umgehen mit Wut und Ärger ist nicht nur eine Sache von Willenskraft oder persönlicher Disziplin. Wenn es uns schwerfällt, unsere Wut zu kontrollieren, bedeutet das nicht, dass wir „uns nicht genug um Veränderung bemühen“ oder dass irgendetwas mit uns nicht stimmt. Schauen wir uns die Erfahrung der Wut jetzt ein wenig genauer an.
Analyse der Erfahrung von Ärger und Wut
Es ist eines der Ziele dieses Buches, Ihnen zu helfen, mit der Natur Ihrer Aggression, Ihrer Wut oder Ihres Ärgers vertraut zu werden und schließlich in der Lage zu sein, auf eine mitfühlende und weise Art, mit Selbstvertrauen und Stärke damit zu arbeiten. Bei diesem mitfühlenden Ansatz geht es nicht darum, Aggression irgendwie „wegzutrösten“ oder sie loszuwerden – das wäre unmöglich, denn Aggression ist ein wesentlicher Teil unseres Menschseins. So können wir lernen, Aggression als Teil dessen zu verstehen, „was uns ticken lässt“, das heißt, was es möglich macht, dass wir funktionieren – aber nicht wie eine tickende Bombe, sondern eher wie eine alte Standuhr aus Großvaters Zeiten. Ein mitfühlendes Verständnis von Aggression bedeutet, Verantwortung dafür zu übernehmen und zu lernen, damit zu arbeiten, statt zuzulassen, dass sie unser Leben bestimmt. Es ist wenig hilfreich, sie in der Hoffnung zu ignorieren, dass sie einfach verschwindet, und auch nicht, Dinge zu tun, die sie nur verschlimmern. Wir werden also die Aspekte von Aggression betrachten, die in dem Spinnendiagramm oben abgebildet sind. Dies hilft uns, eine genaue Vorstellung von den verschiedenen Faktoren zu bekommen, die unsere Aggression ausmachen. Es sind Faktoren, die so zusammenwirken und unser Bewusstsein organisieren können, dass wir in einem Teufelskreis von aggressiven Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen feststecken, die weder konstruktiv noch mitfühlend sind.
Wie es sich anfühlt: Ärger und Wut im Körper
Ärger und Wut sind zunächst etwas, was man fühlt. Unser Körper ist für potentielle Gefahren sensibel, und Teile unseres Gehirns wie die Amygdala, sind darauf ausgelegt, diese Gefahren schnell zu erkennen und darauf zu reagieren. Diese Teile tauschen mit vielen anderen Bereichen des Gehirns und des Körpers Botschaften aus.
Wahrscheinlich sind Sie mit diesem Prozess ein wenig vertraut – denken Sie einfach daran, wie sich Ihr Körper anfühlt, wenn Sie richtig wütend werden. So ist das Gefühl des Körpers, wenn er uns darauf vorbereitet, zu kämpfen – das Nervensystem ist aktiviert und chemische Substanzen wie Noradrenalin werden in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Bei körperlicher Erregung beginnt unser Herz zu klopfen, die Atemfrequenz erhöht sich und der Blutdruck steigt. Andere körperliche Veränderungen werden äußerlich sichtbar wie zum Beispiel Anspannung der Muskulatur und des Kiefers und weit geöffnete Augen.
Dazu schlagen wir eine Übung vor, durch die wir wahrnehmen können, wie sich Aggression im Körper auswirkt.
Übung 1.1: Ärger und Wut im Körper
Versuchen Sie, sich an einen Moment zu erinnern, als Sie aggressiv waren oder Ärger empfanden, und konzentrieren Sie sich darauf. Wie nehmen Sie die Aggression in Ihrem Körper wahr? Wie fühlt sich Ihre Aggression an?
• Welche körperlichen Empfindungen waren da, als Sie aggressiv waren oder Ärger empfanden?
• Woher wissen Sie, dass Sie aggressiv waren? Welche Empfindungen lassen Sie erkennen, dass es Aggression war, was Sie gefühlt haben?
Wenn Menschen aggressiv oder ärgerlich sind, empfinden sie häufig eine Enge in der Magengegend oder in der Brust oder das Atmen fällt ihnen schwerer. Andere berichten von Schmerzen im Nacken oder von Kopfschmerzen.
In meinem eigenen Leben und bei meiner Arbeit mit Klienten habe ich beobachtet, dass viele Menschen ignorieren, wie sich Emotionen in ihrem Körper ausdrücken, es sei denn, sie sind wirklich schmerzhaft. Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Erregung, die sich im Körper aufbaut, die Aggression weiter antreiben kann. Wenn wir lernen, die Erregung der Aggression im Körper zu erkennen und mit ihr zu arbeiten, können wir verhindern, von ihr völlig erfasst zu werden, und sie kontrollieren.
Diese Erregung ist natürlich kein Zufall. In Kapitel 2 werden wir genauer ausführen, dass Ärger und Wut Emotionen sind, die sich entwickelt haben, um mit Rückschlägen, mit Hindernissen, die vereiteln, dass wir das verfolgen, was wir wollen, und mit einer Reihe von Gefahren für unser Überleben umgehen zu können. Ärger und Wut bereiten uns darauf vor, aktiv zu werden und eine Veränderung zu erzwingen, indem sie unseren Körper zum Handeln bereit machen. Dieser Prozess kann zu einem mächtigen und starken emotionalen Erleben führen, das es dann schwer macht, Ärger oder Wut wieder zu reduzieren – denn oft ist es auch so, dass man dieses Gefühl genießt. Später werden wir darüber sprechen, wie man diese Gefühle verstehen und mit ihnen arbeiten kann, damit man motiviert bleibt, effektiver mit unserer Wut zu arbeiten.
Aufmerksamkeit: Das Spotlight des Geistes
Eine der Hauptaufgaben des Gehirns besteht darin, die erstaunliche Menge an Informationen zu filtern, die wir jeden Tag durch unsere Sinne empfangen, und dann unsere Aufmerksamkeit für die Informationen zu mobilisieren, die für unser Überleben wichtig sind. In einem gewissen Ausmaß haben wir Kontrolle über das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, aber unser Gehirn ist an sich so verschaltet, dass es sehr wirksam fokussiert, wenn es eine reale oder vorgestellte Gefahr oder Bedrohung wahrnimmt. Wenn dies passiert, bündelt unser Gehirn unsere Aufmerksamkeit auf die Informationen, die sich auf die Gefahr oder Bedrohung beziehen, und auf Gedanken und Erinnerungen an andere, möglicherweise ähnliche Erfahrungen. Dann kann es schwierig sein, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes und weg von der wahrgenommenen Gefahr zu richten. Denken Sie einmal an ein Ereignis, bei dem Sie in starke Verlegenheit geraten sind, und wie leicht es war, von dieser Erfahrung vollkommen absorbiert zu werden und in ihr gefangen zu sein. Erfahrungen bedrohlicher Situationen haben die Macht, alle anderen Erfahrungen zu überschatten – unser Gehirn gibt ihnen vor anderen Dingen, die gerade passieren, Vorrang.
Diese unwillkürliche Verengung unserer Aufmerksamkeit kann eine starke Erfahrung sein – ich habe das selbst erlebt. Als ich Ende der 1990er Jahre an der University of California in San Diego mein Praktikum machte, haben ein paar andere Praktikanten und ich die Nähe zum Meer genutzt – sobald der Arbeitstag vorbei war, sind wir direkt zum Surfen gegangen. Diese Nachmittage sind einige der angenehmsten Erinnerungen an diese Zeit – das warme Wasser des Pazifik, der Geruch und das Rauschen des Meeres und die Schönheit des Sonnenuntergangs.
Eines Tages paddelten wir wieder aufs Meer, als die Sonne eben unterzugehen begann und uns direkt in die Augen schien. Wir waren geblendet, aber etwa drei Meter vor uns konnten wir plötzlich den Umriss einer Rückenflosse erkennen, die aus dem Wasser ragte. Sofort verschwand alles andere aus unserem Bewusstsein – der schöne Sonnenuntergang, das warme Wasser, der Spaß des Tages – und ein einziger panischer Gedanke beherrschte uns: ein Hai. Der verengte Fokus meiner Aufmerksamkeit und die Bereitschaft meines Körpers, sofort die Flucht zu ergreifen, spiegelten die unglaublich schnelle Aktivierung meines Bedrohungssystems.
Selbst jetzt nach Jahren der Meditation, die mir helfen soll, meine Aufmerksamkeit zu richten, bin ich selten in der Lage, so einen ausschließlichen Fokus zu erleben wie damals, als ich nach dieser schemenhaften Flosse Ausschau hielt. Glücklicherweise dauerte es an dem Tag nur einen Moment, dann war alles vorbei. Als sich die Flosse aus dem direkten Sonnenlicht herausbewegte, sahen wir, dass sie gebogen war, und entdeckten noch vier andere in ihrer Nähe. Der Schreck verwandelte sich in Freude, als wir merkten, dass dies kein Hai, sondern eine kleine Gruppe von Delfinen war. Als die Gefahr vorüber war, wich die Anspannung und ich konnte wieder die Umgebung genießen und mich auch auf das Abendessen freuen: Carne asada burrito in der Taco-Bar.
Wenn unser Bedrohungssystem unsere Aufmerksamkeit schnell verengt, folgen die Gedanken. Dies ist einer der Gründe, weshalb man sich von seiner Aggression besetzt fühlen und es passieren kann, dass man Entscheidungen trifft, die bei späterer Überprüfung keinen Sinn zu machen scheinen. Wir neigen dazu, das Augenmaß zu verlieren, wenn wir unter dem Einfluss unseres Bedrohungssystems stehen. Es wird schwierig, flexibel zu denken und Informationen zu sammeln, die nicht unmittelbar mit der wahrgenommenen Gefahr zu tun haben.
Manchmal färbt die Aggression auch unsere Aufmerksamkeit. Die meisten Bedrohungen und Gefahren, die man wahrnimmt, sind nicht so eindeutig lebensbedrohlich wie ein Hai – nun gut, es waren zwar nur ein paar verspielte Delfine, aber in meiner Vorstellung war es ein riesiger Hai. Häufiger sind wir damit konfrontiert, dass wir nicht bekommen, was wir wollen, oder mit Ängsten, bloßgestellt oder von anderen negativ gesehen zu werden. In diesen Fällen kann der Gesamtfokus unserer Aufmerksamkeit immer noch ziemlich weit sein, aber wir neigen dazu, nur bestimmte Teile dessen wahrzunehmen, was geschieht – die Teile, die zu unserer aggressiven Stimmung passen oder sie nähren.
Beispiele aus meinem eigenen Leben fallen mir leicht ein – so erinnere ich mich, wie ich einmal morgens meinen Laptop zu Hause vergessen hatte und umkehren musste, um ihn zu holen und dann wieder zur Universität zu eilen. Ich machte mir Sorgen, dass ich zu meinem Statistikseminar zu spät kommen würde und meine koffeinsüchtigen Studenten nicht lange warten würden, um den Seminarraum zu verlassen und eines der vielen Cafés in der Nähe anzusteuern. Unterwegs kreisten meine Gedanken um all das Material, das ich mit ihnen vor dem nächsten Examen bewältigen musste, und ob ich es überhaupt schaffen würde.
Wie Sie sich vorstellen können, war ich deshalb ziemlich frustriert und ärgerlich. Wovon war meine Aufmerksamkeit eingenommen, als ich lange an einer roten Ampel warten musste? Von dem Song im Radio (den ich wirklich mochte) oder von der Person vor mir, die sich alle Zeit der Welt nahm, wieder loszufahren, als die Ampel schließlich auf Grün sprang? Als ich auf das Universitätsgelände einbog und einen Parkplatz suchte – was nahm ich da wahr? Die vielen Autos, die ordentlich geparkt waren, oder das eine, das quer stand und zwei Plätze einnahm? Als ich dann zum Seminarraum hastete, nahm ich da die frische Morgenluft oder den Gesang der Vögel in den Bäumen wahr? Oder war meine Aufmerksamkeit auf den peinlichen Kaffeefleck auf meinem Hemd gerichtet? Haben Sie selbst schon etwas Ähnliches erlebt?
Wenn sich unser Denken um die Erfahrung intensiver Aggression organisiert, wird unsere Aufmerksamkeit vom Negativen angezogen – auch wenn es nur eine kleine, unbedeutende Sache ist. Wenn man von Aggression oder Ärger besetzt ist, kann man im Laufe eines Vormittags 20 hilfsbereiten Menschen begegnen, ohne das auch nur zu bemerken. Wenn man aber von einer einzigen Person unfreundlich oder grob behandelt wird, kann einen das stundenlang beschäftigen. Man konzentriert sich auf die Teile der Erfahrung, die einem missfallen und die die aggressive Stimmung nähren, während man fast alles andere ignoriert (wenigstens das Gute).
Übung 1.2: Ärger und Wut und Aufmerksamkeit
Rufen Sie sich eine Situation ins Gedächtnis, die noch nicht lange zurückliegt und in der Sie sich geärgert haben.
• Worauf war Ihre Aufmerksamkeit gerichtet? Worauf haben Sie geachtet?
• Betrachten Sie die Qualität Ihrer Aufmerksamkeit. War sie weit und offen oder verengt?
• Gab es Aspekte der Situation, derer Sie sich nicht bewusst waren? Oder Dinge, die Sie nicht wahrgenommen haben?
Aggression und andere Emotionen, die mit Bedrohung und Gefahr zu tun haben, richten unsere Aufmerksamkeit besonders auf Informationen, die das Gefühl, bedroht zu sein, verstärken. Daher neigen wir dazu, Informationen zu ignorieren, die mit diesem inneren Zustand nicht konsistent sind. Unser Gehirn ist also zur Aggressivität geneigt. Wir suchen uns das natürlich nicht selbst aus und es ist sicher nicht unser Fehler. Es ist uns nicht vorzuwerfen, unser Gehirn funktioniert einfach so.
Und es funktioniert aus gutem Grund so, nämlich um unser Überleben zu sichern, um die Menschen, die uns nahestehen, zu schützen, und damit wir unseren Status und unseren Besitz verteidigen können. Wenn es eine reale Bedrohung oder Gefahr für uns gibt, brauchen wir selbstverständlich ein waches Bewusstsein, das allein darauf fokussiert ist und es uns ermöglicht, entsprechend zu reagieren. Wenn man auf den Gleisen eines heranrasenden Zuges steht, sollte die Aufmerksamkeit auf den Zug gerichtet sein und nicht von den schönen Wildblumen abgelenkt werden.
Das Problem ist, dass wir mehr Erlebnisse von der Art meiner Verspätung zum Seminar haben als extreme Erfahrungen wie meine Begegnung mit dem „Hai“. Denken Sie an Situationen aus jüngerer Zeit, in denen Sie sich aggressiv erlebt haben. Worauf war Ihre Aggression da gerichtet? Was hat sie ausgelöst? War es eine physische Bedrohung oder Gefahr oder war es etwas anderes? Viele der Bedrohungen, mit denen wir im modernen Leben konfrontiert sind, haben wenig mit Sicherheit für Leib und Leben zu tun, sondern eher mit Konflikten am Arbeitsplatz, mit sozialem Status, mit dem Selbstbild oder mit unseren Beziehungen. Aggression kann auch als emotionale Abwehr schmerzhafter Gefühle wie Verlust, Verlegenheit oder Scham benutzt werden. Und als wäre das noch nicht genug, das Gehirn kann auch seine eigenen „Bedrohungen“ erzeugen – in Form von Gedanken, Bildern und Fantasien.
Dinge, die wir uns sagen: Gedanken, Argumente und Grübeleien
Wenn man aggressiv ist, ist man oft mit einer Menge „automatischer Gedanken“ konfrontiert – mit Gedanken, die einem scheinbar von selbst in den Sinn kommen und die oft mit Dingen zu tun haben, die einem nicht gefallen oder mit denen man nichts zu tun haben will. Man neigt auch dazu, Dinge sehr persönlich zu nehmen, wenn man aggressiv wird oder sich sehr über etwas ärgert: „Dies sollte nicht passieren! Dies sollte mir nicht passieren! Das sollten sie nicht tun! Ich werde benutzt! Warum musste dies ausgerechnet jetzt passieren?“
Aggressive Gedanken entstehen häufig, wenn man sich bedroht fühlt. Wenn der neue Partner zum Beispiel nicht zur vereinbarten Zeit anruft, denkt man automatisch: „Ich bin ihm nicht so wichtig, denn sonst würde er mich anrufen.“ Solche Gedanken hängen häufig mit Unsicherheiten zusammen, die ihre Wurzel in der Vergangenheit haben. „Ich bin ihm nicht so wichtig …“ kann mit einem tieferen Problem wie Selbstwert und letztlich mit schwierigen Erinnerungen aus der Kindheit zu tun haben. Dieser Gedanke kann auch eine aggressive Reaktion auf eine wahrgenommene Gefahr für die Beziehung sein. Das Interessante ist aber, dass diese automatischen Gedanken meist nicht der Wahrheit entsprechen und nur von unserem überaktiven System zur Entdeckung von Gefahren und Bedrohungen genährt werden.
Eines meiner Lieblingsbeispiele stammt von Thubten Chodron, einer buddhistischen Nonne und Äbtissin der Sravasti Abbey im Nordwesten der USA. Sie ist auch eine produktive Autorin und Lehrerin (7). Vor ein paar Jahren hörte ich einen Vortrag von ihr über die Arbeit mit Aggression. Zu Beginn fragte sie die Zuhörer nach Aggression im Straßenverkehr – ein Thema, das in jüngerer Zeit, wenigstens in den USA, Schlagzeilen gemacht hat. Sie fragte: „Gibt es hier jemanden, der richtig aggressiv wird, wenn ihn jemand auf dem Freeway schneidet?“
Sofort hoben zwei Drittel der Zuhörer die Hand. Sie forderte uns dann auf, uns auf die Gedanken zu besinnen, die uns kommen, wenn dies passiert, und eine Reihe von Leuten teilte mit, was ihnen in so einer Situation durch den Kopf geht. Es waren vor allem negative Gedanken über den anderen Fahrer – Sie kennen sie: dass er entsetzlich blöde oder ein mieser Charakter ist oder zum persönlichen Vergnügen und aus reiner Langeweile das Leben anderer absichtlich in Gefahr bringt. „Dieses Arschloch!“ „Was für ein Idiot! Hat er keine Augen?“ „Er versucht tatsächlich, mich von der Straße zu drängen!“ „Ich würde ihm gern ein Sandwich ins Gesicht schmeißen!“
Thubten Chodron tat als Nächstes etwas, womit sie, wie ich jetzt sehe, ein Bewusstsein von Mitgefühl und Verbundenheit mit den anderen Fahrern fördern wollte: Sie fragte, wie viele von uns schon einmal einen anderen Fahrer geschnitten hätten. An dieser Stelle senkten fast alle etwas betroffen den Blick und hoben zögernd die Hand (anscheinend waren wir ein außergewöhnlich wahrheitsliebender Haufen). Sie forderte uns dann auf, Gründe für unser „rücksichtsloses“ Verhalten zu nennen. Niemand rief: „… weil ich ein Arschloch bin, dem nichts am Leben anderer liegt!“
Vielmehr konnte man murmeln hören: „Das war eine Ausnahme, ich hätte sonst die Ausfahrt verpasst“ und „Ich habe sie nicht rechtzeitig gesehen“. Der gereizte Ton im Raum verschwand und an seine Stelle traten Freundlichkeit und Mitgefühl, als wir uns innerlich in die anderen Fahrer hineinversetzen. Wir bedachten dann die vielen möglichen Gründe für ihr Verhalten, die in den Blick kommen konnten, wenn man ihnen keine Dummheit oder Bosheit und kein antisoziales Verhalten unterstellte. Wir öffneten uns für das mitfühlende Verständnis, dass es manchmal schwierig ist, auf dem Freeway voranzukommen, und dass wir alle manchmal Dinge tun, die andere behindern und anderen lästig sind – absichtlich oder unabsichtlich.
Solch mitfühlendes Erwägen kann ein sehr wirksames Gegenmittel gegen Aggression sein, und die Forschung hat gezeigt, dass Sympathie für jemanden, der einen beispielsweise beleidigt, die Aktivität des Gehirns, die mit Aggression verknüpft ist, reduziert (8). Wir können mit Aggression konstruktiv umgehen, wenn wir uns klarmachen, was wir miteinander gemeinsam haben und dass es Dinge gibt, die wir alle tun – zum Beispiel andere im Straßenverkehr schneiden. Innere Zustände der Aggression oder des Mitgefühls sind stark mit Motivation verbunden: Aggression mit der Motivation, Schmerz zuzufügen, Mitgefühl mit der Motivation, zu helfen. Mitgefühl kann dazu motivieren, selbst langsamer zu fahren, um den anderen vor uns einzuscheren zu lassen, statt zu beschleunigen, um ihn zu blockieren.
Grübeln
Wie schon erwähnt, scheinen unsere Gedanken von Ärger kontrolliert zu werden. Haben Sie einmal versucht, bei der Arbeit eine komplizierte Aufgabe zu erfüllen, für eine Prüfung zu lernen, eine Fernsehsendung zu sehen oder ein Buch zu lesen, wenn Sie wirklich ärgerlich waren? Das ist schwer, weil unser Bewusstsein dazu neigt, sich ständig mit unserem Ärger zu beschäftigen. Man kann sich anstrengen, wie man will, unser Gehirn lässt uns weiter an diese beleidigende Bemerkung denken, spielt die Situation immer wieder durch, führt sie uns immer wieder vor Augen. Man kann Stunden damit verbringen, über das, was „sie“ gesagt haben, über das, was wir gern gesagt hätten, zu grübeln und zu formulieren, was wir das nächste Mal sagen werden.
Wenn uns der Ärger im Griff hat, scheint unser Bewusstsein an der wahrgenommenen Gefahr oder Bedrohung zu kleben. Wir nehmen die Situation auseinander, analysieren alle ihre Aspekte. Wir grübeln, denken immer wieder darüber nach. Wir dramatisieren, sodass die einzigen Aspekte der Person oder der Situation, die für uns existieren, diejenigen sind, die uns ärgerlich oder wütend machen. Wir haben vielleicht das Gefühl, als existierte die andere Person aus dem einzigen Grund, uns sauer zu machen, oder als wäre der Job (oder die Beziehung, das ganze Leben) ausschließlich Mist. In vielen Fällen hat die Aggression mit Gedanken und Gefühlen zu tun, man würde nicht gemocht, man wäre isoliert, würde benutzt und von anderen nicht wertgeschätzt. Wie Sie sehen werden, hilft der Ansatz mit Mitgefühl bei der Arbeit mit Ärger und Wut, dem entgegenzuwirken, indem wir uns mit anderen verbunden und in Beziehung, wertgeschätzt und unterstützt fühlen. All diese Gefühle können den Ärger reduzieren.
Argumentieren
Wenn man sich in einem aggressiven Zustand befindet, wirkt sich das nicht nur auf den Inhalt unserer Gedanken aus, es beeinflusst auch die Weise, wie wir in unserer Umgebung argumentieren und Informationen interpretieren. Unsere Aufmerksamkeit ist schon auf die eher bedrohlichen Aspekte unserer Umwelt eingestellt – und was meinen Sie, was wir mit diesen Dingen tun, wenn wir sie einmal wahrnehmen? Wenn wir aggressiv sind, tun wir das, was wir auch sonst tun, wir bewerten, was passiert ist, und versuchen, Vorwürfe oder Zuschreibungen in Bezug auf das zu formulieren, was wir entdecken: „Wer hat das getan? Warum haben sie es getan? Was ist hier los? Wie sollte ich reagieren?“
Die Antworten, die wir finden, sind oft stark von unserem Ärger beeinflusst. Wie wir am Beispiel mit der Aggressivität im Straßenverkehr gesehen haben, formt sie das, was wir von anderen denken – und wenn wir uns bedroht fühlen, macht Ärger es persönlich. Wenn uns Ärger im Griff hat, neigen wir dazu, andere zu dämonisieren und sie für unsere unangenehmen Gefühle verantwortlich zu machen. Wir bewerten ihre Handlungen streng oder verurteilen sie und unterstellen ihnen die übelsten Motivationen: Sie versuchen bewusst, uns zu schaden oder Unannehmlichkeiten zu bereiten. Wir fühlen uns von anderen getrennt und isoliert. In diesen Situationen kann die Art und Weise, wie wir die Situation und den Anteil der anderen daran einschätzen, sowohl defensiv als auch aggressiv sein. Diese Person bewegt sich im Gang des Supermarkts nicht nur langsam, sie versucht bewusst, in voller Absicht, mir Unannehmlichkeiten zu bereiten und mir den Tag zu verderben. Die Bemerkung des Kollegen während der Besprechung war keine konstruktive Kritik, sie war ein Angriff auf mich. Ich will damit sagen, dass wir nicht nur dazu neigen, negative Meinungen über die anderen Menschen in der Situation und über ihre Motive zu bilden, wenn wir ärgerlich oder wütend sind, sondern dabei oft einem Irrtum unterliegen. Wir richten sogar strenge und harte Kritik gegen uns selbst: „Ich kann nicht fassen, dass ich das gemacht habe! Ich bin so blöde! Ich mache auch alles falsch!“
Andere Probleme entstehen, wenn wir in einem aggressiven Zustand argumentieren. Die Forschung hat gezeigt, dass Aggression, verglichen mit anderen Emotionen im Zusammenhang mit Bedrohung wie Traurigkeit oder Angst, mit einem Gefühl der Gewissheit oder Sicherheit verknüpft ist (9). Wenn man aggressiv oder ärgerlich ist, neigt man dazu, sich seines Denkens sehr sicher zu sein, auch wenn es mit dem, was uns aggressiv oder ärgerlich gemacht hat, nichts zu tun hat oder einfach falsch ist. Letzteres ist ziemlich wahrscheinlich, denn die Forschung zeigt auch, dass die Sicherheit, die die Aggressivität vermittelt, damit zusammenhängt, dass Informationen eher oberflächlich verarbeitet werden (10) – man denkt weniger genau, wenn man wertet oder urteilt und verlässt sich mehr auf Klischees (11).
Unter diesen Bedingungen kann es sehr leicht passieren, dass man schlechte Entscheidungen trifft, die Beziehungen beschädigen und unser Leben schwieriger machen können … die Entscheidung zum Beispiel, einen Partner zu beschimpfen oder einen Kollegen bloßzustellen. Nehmen Sie sich eine Minute Zeit und überlegen Sie, ob Ihnen Entscheidungen einfallen, die wirklich schrecklich waren (oder solche, die Sie bereuen), die Sie unter dem Einfluss von starkem Ärger oder Wut getroffen haben. Ich bin sicher, dass Ihnen welche einfallen. Wenn das nicht der Fall ist, haben Sie entweder ein sehr schlechtes Gedächtnis oder ein besonderes Geschick bei der Regulierung von Emotionen. Geschicklichkeit kann hier die Fähigkeit verleihen, darauf zu verzichten, wichtige Entscheidungen zu treffen oder sie aufzuschieben, wenn man merkt, dass man unter dem Einfluss starker Emotionen steht.
Übung 1.3: Von Ärger oder Wut beeinflusstes Denken
Schauen Sie sich Ihr Denken und Ihren Argumentationsstil an, die Sie von sich kennen, wenn Sie ärgerlich oder wütend sind.
• Worauf richten sich Ihre Gedanken? Woran denken Sie?
• Kommen Ihnen irgendwelche Erinnerungen, wenn Sie sich ärgern oder wütend sind? Wenn ja, was für Erinnerungen?
• Überlegen Sie, was mit Ihrem Denken passiert, wenn Sie wütend sind. Fangen Sie an zu grübeln? Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Gedanken sehr schnell kommen? Sind sie leicht oder schwer zu kontrollieren?
• Überlegen Sie, wie Ihre Gedanken Ihre Aggression beeinflussen. Verstärken sie sie oder beruhigen sie sie?
Aggression in Gedanken durchspielen: Bilder und Fantasien
Unser Gehirn besitzt eine erstaunliche Fähigkeit, zu imaginieren und zu fantasieren – sich etwas im Geist bildlich vorstellen zu können, als eine Szene, die man wie einen Film vor dem inneren Auge abspielt. Diese Fähigkeit ist jedoch von Mensch zu Mensch verschieden ausgeprägt. Manche Menschen, wie etwa meine Frau Lisa, können visuelle oder mentale Bilder nach Belieben entstehen lassen. Als wir zusammen die Schule besuchten, erzählte sie mir, sie könnte im Geist die Seiten ihrer Notizen durchsehen, wenn ihr bei einer Prüfung die Antwort nicht gleich einfiel. Ich bin mehr auditorisch veranlagt. Daher ist mein visuelles Vorstellungsvermögen nicht so gut wie ihres, aber ich kann fast alle bekannteren Songs von den 70er Jahren an bis in die 90er nennen und mir selbst vorspielen, so als wäre mein Gedächtnis eine Jukebox. Man kann Imagination benutzen, um fast alles zu üben, von Fähigkeiten der Selbstbehauptung bis zu Tonleitern auf der Gitarre – es funktioniert!
Der Grund, weshalb es funktioniert, ist, dass man viele derselben Zellen im Gehirn (die Neuronen) aufleuchten lassen kann, die aktiviert werden, wenn man wirklich in der Situation ist. Teile des Gehirns wie die emotionalen Zentren (auch das für Aggression zuständige) reagieren stark auf Bilder und Fantasien, und der Inhalt der Imaginationen wird seinerseits von unserer Stimmung geformt. Dies ist eine sehr gute Sache, wenn man an eine positive Erfahrung zurückdenkt oder sie genießt, aber es hat keine so gute Wirkung, wenn unser Bedrohungssystem die Oberhand hat und anfängt, Imagination und Fantasien zu bestimmen. Wie beim Grübeln neigen wir dazu, uns die Situation immer wieder vorzustellen, die uns geärgert oder wütend gemacht hat. Man kann Variationen dieser Situation visualisieren oder sich alle möglichen Formen ausmalen, wie man Ärger oder Wut hätte ausdrücken können oder wie man es jemandem in Zukunft „heimzahlen“ würde. Die Fantasien und Bilder dienen dazu, unseren Ärger oder die Wut am Kochen zu halten. Es ist ein Teufelskreis: Wenn man wütend ist, neigt man dazu, aggressive Fantasien und Bilder zu erleben; diese aggressiven Bilder und Fantasien schüren dann unsere emotionale Reaktion und lassen uns wütend bleiben. So funktionieren einfach unser Gehirn und unser Körper – sie können nicht zwischen der äußeren Welt und der Welt, die wir in uns erzeugen, unterscheiden.
Wie wir Bilder verwenden oder einsetzen, beeinflusst unseren Körper und unsere Emotionen permanent. Sie müssen mir das aber nicht einfach glauben, sehen Sie selbst: Stellen Sie sich das nächste Mal, wenn Sie Hunger haben, einen Teller mit Ihrem Lieblingsgericht vor. Wie sieht es aus? Wie riecht es? Wie schmeckt es? Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit dann auf die Reaktion Ihres Körper – läuft Ihnen das Wasser im Mund zusammen? Als sexuelle Wesen verwenden wir regelmäßig Bilder und Fantasien, um uns zu erregen und „in Stimmung“ zu halten. Die Bilder und Fantasien regen die Hypophyse an, die Hormone auszuschütten, die mit sexueller Erregung verbunden sind.
Hier ein anderes kleines mentales Experiment – viel Spaß dabei. Beginnen Sie bitte damit, dass Sie einige Erinnerungen in sich wachrufen, die mit verschiedenen Stimmungen verbunden sind, und schauen Sie, was passiert (ich empfehle dazu glückliche Erinnerungen). Ich werde dieses Experiment ebenfalls machen, während ich dies schreibe. Als Erstes stelle ich mir vor, wie ich mit meinen Freunden an der Universität ein Footballspiel besucht habe, und ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Als Nächstes denke ich daran, wie mein Sohn geboren wurde, und spüre eine Welle von Liebe, wenn ich ihn vor mir sehe, wie er sich an meine Frau kuschelt. Dann sehe ich mich bei der Beerdigung meines Großvaters, und Tränen steigen auf. Und so, wie wir körperlich auf diese schönen und traurigen Erinnerungen reagieren, ist es auch bei Situationen, in denen Aggression oder Ärger im Vordergrund standen. Ich verzichte aber darauf, denn es war ein Ereignis, der mich emotional sehr berührt hat. Wie war es für Sie, als Sie sich jetzt an bestimmte Dinge erinnert haben?
Das Gute ist, dass man lernen kann, die Macht der Imagination und der Fantasien zu nutzen, um innere Zustände von Mitgefühl herzustellen, die dazu führen, dass man sich sicher, zuversichtlich und mit anderen verbunden fühlt – und dass man Emotionen besser handhaben kann. Man kann diese Kräfte nutzen und Fähigkeiten einüben, mit denen man Konflikte auflösen kann, statt an ihnen festzuhalten oder sie zu nähren. In diesem Buch werden Sie lernen, das Potential Ihres Gehirns zu kontrollieren, Gedanken und Bilder zu erzeugen und diese Gedanken und Bilder dann zu nutzen, um innere Zustände zu beeinflussen.
Übung 1.4: Aggression und Bilder
Überlegen Sie, was für Dinge Sie sich vorstellen und was Sie fantasieren, wenn Sie ärgerlich oder wütend sind.
• Was für Fantasien und Bilder haben Sie, wenn Sie wütend sind? Wie sehen sie aus?
• Denken Sie an die Wirkung Ihrer Gedanken, Bilder und Fantasien auf Ihre Stimmung.
• Verstärken sie Ihre Aggression oder beruhigen sie sie? Machen sie es leichter, mit der Situation umzugehen, oder schwieriger?
Zum Handeln getrieben: die Macht der Motivation
Eine der Hauptfunktionen unserer Emotionen – Liebe, Aggression, Angst, Freude, Verlangen, Traurigkeit und Anziehung, um nur einige zu nennen – besteht darin, Verhalten zu motivieren. Besonders Emotionen, die mit einer starken Erregung verbunden sind wie Ärger und Wut, sind von einer Motivation zu handeln begleitet – sich zu paaren, zu fliehen, zu kämpfen, sich die Dinge zu verschaffen, die man haben will oder braucht. Zum Teil definieren diese Motivationen, was es bedeutet, aggressiv zu sein. Im Körper kann Ärger oder Wut ähnlich wie Angst in Erscheinung treten: Herz- und Atemfrequenz sind beschleunigt, der Blutdruck steigt, die Muskulatur spannt sich an. Die Motivationen, die mit Aggression verbunden sind, sind aber andere als bei Angst. Wenn man Angst hat, will man fliehen und sich von der Quelle der Gefahr entfernen. Im Gegensatz dazu will man bei Ärger oder Wut auf diejenigen, die sie ausgelöst haben, zugehen (12). Man ist getrieben, anzugreifen, zu überwältigen und zu dominieren.
Diese Motivation ist nicht nur ein mentales Verlangen wie: „Nachdem ich hierüber nachgedacht habe, bin ich zu der Entscheidung gelangt, dass ich Ihnen wirklich gern eine scheuern möchte.“ Es ist eher wie ein Drang – so wie man sich kratzen möchte, wenn es juckt. Es ist wichtig, diese Empfindung anzuerkennen, wenn man lernt, Mitgefühl anzuwenden, um mit Aggression konstruktiv umzugehen. Es ist auch wichtig, zu verstehen, dass man sich in Wut oft nicht bewusst dafür entscheidet, aggressiv zu handeln. Häufig ist es nur etwas, was man fühlt. Unsere Verantwortung besteht darin, herauszufinden, wie man damit umgehen möchte, und zu vermeiden, anderen und sich selbst zu schaden. Wir haben gesehen, dass unser Körper in Gefahrensituationen auf Handeln eingestellt ist, und im Bewusstsein die Motivation im Vordergrund steht, alles Bedrohliche oder Gefährliche abzuwehren. Wir wollen uns verteidigen und die andere Person vielleicht sogar bestrafen, damit ihr niemals wieder in den Sinn kommt, uns in die Quere zu kommen. Besonders in Beziehungen schafft man sich so natürlich eine Menge Probleme.
Um also effektiv mit Aggression umgehen zu können, müssen wir mit unserer Motivation arbeiten, damit wir unseren Fokus erweitern und uns mit dem Wunsch verbinden können, mit uns selbst und mit anderen konstruktiver umzugehen. Im nächsten Kapitel werden wir genauer sehen, dass unser Gehirn so verschaltet ist, dass es auf Gefahr und Bedrohung reagiert, aber auch auf Anteilnahme von anderen und Fürsorge für sie. Diese Motivationen können uns helfen, Reaktionen des Gehirns mit Mitgefühl zu aktivieren und so mit schwierigen Situationen umzugehen, ohne uns in Wut oder Ärger zu verlieren.
Übung 1.5: Aggression und Motivation
Was ist Ihr Motiv, wenn Sie aggressiv sind? Was wollen Sie tun?
• Was möchte Ihr aggressiver Teil sagen?
• Was möchte Ihr aggressiver Teil tun?
Dinge, die wir tun: Aggression und Verhalten
Zu Beginn dieses Kapitels haben wir über Verhaltensweisen gesprochen, die von Aggression bestimmt sind, wenn unser Bedrohungssystem aktiv wird. Sie reichen von dem Versuch, die Aggression zu verbergen oder zu ignorieren, bis zu offener Gewalt. Wir agieren unsere Aggression auf vielerlei Weisen aus, die für uns typisch sind und von vielen Faktoren bestimmt werden. In Kapitel 3 werden wir sehen, dass unser Temperament, unsere frühen Beziehungen mit Beziehungspersonen (auch unsere Beobachtungen ihres Verhaltens, wenn sie ärgerlich oder wütend waren), soziale Rollen, unsere Ressourcen zur Bewältigung schwieriger Situationen und eine Menge anderer Situationen zu diesen Faktoren gehören, die unser Leben ausmachen.
Unter den vielen Formen, in denen wir Ärger ausdrücken, ist offene Aggression vielleicht die problematischste, besonders wenn sie unsere Beziehungen betrifft. Es gibt Kontexte (zum Beispiel Familie, Partnerschaft oder Arbeit), in denen wir es uns „leisten können“, offen aggressiv zu sein, und es gibt andere, in denen es schlimme Konsequenzen hat. Es kann also sein, dass Menschen, die gelernt haben, ihren Ärger aggressiv auszuagieren, diejenigen, die ihnen am meisten bedeuten, am gröbsten behandeln, einfach, weil sie damit durchkommen. Oft sind es Schwächere, die uns selbst kaum schaden oder verletzen können, wie z. B. Angestellte, Partner oder Kinder. Beim Chef, der uns unfairerweise angeschrien hat oder dem Polizisten, der uns einen Strafzettel verpasst, sieht das natürlich ganz anders aus.
Offene Aggression ist nicht die einzige Verhaltensweise, die Distanz zwischen uns und denen, die wir lieben, schaffen kann. Dazu gehören auch Liebesentzug, also Zuneigung verweigern, oder in Groll schmoren und ständig Signale der Missbilligung aussenden. Kindern Liebe verweigern oder entziehen ist natürlich ebenso verletzend und schädlich, als wenn man sie schlüge – wenn auch auf eine andere Weise. Leise, ständige entwertende Kritik kann das Selbstwertgefühl eines Partners völlig zerstören. Man kann sich die Folgen oft gar nicht vorstellen, wenn das Gefahrenoder Bedrohungssystem unseren Alltag bestimmt.
Während Sie dies lesen, merken Sie vielleicht, dass Sie sich ein wenig verkrampfen, wenn Sie daran denken, wie Sie selbst andere auf diese Weise verletzt haben und wie Sie selbst verletzt wurden. Mir geht es jedenfalls so. Achten Sie genau auf den Schmerz, den sie empfinden, wenn Sie sich solchen Erinnerungen öffnen, denn dieses Gefühl kann uns helfen, Sympathie zu empfinden und die mitfühlende Entschlossenheit zu nähren, andere besser zu behandeln. Denn wir wissen, wie sich dieser Schmerz anfühlt.
Allzu oft verleugnen wir diesen Schmerz und die Verletzlichkeit, die damit verbunden ist, wenn wir Ärger oder Wut offen ausdrücken. Aber man sollte sich nichts vormachen: Man lässt sich auf eine Vermeidungsstrategie ein, die es nur vorübergehend ermöglicht, schwierigen Gefühlen zu entgehen. Es ist lediglich eine kurzfristige Betäubung unseres Schmerzes, die zudem einen hohen Preis hat. Man fühlt sich dann vielleicht weniger verletzlich, aber wenn man offene Aggression als Möglichkeit benutzt, anderen Emotionen auszuweichen, schafft man sich mehr Probleme, mit denen man dann später konfrontiert ist. Mitgefühl verlangt von uns, stark zu sein, und hilft uns, unseren Schmerz als eine Möglichkeit zu nutzen, andere besser zu verstehen und uns in sie hineinzuversetzen.
Es kann sehr hart sein, wenn wir uns bewusst werden, wie wir mit offener Aggression Beziehungen beschädigt haben. Viele der Klienten, mit denen ich gearbeitet habe, haben eingestanden, dass sie sich denen gegenüber, die ihnen am nächsten standen, am schlimmsten verhalten haben. Das waren die, die sie so sehr liebten, dass sie sogar angesichts einer so schlimmen Behandlung da geblieben waren, oder die nicht die Möglichkeit hatten, zu gehen. Diese Einsicht ist verbreitet, und sie ist einer der Gründe dafür, weshalb Menschen den Entschluss fassen, mit ihrer Wut konstruktiver umzugehen.
Übung 1.6: Aggression und Verhalten
Überlegen Sie, wie Sie sich verhalten haben, wenn Sie aggressiv waren. Was haben Sie dann getan?
• Wie haben Sie gehandelt?
• Entsprachen diese Handlungen Ihrem Bild von dem Menschen, der Sie sein möchten?
• Wenn Sie Kinder haben: Entsprechen diese Handlungen dem Ideal eines Menschen, an dem Sie die Erziehung Ihrer Kinder orientieren?
Schauen Sie sich die Folgen an, die Ihr aggressives Verhalten auf Ihr Leben gehabt hat.
• Wie haben sich Ihre aggressiven Handlungen auf Ihr Leben ausgewirkt?
• Welche Wirkungen haben Ihre aggressiven Handlungen auf Ihre Beziehungen gehabt?
Wenn wir denen, die uns am Herzen liegen, wehtun und die Dinge häufig schlimmer und nicht besser machen, dann sollte uns das schon schmerzen. Und wie wir dann darauf reagieren, ist von entscheidender Bedeutung. Wenden wir uns gegen uns selbst und bezeichnen uns als schlechte Menschen, dann verschlimmern wir alles nur und schaffen die Bedingungen für eine Fortsetzung unseres destruktiven Verhaltens. Wichtig ist, sich für eine Veränderung zu entscheiden und dabei Schuldgefühle und Bedauern für unsere Motivation zu nutzen, auf eine positive Weise mit unserer Wut zu arbeiten. Dann können wir wirklich die nötigen Schritte unternehmen, um bessere Eltern, Ehepartner und Kolleg(inn)en zu werden. Genau so einen Schritt tun Sie in diesem Moment.
Glücklicherweise gibt es viele positive Möglichkeiten, auf schwierige, Wut auslösende Situationen zu reagieren. Man kann lernen, das Aufsteigen von Wut frühzeitig zu erkennen und direkt damit zu arbeiten, indem man den Körper beruhigt und seine Gedanken genau beobachtet. Man kann selbstbewusst und direkt mit denen sprechen, die an der Situation beteiligt sind, und ihnen und sich selbst mit gleichem Respekt begegnen. Man kann die jeweilige Situation als ein Muster betrachten, das sich im Laufe des Lebens immer wieder zeigen wird, und sich selbst und anderen Mitgefühl entgegenbringen. Wir sind Menschen und wollen alle ein glückliches Leben, und es gibt viele Hilfsmittel und Traditionen, die uns dabei unterstützen können. Die Tatsache, dass Sie dieses Buch lesen, zeigt mir, dass dies der Weg ist, den Sie gewählt haben, und ich werde mein Bestes tun, Ihnen auf diesem Weg zu helfen. Ihre Familie, Ihr Leben und Ihre Zukunft sind diese Mühe und Anstrengung wert.
Zusammenfassung
In diesem Kapitel haben wir die verschiedenen Formen von Aggression beschrieben und gezeigt, wie stark Aggression unser Denken und Bewusstsein organisiert, wenn unser Gehirn, wie es sich in der Evolution entwickelt hat, reagiert, um uns vor Gefahren zu schützen. Es ist wichtig, zu erkennen, dass dieser Prozess – die Tatsache, dass wir Aggression erleben – nicht etwas ist, was wir zu verantworten haben und uns vorwerfen müssten. Trotzdem müssen wir natürlich Verantwortung dafür übernehmen, damit Ärger und Wut nicht weiterhin uns selbst und anderen schaden. Wir können uns selbst dabei unterstützen, indem wir mit unserem Bedrohungssystem vertrauter werden und damit, wie es in Reaktion auf Ärger und Wut funktioniert, und indem wir lernen, mit dieser mächtigen Emotion zu arbeiten. Damit werden wir uns im Folgenden beschäftigen.