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DIE NEBELSCHLUCHT

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Ich war wirklich zu gutmütig!

Allen im Dorf war die Nebelschlucht unheimlich, nicht nur, weil es dort nach faulen Eiern stank. Ich aber war wieder einmal dorthin unterwegs, um Nebelkröten zu fangen. Und das nur wegen Wickes winziger Warze.

Je näher ich dem Eingang der Schlucht kam, umso dichter wurde der Nebel. Der warme Dampf schlug sich im Gesicht nieder, machte die Kleidung feucht. Ekelhaft!

Malve landete auf meiner Schulter, schmiegte sich um meinen Nacken. Er keckerte.

»Ich weiß, ich will auch nicht. Aber wir müssen!«

Vorsichtig kletterte ich das Ufer des Baches entlang in die Schlucht hinein. Weit oberhalb von mir musste die Brücke sein, die die Klippen miteinander verband. Ich sah hinauf in den milchigen Schein der Sonne. Ein Stück weiter hinten war ein dunkler Schatten im Nebel auszumachen. Das musste sie sein, die Brücke. Dort oben waren der Raubüberfall auf Valerian, die Treibjagd, der Einsiedler gewesen. Ein Schauer lief meinen Rücken entlang. Gut, dass die Hüter den gefährlichen Mann gestellt hatten, es ihn nicht mehr gab.

Malve war unruhig, kratzte mich am Nacken. Ich hielt den Atem an, lauschte.

Ein Ast knackte. Der Bach gluckerte. Weiter weg schrie ein Vogel.

»Beruhige dich!«, sagte ich leise und strich über seinen Kopf – mehr, um mich selbst zu entspannen.

Drinnen in der Schlucht roch es heute noch grauenhafter als sonst. So schlimm hatte ich es nicht in Erinnerung. Und wie still es hier auf einmal war, als ob der Nebel mich einpackte in ein dichtes Bündel Stoff.

Mein Marder beruhigte sich nicht. Er grummelte, zwickte mich ins Ohrläppchen, zog es nach hinten, als wollte er mich abhalten, weiterzugehen.

»Schluss jetzt! Hilf mir lieber, Kröten zu finden«, zischte ich. Laut zu sprechen, wagte ich nicht in dieser unwirklichen Stille. Ich tastete die Felsen ab, fuhr in die Spalten. Wie meine Finger zitterten …

Jetzt hab dich nicht so! Es ist doch nur ein bisschen Nebel.

Wieder fühlte ich in die Ritzen, blies den warmen Dampf davon. Nur eine Kröte finden. Dann nichts wie weg von hier!

Ein kalter Hauch strich über meinen Nacken.

Malve plusterte sich auf, raunte tiefe Drohungen.

Stand jemand hinter mir?

Ich drehte mich um, sah im Nebel nichts, was weiter als eine Armeslänge entfernt war. Den Rücken an den Fels gepresst, nahm ich all meinen Mut zusammen.

»Ist da wer?«

Ein Luftzug. Nebel wirbelte auf mich zu, strich über meine Wangen.

Ich schrie.

Malves Krallen gruben sich in meinen Nacken, dass es schmerzte. Er flüchtete auf einen Felsvorsprung, fauchte herunter.

Ich spürte eine Berührung, an meinem Arm. Eiskalt.

Bei Mavanja!

Eine Hand in meiner … aber niemand stand vor mir.

Ich riss mich los, lief, stolperte über Steine, tastete durch den Nebel, rutschte aus, rappelte mich auf, rannte, bis die Nebelschlucht weit hinter mir lag.

Keuchend erreichte ich die Heilerei. Die Tür stand offen, Stimmen drangen von drinnen heraus. Leute waren da. Die brauchte ich jetzt beim besten Willen nicht!

Ich nahm den Eingang ins Haupthaus und ließ mich in der Stube auf die Ofenbank fallen. Mein Herz schlug immer noch viel zu schnell. Mutter des Lebens, was war das gewesen?

Ich strich über meinen Arm. Dort hatte ich es gespürt. Allein bei der Erinnerung daran stellten sich wieder meine Nackenhaare auf. Ich fuhr mir über das Gesicht, durch meine verfilzten Strähnen und atmete durch. Ich war jetzt zu Hause, weit weg von dort!

Alraune sah durch die Tür. Ihre Augen weiteten sich. »Kind, was ist mit dir?«

Die Stimmen hinter ihr verstummten. Ich schluckte. »In der …« Mein Blick fiel auf die offene Tür.

Alraune verstand sofort. »Entschuldigt mich einen Moment!«, rief sie über ihre Schulter, zog die Tür ins Schloss und humpelte zu mir. Auf ihren Stock gestützt ließ sie sich neben mir nieder. »Also?«

»In der Schlucht … da ist etwas«, flüsterte ich, konnte es immer noch nicht fassen. Hatte ich mir das nur eingebildet? Aber Malve – er hatte mich gewarnt, lange bevor ich es gefühlt hatte.

»Was?«

Wie sollte ich es erklären? »Wirbel im Nebel. Eiskalte«, flüsterte ich.

Alraune warf mir einen schiefen Blick zu.

Schon gut, ich wusste selbst, wie dämlich das klang, und in Zeiten wie diesen machte man den Mund lieber nicht zu weit auf. Unerklärliche Wahrnehmungen brachten einen schnell auf den Scheiterhaufen.

Nun sah sie die Kratzer an meinem Hals und zog den Riemen der Tasche weg.

»Wie schaust du denn aus?«

Ich tastete nach den Wunden, verzog das Gesicht. Blut hatte sich in den Ausschnitt meines Kleides gesogen. »Das war Malve. Er hat sich auch erschreckt.«

»Das muss versorgt werden. Komm!« Alraune zog mich hoch.

»Aber die Leute …«

»Die können warten.« Selbst mit Stock war sie manchmal erstaunlich schnell. Wie sehr ich mir wünschte, dass sie wieder genauso rüstig wäre wie letzten Sommer noch.

Schon öffnete sie die Tür zur Heilerei wieder und winkte mir, ihr zu folgen.

Ich rollte die Augen. Konnte sie mir die Pechsalbe nicht stattdessen hier in der Stube auftragen? War mir doch egal, ob die Leute warteten; Hauptsache, ich musste mich nicht erklären.

»Bring warmes Wasser mit!«, rief sie.

Mit einer Schüssel voll kam ich in die Heilerei. Am großen Tisch hatte die Moosbacherin ihre gichtigen Hände in Topfenwickel eingepackt. Auf der Bank saßen Pater Guntram, hustend, und die Bäckerin, mit geschwollener Backe, und warteten. Sie alle beäugten mich. Ob es auffiel, dass ich immer noch eine Wolke Faule-Eier-Geruch mit mir herumtrug? Bedacht, ihnen nicht zu nahe zu kommen, drängte ich mich an der Kredenz vorbei und murmelte: »Mavanja sei mit euch!«

»Die weise Mutter des Lebens lege ihren Segen über dich und auch Escha stehe dir bei!«, schniefte Pater Guntram. Die Bäckerin nickte nur.

»Was ist passiert, Verbena?«, fragte die Moosbacherin.

Alle starrten mein blutiges Kleid an.

Alraune bedeutete mir, mich an den Tisch zu lehnen.

»Ausgerutscht und in einen Busch gefallen bin ich in der Nebelschlucht.«

Wie ich es hasste, ständig zu lügen!

»Hast du wenigstens Kröten mit?«, fragte Alraune.

Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«

Sie kniff die Lippen aufeinander. Kam jetzt gleich ein Donnerwetter? Schickte sie mich erneut hin? Keine zehn Pferde konnten mich ein weiteres Mal an diesen verfluchten Ort zerren.

Doch sie sagte nichts. Stattdessen sah sie besorgt auf meinen Ausschnitt, tupfte mit dem feuchten Tuch auf meiner Haut herum, anstatt die Wunden ab. War sie blasser geworden? Kaum hörbar flüsterte sie: »Dein …«

Ich tastete um meinen Hals, fand das Lederband nicht … strich über mein Kleid, spürte keinen Anhänger …

Mutter des Lebens!

Malves Krallen.

Hatte er das Band durchtrennt?

Hatte sich der Knoten gelöst?

In mir schnürte sich alles zusammen. Mein Amulett … in der Nebelschlucht!

Alraune warf mir einen beschwörenden Blick zu. »Bleib ruhig!« Sie griff nach der Schnapsflasche: »Jetzt brennt es gleich ein bisschen.«

Und wie es brannte – die Blicke der anderen, die alte Angst, Malve ohne das Ebereschenholz, meine Verbindung zu Alvar, nicht unter Kontrolle zu haben. Am liebsten hätte ich aufgeschrien!

Alraune legte ihre Hand auf meine Schulter. »Schon vorbei. Bin gleich fertig.« Sie schmierte Pechsalbe auf die Wunden.

Was sollte ich nur tun ohne Alvars Hilfe? Ich brauchte den Geist der Magie immer in meiner Nähe! Es war die einzige Möglichkeit, meine Gabe geheim zu halten.

Alraune drückte mir die Schüssel mit dem rötlich gefärbten Wasser in die Hand. »Hier, Eschas Opfer!«

Wie gelähmt stand ich da, konnte meinen Verlust nicht fassen.

Alraune schubste mich Richtung Tür. »Geh. Zieh dich um und bitte Escha.«

Auf der kleinen Brücke hielt ich inne und sah dem Moosbach beim Fließen zu. Ich schüttete das rötliche Wasser aus der Schüssel in die Fluten. »Escha, ich bitte dich, schicke deine Kraft, um meine Wunden zu heilen! Hier, nimm mein Blut, lass es fließen in deinem ewigen Fluss!«

Das Leben war wirklich ein ewiger Fluss. Wie schnell manche Dinge davontrieben, die einem wichtig waren. Zuerst Valerian, dann das Amulett. Ihn hatte ich ziehen lassen müssen – unfreiwillig und schweren Herzens. Aber diesen Anhänger brauchte ich! Die Hüter nahmen ihre Arbeit ernster denn je. Die Kreuzdorner Hexe war letztes Jahr nur der Anfang gewesen. Nichts im Vergleich zu dem, was sich jetzt in Kronenburg und den umliegenden Baronien abspielte.

Auch wenn sich in mir alles sträubte: Ich musste noch einmal in die Nebelschlucht, musste zumindest versuchen, das Amulett zu finden – und zwar so schnell wie möglich. Die Sonne war schon über Mittag und es zogen dichte Wolken hinter den Hügeln im Westen auf. Malve schlief wieder friedlich in seinem geheimen Fach meiner Tasche, als wäre nichts passiert. Ich ließ ihn zurück und nahm nur den Korb mit.

Bei der Wegkreuzung Richtung Dorf blieb ich stehen. Wenn ich wenigstens Begleitung hätte … Wen konnte ich fragen? Ludek oder einen der anderen Jungs? Nein, das würde Finn sofort erfahren und sich dann aufdrängen.

Fria? Sie redete immer davon, mehr erleben, aus unserem kleinen Dorf ausbrechen zu wollen. Aber sie meinte sicher eher ein Abenteuer mit einem Adeligen, der sie dann zu einer der Tanznächte nach Kronenburg mitnahm. Trotzdem gingen meine Beine wie von selbst Richtung Dorf.

Zwischen zwei Häusern lugte ich zum Dorfplatz hinüber. Die Jungs saßen beim Brunnen und natürlich war Finn mitten unter ihnen. Was machte er hier? Sollte er nicht auf der Burg sitzen und studieren? Korvinus wollte ihm doch alles beibringen, was ein guter Hüter brauchte. Wie man Begabte fing und mit welchem Holz der Scheiterhaufen am besten brannte. Na ja, viel wissen musste man dafür sicher nicht.

Konnte Finn nicht endlich das Interesse an mir verlieren?

Letztes Jahr in der Mittsommernacht hatte ich ihn wieder ermutigt, notgedrungen, damit Valerian fliehen konnte. Und in den Wochen danach war mir nichts anderes übriggeblieben, als auf Finns Werbung einzugehen. Sonst hätte er Nachforschungen angestellt. Aber inzwischen … es waren doch nun schon neun Monde vergangen, in denen ich mich ihm immer mehr entzog. Wie blind war er? Noch viel blinder als Valerian jedenfalls!

Ich konnte kaum erwarten, dass Korvinus Finn endlich mit nach Kronenburg in das Konvent der Hüter nahm. Dann hatte dieser Spuk endlich ein Ende. Zu schade, dass sie erst in einem Mond aufbrechen wollten.

Um der Gruppe nicht aufzufallen, lief ich hinten herum über die Wiese zum Gasthof Drei Linden. Fria war meistens in der Küche anzutreffen.

Ich klopfte an und trat ein.

»Verbena!« Fria saß am großen Küchentisch neben zwei Köchinnen und schälte Rüben. Sobald sie mich sah, ließ sie ihr Messer fallen. Die anderen beiden betrachteten mich argwöhnisch.

Ich begrüßte sie freundlich, aber auch das schien nicht zu helfen. Danke Korvinus! Vor seiner Hetzrede letztes Jahr waren Alraune und ich im Dorf gerne gesehen gewesen. Jetzt glaubten alle, wir wären Begabte, Hexen, und senkten ihre Blicke, sobald sie unsere Heilerhaare sahen – obgleich der alte Baron seinen Sohn in die Schranken gewiesen hatte.

Aber es gab auch Freunde, die sich davon nicht anstecken ließen. Fria fiel mir um den Hals. »Schön, dass du vorbeikommst! Wäh, wonach riechst du denn?« Sie schob mich wieder hinaus.

Ich ließ sie gewähren – draußen zu reden, war mir nur recht. In der Küche von der Nebelschlucht zu erzählen, half meinem Ruf sicher nicht.

»Brauche deine Hilfe!«, murmelte ich.

»Was ist los? Warum stinkst du nach …« Sie schnupperte noch einmal und verzog das Gesicht. »… faulen Eiern?«

Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. »Wicke hat eine Warze«, sagte ich.

Fria prustete los. »Sonst noch Neuigkeiten?«

Sie war so ansteckend, dass ich mitlachte. Ernster fuhr ich fort: »Weißt du, Warzen behandeln wir mit dem Schleim der Nebelkröten.« Ich bohrte meinen Fuß in den Boden. »Und so eine brauche ich jetzt.«

»Aus der Nebelschlucht?«

»Ja … könntest du mich begleiten, bitte?« Hoffentlich, hoffentlich.

»In die NEBELSCHLUCHT?!«

Ich kaute auf der Unterlippe. Das hier war eine schlechte Idee gewesen.

»Vergiss es, wird schon gehen.« Ich wandte mich ab.

»Verbena, warte!« Sie hielt mich an der Schulter fest. »Natürlich komme ich mit, wenn du mich brauchst.«

Verbena II

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