Читать книгу Verbena II - Ruth Anne Byrne - Страница 9
TROPFENTRÄNEN
Оглавление»Sag, schickt der Baron immer noch so oft Kutschen, um Alraune abholen zu lassen?«, fragte Fria, als wir die Landstraße unter den Felsen, auf denen Burg Seggensee gebaut war, entlang gingen.
»Zu Fuß schafft sie den Weg nicht mehr.«
»Wird das wieder?«
»Glaube nicht. Der Bruch ist nicht gut verheilt.«
»Kannst nicht du das übernehmen? Morgen wirst du volljährig!« Sie stieß ihren Ellenbogen in meine Seite.
Ich grinste in mich hinein. Morgen war mein Geburtstag! Aber warum Alraune mich nicht zum Baron schickte, das hatte ich mich auch schon oft gefragt. Mehr, als ihm einen Magenbitter zu bringen, tat sie ja nicht. Außerdem, was für einen unglaublichen Aufwand der Baron betrieb, um seine Heilerin zu sehen. Direkt nach Alraunes Unfall war er sogar das eine oder andere Mal in die Heilerei gekommen und hatte sich hinter verschlossener Tür mit ihr besprochen. Seit sie wieder halbwegs gehen konnte, ließ er sie für Hausbesuche mit der Kutsche abholen, mindestens einmal jeden Viertelmond.
»Ich habe ihr angeboten, das zu übernehmen. Aber sie sagt, der Baron wünscht nur sie.« Mir gegenüber war er äußerst reserviert, behandelte mich wie Luft. »Die beiden verbindet etwas, ich kann mir das auch nicht erklären.«
»Und wie! Sonst hätte er euch wohl kaum letztes Jahr vor den Hütern gerettet. Das ganze Dorf hat sich darüber gewundert.«
Nicht nur die – auch ich!
»Alraune sagt, sie hat bei ihm etwas gut. Aber du kennst sie ja, sie ist hart wie Stein, wenn sie nicht über etwas reden will.«
Fria rümpfte die Nase. »Jetzt werde ich auch gleich so stinken wie du.«
Wir waren bei der Abzweigung zur Nebelschlucht angekommen. Die Brücke über den Abgrund lag ein Stück vor uns auf der Landstraße. Nebel waberte von unten herauf. Am Himmel schoben sich die dunklen Wolkentürme weiter voran, verdeckten die Sonne und machten alles noch viel düsterer, als es am Vormittag schon gewesen war.
Trotzdem ging ich voran, nahm den Serpentinenweg hinunter zum Nebelbach, tauchte ein in den warmen, stinkenden Dampf.
Was tat ich bloß hier?
Mein Amulett!
Ich berührte die Stelle an meiner Kehle, wo es hängen sollte, und biss die Zähne zusammen. Ich durfte es nicht aufgeben.
Die kalten Wirbel … Waren sie immer noch da? Packten sie mich diesmal fester, ließen mich nicht mehr los?
Vor dem Eingang der Schlucht blieb ich stehen, konnte mich nicht überwinden weiterzugehen. Die Panik vom Morgen flackerte wieder auf. Ich hätte Fria nicht hierherbringen dürfen. Wie eigennützig war ich gewesen? Was, wenn ihr etwas zustieß? Wegen mir …
Auch sie war still, hielt sich einen Ärmel vors Gesicht.
»Warte auf mich – hier, wo man noch ein bisschen was sieht«, flüsterte ich. Dann war wenigstens jemand in der Nähe, jemand, dem ich zurufen, der Hilfe holen konnte.
»Warum? Wir machen das gemeinsam! Wie findet man diese blöden Kröten?«
Fria war die Beste! Sie hatte nur leider keine Ahnung, worauf sie sich hier einließ. »Sie sitzen in den Ritzen der Felsen. Wenn du etwas Glitschiges spürst, hast du eine gefunden.«
»Ernsthaft?« Sie sah mich angewidert an. »Bin ich froh, dass ich keine Heilerin geworden bin!«
Dabei waren die Kröten das geringere Übel. »Du brauchst sie nicht zu suchen, ich mache das. Es ist nur …« Wie sollte ich es ihr sagen, ohne, dass sie mich für verrückt hielt und das gleich jedem erzählte? Solche Geschichten verbreiteten sich im Dorf wie ein Lauffeuer und als Schankmaid bei den Drei Linden war Fria nicht zum ersten Mal der Span, der alles zum Lodern brachte.
Sie sah mich erwartungsvoll an. »Jetzt drucks nicht so herum.«
»Heute Morgen … da war etwas dort drinnen, im Nebel … und es stinkt noch fürchterlicher als sonst.«
»Geht das überhaupt?«, murmelte sie durch ihren Ärmel hervor. Einen Moment sah sie zum Himmel hinauf. »Komm schon, bringen wir es hinter uns, möglichst, bevor es dunkel wird.«
Sie hatte recht – wie finster die Wolken inzwischen aussahen! Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Ja, bringen wir es hinter uns.«
Wir gaben uns die Hände und gingen voran, hinein in die Schlucht und den dichten Nebel. Ich starrte in den warmen Dampf, suchte nach den Wirbeln. Jeden Moment erwartete ich die kalte Berührung. Wäre doch Malve hier. Er hätte mich wieder gewarnt. Ich umschloss Frias Hand fest, war ihr unendlich dankbar, dass sie mitgekommen war.
Sie erwiderte meinen Griff. »Wie weit willst du gehen?«, flüsterte sie.
Ich drehte mich zu ihr, sah sie kaum noch im Nebel.
Spürte sie es auch? Dass hier etwas nicht stimmte …
»Ein paar Schritte noch. Dort sollten Kröten sitzen.« An der Felswand, die ich im Nebel nicht sah. Zaghaft streckte ich meine Hand aus, hoffte, Stein zu spüren – und nicht irgendetwas anderes.
Endlich. Der Fels, feucht und unnatürlich warm. Ich lehnte mich mit dem Rücken dagegen. »Wir sind da«, wisperte ich. Hier war es heute Morgen passiert. Die kalte Berührung. Ich starrte in den Nebel, fühlte mich wieder beobachtet.
Wo waren sie, die Wirbel?
»Bleib genau hier stehen. Ich suche nur schnell eine Kröte.« Und mein Amulett!
Wie viel Überwindung es kostete, Frias Hand loszulassen. Ich sah gerade noch ihre Umrisse. Mich umzudrehen und an der Wand nach den Kröten zu tasten, schaffte ich nicht – selbst, wenn ich wusste, dass meine beste Freundin direkt neben mir stand. Konnte sie nicht fröhlich vor sich hinplappern, so wie sonst immer?
Ich rutschte die Wand hinunter und hockte mich hin, tastete den Boden ab, fuhr zwischen die Steine hinein. Mit ein bisschen Glück stießen meine Finger ja nicht nur auf eine Kröte, sondern auch auf das Amulett.
»Verbena?«
»Ja.«
»Bei Mavanja, du bist ganz nahe.« Hörte ich da Angst in ihrer Stimme?
Ich hob den Kopf, sah hinauf – dorthin, wo ich sie vermutete. »Ich hätte dich nicht bitten sollen, entschuldige. Aber ich bin so froh, dass du da bist.«
Da spürte ich es. Es klatschte auf meine Stirn. Eiskalt.
Ich schrie.
Und Fria mit mir.
Ich schirmte meinen Kopf mit den Armen ab, kauerte am Boden. Mein Herz pochte.
Weitere Tropfen prasselten auf uns herab. Es begann zu regnen.
Hatte ich mich wegen eines Wassertropfens so erschrocken? Ich lachte auf, erhob mich und umarmte Fria. »Tut mir leid, ich dachte, es wäre … etwas anderes.«
»Verbena …« Es klang vorwurfsvoll. Doch auch sie ließ sich in die Umarmung fallen, sichtlich erleichtert.
Der Nebel wurde vom Regen weggewaschen. Nun sahen wir die enge Schlucht. Feuchtschwarze, zerklüftete Felswände zu beiden Seiten und dazwischen der Nebelbach, recht schmal, sodass beiderseits ein wenig Ufer blieb. Das war das Beste, was passieren konnte! Lieber pitschnass nach Hause kommen, als hier länger blind herum zu tasten.
Doch aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Vielleicht drei Schritte entfernt. Da war sie wieder, die Gänsehaut, die meinen Nacken entlang lief.
Ich schaute genauer hin. Nichts.
Oder doch?
»Siehst du das?« Zaghaft streckte ich einen Finger aus.
Fria erstarrte.
Ich wollte laufen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Da war etwas, ganz sicher, auch wenn ich mehrmals hinsehen musste, um es zu erkennen.
Durchscheinend, aber doch sichtbar stand da jemand. Direkt vor uns.
Er tat einen Schritt auf uns zu. Mein Schrei versiegte in der Kehle. Fria klammerte sich an mich. Ich wich nach hinten aus, prallte gegen die Wand.
Er streckte die Hand nach uns aus.
Ich packte Fria, zog sie den Fels entlang, rannte los und rutschte aus, fiel auf eine glatte Steinplatte. Fria konnte sich gerade noch halten, presste sich gegen die Wand.
Eine eiskalte Hand griff nach mir, glitt durch mich hindurch. Mich fröstelte.
»Weg von mir!«, zischte ich.
Der Geist ließ von mir ab, seine Hände erhoben.
Ich wischte mir über das nasse Gesicht, konnte nicht glauben, was ich sah.
Er streckte mir eine Hand entgegen. Wollte er mir hochhelfen?
Diese Nase, woher kannte ich diese Nase?
»Ulrik?«, flüsterte Fria.
War das wirklich …? Ich sah genauer hin.
Er drehte sich Fria zu und verbeugte sich.
Sie hielt den Atem an, stand wie gelähmt an der Wand.
Er ließ die Schultern sinken und wandte sich wieder mir zu. Ich spürte die kalte Berührung seiner Hand, als er versuchte, mich hochzuziehen.
Auch ich wich aus. Konnte das wahr sein? War ich mitten in einer Schauergeschichte? Ein Geist stand vor mir!
»Seid das wirklich Ihr, Euer Hochgeboren?«
Er kniff die Lippen zusammen, nickte.
Mir schossen die Tränen in die Augen. »Es tut mir so leid! Wir haben nach Euch gesucht.«
Fria stimmte ein: »Wir alle. Aus beiden Dörfern.«
Ich rappelte mich auf. So gerne er wollte, er konnte mir nicht helfen, der Schemen, der er nun war. Er ging einige Schritte weiter in die Schlucht hinein. Seine Lippen bewegten sich, aber wir hörten ihn nicht.
Fria griff wieder nach meiner Hand, sah mich fragend an.
Ich hob die Schultern.
Dann winkte er uns, ihm zu folgen.
»Er will uns etwas zeigen«, sagte Fria.
»Mutter des Lebens, was ist ihm passiert? Hier an diesem schrecklichen Ort …«
Frias Griff um meine Hand wurde fester. Unsere Blicke trafen sich wieder. In ihren Augen spiegelte sich die Angst, die ich selbst empfand.
Aber wir waren es ihm schuldig. Er war einer von uns – selbst, wenn er der Sohn des Barons war. Er war der Einzige der von Seggensees, der sich nicht zu gut gewesen war, sich mit uns abzugeben.
Er wartete an einer Biegung des Bachs. Wie viel Zeit hatte er hier verbringen müssen, gefangen im Nebel, nicht einmal ein Schatten seiner selbst? Neun Monde war es her, dass Korvinus den jüngeren Bruder gesucht und nie gefunden hatte.
Fria und ich folgten ihm zaghaft in die Schlucht hinein. Dorthin, wo der Gestank noch unerträglicher war.
Als wir ihn erreichten, zeigte er hinauf und wir sahen die Brücke, die sich über die Klamm spannte, von unten. Dann ging er weiter um die Kurve, bedeutete uns mitzukommen.
Entsetzen durchfuhr mich. Eine Kutsche, nein zwei, vielleicht sogar drei. Zerborsten zwischen den Felswänden. Räder und Holzplanken lagen verstreut. Dazwischen die Körper derer, die hier in den Tod gestürzt waren. Tränen liefen meine Wangen hinunter, vermischten sich mit den Regentropfen. So viele. Ein Schlachtfeld.
Fria schluchzte auf, vergrub ihr Gesicht in meinem Nacken. Ich umarmte sie, weinte mit ihr und mit Ulrik.
»Wir sagen es Eurem Herrn Vater, heute noch!«, versprach ich. »Findet Ihr dann Eure Ruhe?«
Er hob die Schultern.
Hoffentlich.
»Ich brauche ein Beweisstück … sonst glauben die hohen Herren mir nicht.«
Ob der Baron diese Nachricht verkraftete? An Korvinus’ Rage wagte ich gar nicht erst zu denken.
Ulrik ging weiter vor, blieb neben einem der Körper stehen. Ich wollte ihm nach, doch Fria verkrampfte. Sie war blass geworden, drehte sich zur Wand und übergab sich. Ich hielt ihr die Locken hinter den Kopf.
»Kann nicht«, raunte sie und winkte ab.
»Warte«, sagte ich zu dem Geist.
Sie sackte auf einen Stein. »Mach schnell«, hauchte sie und vergrub den Kopf zwischen den Armen.
Ulriks Schemen hockte neben einem Körper. Seinem Körper. Er lag am Ufer des Baches, einen Köcher mit Deckel im Arm. War das ein Behältnis für Schriftrollen? Das Wams war vergilbt und zerfetzt, sein Gesicht zur anderen Seite gedreht. Mavanja sei Dank! Am Hinterkopf waren noch Haare, ehemals dunkelblond, nun überzogen mit gelblichem Staub. Haut war nur noch teilweise über die Gebeine gespannt. Ein Bein hing ins Wasser. Aus dem Unterschenkel stand der Rest eines Knochens hervor, der Fuß war verschwunden.
Ich schluckte, verhinderte mit Mühe, dass nun auch mir alles hochkam.
Ulrik deutete auf einen Ring an einem der Finger – einen Siegelring mit dem Wappen der von Seggensees.
Den würde ich erst abziehen müssen. Brach der fragile Finger dann ab? Nein, das war zu viel verlangt! Selbst für mich. Mein Blick fiel auf den Köcher. Ehemals musste er aus dickem Leder gearbeitet gewesen sein. Denn die Prägung auf ihm hob sich nach wie vor ab. Sie zeigte das gleiche Wappen wie der Ring.
»Den Köcher, darf ich den mitnehmen?«
Ulrik nickte.
Ich hockte mich neben ihn, spürte seine Eiseskälte. Wie gerne hätte ich ihn getröstet, ihn, der immer so fröhlich und mitreißend gewesen war. Doch meine Hand wischte durch ihn hindurch.
Vorsichtig zog ich den Köcher unter dem toten Körper hervor, fürchtete bei jedem Zoll, dass das mürbe Gewebe des Arms zerfallen würde. Der Verschluss verhakte sich an einem Stein und der Deckel sprang auf. Es waren tatsächlich Schriftrollen darin.
Endlich war es vollbracht. Schnell verschloss ich den Köcher wieder und steckte ihn unter meinen Umhang, um das Pergament vor dem Regen zu schützen.
Ulrik geleitete mich zurück.
Ich zog Fria hoch von ihrem Stein, nahm sie mit, weg von diesem traurigen Ort.
Zum Abschied verbeugte sich der Geist des Baronssohns vor ihr. Er ging vor ihr auf die Knie und streckte ihr die Hand entgegen. Zaghaft legte sie ihre in die seine und es mutete an, als küsste er sie.
Sofort kullerten wieder Tränen über ihre Wangen. »Wie oft ich von Euch geträumt habe, Euer Hochgeboren«, wisperte sie.
Er presste die Lippen aufeinander und legte eine Hand auf sein Herz.
Der Regen wurde schwächer und Ulriks Konturen verschwammen im wiederkehrenden Dunst.
Er wandte sich mir noch einmal zu, bedeutete mir mitzukommen. Doch ich konnte nicht mehr ausmachen, wohin er ging. Da spürte ich es kalt an der Hand und folgte der Berührung. Er führte mich zu der Stelle, von der ich am Morgen in Panik geflohen war. Vor mir an der Felswand saßen gleich mehrere …
»Nebelkröten!« Ich packte eine davon in den Korb.
Doch war es nicht das gewesen, was er mir zeigen wollte? Noch immer ließ er mich seine kalte Berührung spüren. Ich sah mich um, suchenden Blicks, bis ich das zerrissene Lederband am Boden liegend fand.
Das Amulett! Es war in eine Ritze zwischen zwei Steinen gerutscht. Ohne Ulrik hätte ich es nie wiedergefunden.
»Danke, Euer Hochgeboren! Ihr wisst ja gar nicht, was mir das bedeutet!« Ich knickste in die Richtung, in der ich ihn vermutete. Dann band ich es mir erleichtert um den Hals und ließ es unter meinem Kleid verschwinden.