Читать книгу Liebe und Tod im Grenzland - Ruth Malten - Страница 13

7. Kapitel
Extrablätter

Оглавление

1914

In der vorigen Woche beging die Familie Mutters vierzigsten Geburtstag. Schön war’s, entsann sich Hermine. Gustav hatte sie zuvor nach ihrem Wunsch gefragt. Mal einen halben Tag nichts tun, hatte sie entgegnet, einen halben freien Tag. Zu mir selbst kommen, keine Wäsche waschen, reparieren, bügeln, kein Wasser tragen, nicht im Garten jäten, keine Kunden bedienen. Sie sagte das wie abbittend. Sie wolle einmal so tun, als hätte ich nichts zu tun. Einen halben Tag frei und für sich. Das Leuchten war unvermittelt aus Gustavs Gesicht gewichen. Wie konnte ihm entgehen, dass Hermine so dringend eine Verschnaufpause brauchte!

Bei aller Arbeit muss ich die Familie im Blick behalten, ging er mit sich ins Gericht. Unversehens sah er reumütig aus, und schalt sich einen dickfelligen alten Esel. „Unbedingt nimmst du einen halben oder ganzen freien Tag“, äußerte er bereitwillig und bestrebt, seine Gedankenlosigkeit wieder gutzumachen. Eigensüchtig kam sich Hermine vor, spürte aber, eine Ruhepause, wenn auch nur eine bescheidene, wäre für sie nach den Monaten unentwegten Schaffens und dem Eingewöhnen in das neue Leben wohltuend und ein willkommenes Geschenk.

Hermine hatte am Vortag eine große Schüssel Kartoffelsalat für die Familie zubereitet und gab sich einen Ruck, ihre üblichen Pflichten links liegenzulassen wie eine wohlhabende Lady mit Personal. Keine Gewissensbisse, hatte sie sich vorgenommen, ahnte jedoch, das würde nicht leicht sein. Tief schöpfte sie Atem, straffte sich, hob den Kopf und befeuerte sich ein letztes Mal mit den poetischen Worten: ‚Hermine zieht nun von dannen und sieht den vor ihr liegenden Mußestunden erwartungsfroh entgegen.‘ Ihr Gesicht belebte sich und ein belustigtes Schmunzeln spielte um ihre feinen, vollen Lippen.

Während sie sich angekleidet hatte, lag Ronja nahe bei ihr, hechelnd, und ließ sie nicht aus den Augen. Bei der völlig überflüssigen Frage, auf die Ronja aber gewartet hatte: „Will der Hund mitkommen?“, war die Hündin aufgesprungen, gab kleine Freudenjuchzer von sich, tänzelte mit den Vorderpfoten und trat Hermine auf die Schuhe.

Ronjas Leine hängte Hermine über ihre Schulter. Beim Öffnen der Haustür sprang die Hündin wenige Meter voraus, wieder zurück, schnellte an Hermine empor, federte mit den Vorderpfoten zurück und kobolzte voraus. So sieht Lebensfreude aus, dachte Hermine.

Entlang dem Feldweg hinter ihrem Anwesen schlenderte sie Richtung See. Schon am Morgen schien die Sonne wohltuend sommerlich und Hermine genoss die belebende Wärme, die sie durch die Kleidung spürte. Margueriten, gelber Horn-Klee und goldener Hahnenfuß blühten üppig am Wegesrand. Eine Hummel in einer Hahnenfußblüte, die Beine dick bepackt mit Pollen wie pummelige Pluderhosen, brummte zufrieden und unermüdlich. Die Butterblumen rochen eher herb, auch die Margueriten verströmten keine Wohlgerüche, aber Hermine hatte das Gefühl, den süßen Pollen auf ihren Lippen zu schmecken, während sie der Hummel bei ihrem Tun zusah.

Am langen Stängel eines blühenden Grases wagte eine halbwüchsige kleine Maus, in Zeitlupe hochzuhangeln. Als haariges Oval unter dem Grashalm schwebend, behutsam und zögernd in Richtung Blütenständer vorrückend, bog sich der Halm, einem gespannten Bogen gleich, mehr und mehr und drohte einzuknicken. Hermine konnte nicht weiter verfolgen, ob die kleine fingerfertige Maus mit Geschick endlich an ihr Ziel gelangte; Ronja forderte ihre Aufmerksamkeit. Da sich Hermine sorgte, ihr Hund könne dem kleinen Tier, willkommen als weiches, wieseliges Spielzeug, in ihrem Übermut Schaden zufügen, trennte sie sich von der wunderlichen Mausedarbietung.

Ronja hopste mit einem Stöckchen, eher einem kleinen Baumstamm gleichend, vor Hermine hin und her; bei Hermines Versuch, den Stock zu fassen, erwies sich Ronja als kraftvoller und hielt ihn fest, kämpferisch knurrend, und ließ ihn erst los, als Hermine ihn vollkommen ignorierte. Sie bugsierte ihren Baumstamm vor Hermines Füße, die Nase wachend dicht darüber und erneut dumpf grollend, als Hermine ihn anzutasten versuchte. Diesmal durfte sie ihn erbeuten und weit hinausschleudern. Ronja preschte, wie ein Schaukelpferd mit beiden Vorder- und Hinterbeinen gleichzeitig auf und ab schnellend, hinter ihrem baumlangen Spielzeug her.

Wie großartig sich Ronja entwickelt hat, dachte Hermine. Auf den Hinterbeinen stehend, um Herrin oder Herrn zu begrüßen, war sie einen Kopf größer als beide.

Paul und Ronja waren, wie von den Eltern im Stillen erhofft, innige Freunde geworden. Morgens vor der Schule trabte er im Dauerlauf, Ronja an seiner Seite, zum See und wieder zurück. Geduldig übte Paul mit Ronja in der Nähe des Sees, ‚bei Fuß‘ zu gehen.

Graureiher standen Tag für Tag im flachen Wasser des Ufers, Frösche und kleine Fische im Blick. Ronja geriet anfänglich beim Anblick der auf einem Bein stehenden silbergrauen Spukgestalten unabwendbar außer sich, hetzte los und schnurstracks hinter den Vögeln her. Ihre Stimme überschlug sich vor Jagdeifer, wenn diese ihre weiten Schwingen ausbreiteten und dicht über ihr davonrauschten. Wenn auch widerstrebend, hatte sie nach und nach gelernt, angeleint zu gehen. Der Lehrsatz lautete: ‚Ein braver Hund, in Sichtweite der silbergrauen, großen Vögel, entwischt, blafft und jault nicht.‘ Dennoch focht Ronja jedes Mal erneut einen Kampf gegen ihre Jäger-Natur. Ihr Schnaufen steigerte und beschleunigte sich, mit dem Halsband schnürte sie ihre Kehle, japste und würgte, und ihr vibrierender Körper schien vor Jagdfieber zu dampfen. Dann war die Klippe genommen. Ronja beruhigte sich, durfte ohne Leine laufen und wand sich wieder Stöckchen und den Wohlgerüchen am Boden zu.

Während Hermine zwischen blühenden Feldblumen beim Gesang einer hoch in der Luft ihr ‚Trülüt‘ jubilierenden Lerche ihres Weges ging, Ronja in faszinierende Düfte am Boden vertieft, zogen Hermine Bilder ihres gegenwärtigen Lebens an ihrem inneren Auge vorüber.

Durch den Kredit verfügten sie über Bargeld. Dennoch dünkte sie die Zeit endlos bis zum ersten, größeren Auftrag, der Belieferung eines Krankenhaus-Erweiterungsbaus in Allenstein mit dem Großteil der benötigten Materialien. Abend für Abend hatte Gustav bis dahin die Zeitungen nach Angeboten durchforscht und kalkulierte seine Offerten so günstig und wirtschaftlich, wie gerade noch vertretbar. Gemeinsam hatten sie gehofft, gebangt und die Enttäuschung getragen, wenn erneut ein Auftrag an ihnen vorbei an einen alteingesessenen oder vermeintlich kostengünstigeren Bewerber ging. ‚Da braucht’s halt Geduld‘, hatte Gustav wiederholt mit zunehmend besorgt klingender Stimme geäußert, wenn neuerlich eine Absage oder ausbleibende Reaktion zu verkraften waren.

Gustav reagierte auch auf kleinere Ausschreibungen, Kacheln privater Bäder oder Küchen, eines kleinen Operationssaales oder das Belegen einer Garten-Terrasse mit Marmorbruch.

‚Wählerisch können wir nicht sein. Wenig ist mehr als nichts.‘ Gustav hatte weniger Angst als sie selbst, ihren Kredit könnten sie nicht oder nicht schnell genug zurückzahlen, der in Hermines Kopf zu wachsen schien, je kleiner die Raten waren, die sie bisher leisten konnten und je mehr Zeit ins Land ging. Hermine spürte seine Sorge, wenn er nachts neben ihr mit offenen Augen schlaflos wie sie selbst im Bett lag. Er sprach nicht darüber, und sie behielt für sich, dass sie mitbekam, wie oft er wach neben ihr grübelte. Es rührte sie, dass allzu oft er sie tröstete, obgleich er den Löwenanteil der Verantwortung zu tragen hatte. Für sie blieb, jede Mark vor dem Ausgeben zweimal umzudrehen.

Die Kinder waren in einem Alter, in dem Ärmel und Hosenbeine zu schrumpfen schienen. Hermine nähte, was sie nähen konnte. Sie hatte es nicht gelernt, fand aber entspannend, nach Haus- und Gartenarbeit oder Aushilfe im Laden an der Nähmaschine einen neuen Schlafanzug zu nähen, Ärmelsäume auszulassen, mit anderem Stoffrest zu unterlegen, Hemdkragen mit dem unteren Ende des Rückenteils zu erneuern oder Hosenböden von Arbeitshosen ‚ihrer Männer‘ zu flicken.

Da ihr Betrieb Einzelhandel umfasste, musste stets einer in der Familie erreichbar sein. Gleich hinter der Eingangstür im Inneren des Hauses hatte Gustav sein kleines Büro. Die Schelle war im Garten zu hören. An den Vormittagen war Hermine diejenige, die erreichbar sein musste, wenn Gustav bei Kunden zu tun hatte.

Waren die Kinder aus der Schule zurück, kamen Arthur oder Paul an die Reihe. Bei Lieferungen für das Lager oder Auslieferungen vom Lager musste sie ebenfalls mit anpacken. Beide Jungen lernte Gustav im Büro an. Arthur war inzwischen sechzehn und sollte nach der Schulzeit im Herbst in der Lage sein, Rechnungen und Lieferscheine zu schreiben, Rechnungen zu bezahlen und die Buchführung zu erledigen. Das würde eine große Entlastung für den Vater sein. Solange wie möglich wollten sie ohne festangestellte Zusatzkraft bleiben. Von Fall zu Fall engagierte Gustav einen Fliesenleger, Dachdecker oder ungelernten Bauarbeiter.

Hermine hatte einen hellen, langen Sommerrock angezogen, dazu eine geblümte Bluse aus weichem Baumwoll-Batist, kurze Stiefel mit kleinen Absätzen, und einen breiten weichen Wildleder-Gürtel angelegt. Ihre Kleidung war nicht neu. Das störte Hermine nicht. Mit kleinen Veränderungen, einem gekürzten oder herausgelassenen Saum gab sie einem Rock einen modischen Anstrich. Den weichen Wildledergürtel, großer Luxus in ihrer Lage, hatte ihr Gustav zum Geburtstag geschenkt. Gern nahm sie den Gürtel in die Hand oder legte ihn an die Wange. Das samtige Wildleder schmeichelte ihrer Haut. Auch der feine Ledergeruch gefiel ihr.

Die Kinder hatten sich in der Schule eingewöhnt. Ungeachtet seines verschlossenen Wesens gewann Arthur einen Klassenkameraden als Freund. Wolfgang, gesprächig und kontaktfreudig, schätzte an Arthur, dass er seinen Geschichten gern zuhörte, gelegentlich darauf einging, aber meistens selber schwieg.

Der elfjährige Sohn von Lore und Arno, Johannes, war Pauls neuer Freund; sie hatten sich bei der Einweihungsfeier kennengelernt. Mit seinem sanften, freundlichen und liebenswürdigen Wesen passte er gut zu Pauls sensibler Art und half ihm, wenn Paul wegen seiner Sehschwäche bei einer sehr feinen Arbeit Unterstützung gut gebrauchen konnte.

Ilse musste sich daran gewöhnen, in der Schule nicht ständig den Kasper geben zu können, wie von zu Hause gewöhnt. Sie hatte sich neben Hilde setzen dürfen, die sie von der Feier kannte. Die beiden Mädchen, einander ähnlich wie Zwillinge, verstanden sich in vielfältiger Weise. Da Hilde ebenso gern handarbeitete wie Ilse, verband sie ein feines gemeinsames Hobby.

Während Hermine mit Ronja den Feldweg entlangspazierte und die hinter ihnen liegende Zeit an sich vorüberziehen ließ, dachte sie an den harten Winter und ihr Herzchenhaus, das ihnen bei ihrem Einzug so viel Spaß gemacht hatte. Die Kinderzimmer waren nicht heizbar, aber das kannten sie von ihrer Breslauer Wohnung. Wenn bei eisiger Winterkälte phantastische Eisblumen die Aussicht aus ihren Kinderzimmerfenstern versperrten, wussten sie abends dick in Zeitungspapier eingewickelte heiße Ziegelsteine am Fußende ihres Bettes als Aufwärmhilfe zu würdigen. Hausaufgaben erledigten sie in der Küche am großen Familientisch. Schwierig war zuweilen, Vokabeln, Gedichte oder Geschichtszahlen laut zu üben. Hin und wieder gab es deshalb Streit, aber sie lernten, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Lernstoff konnte man auch auf Spaziergängen mit Ronja einstudieren.

Dass nachts in den Kinderzimmern ein Töpfchen stand, war ebenfalls nicht neu. War das Töpfchen ungeeignet wegen eines größeren Geschäfts, blieb der Gang auf das Häuschen bei eisigen Temperaturen etwas für winterharte Naturen.

Das Wasserholen war auf mehrere Schultern verteilt. Von Woche zu Woche wechselte der Wasserdienst zwischen den Jungen: Wasser für die Küche in einer großen Kanne, Wasser für den Wasserkrug auf den Waschtischen in den Schlafstuben. Neben einem solchen Wasserkrug stand jeweils die Waschschüssel, die morgens von Hermine entleert wurde.

Die Jungen wuschen sich so lange wie möglich draußen, auch Gustav liebte seine Freilandwäsche. Er hatte neben den Brunnen eine kleine Holzkabine gebaut, in der er sich morgens im Adamskostüm einen Eimer kalten Wassers über den Kopf goss.

Einmal in der Woche war Badetag, und die Jungen füllten den Kessel in der Waschküche, aus dem später heißes Wasser in die Zinkbadewanne gefüllt wurde. Nach jedem Bad wurde Seifenschaum abgeschöpft und erneut ein Töpfchen heißes Wasser nachgefüllt.

Schwerarbeit waren die Waschtage, wenn große Wäsche anstand. Die Jungen füllten schon morgens vor der Schule die Badewanne voll Wasser sowie mehrere Eimer und Gefäße. Am Vortag hatte die Mutter die Wäsche bereits in Bleichsodawasser eingeweicht und nach dem Einweichen, wenn das Wetter schön war, auf der Bleiche, einem Teil ihrer Gartenwiese, ausgelegt. Nach dem Ausspülen beförderte Hermine die Wäscheteile in die halbautomatische Waschmaschine, die die Wäsche mit einem Metallkreuz im Wechsel nach rechts und links bewegte. Stark verschmutzte Wäsche schrubbte sie auf dem Waschbrett mit einer Bürste nach. Dann wurde alles ausgespült, wofür wieder viel Wasser benötigt wurde. Entweder wurde das Wasser vom Brunnen in die Waschküche oder die Wäsche aus der Waschküche zum Brunnen getragen, dann aber wieder runterbefördert zum Auswringen mit der Wringvorrichtung an der Waschmaschine. Jedes Wäscheteil wurde einzeln zwischen zwei gegeneinander laufende Rollen geschoben. Aufgehängt wurde die Wäsche im Garten, auch im Winter. Der Waschtag wurde so gelegt, dass das Wetter passte. Die Wäsche konnte bei längeren Regenperioden auch auf dem Boden aufgehängt werden. Draußen jedoch und bei Sonne bleichte sie zusätzlich. Die noch leicht feuchte Wäsche bügelte Hermine von Hand mit einem Eisen, dessen inneres heißes Eisenteil jeweils im Ofenfeuer erhitzt und ins Bügeleisen eingeschoben wurde.

Bei dem Gedanken an die Waschtage seufzte Hermine ungewollt, aber allein auf dem Feldweg, hatte niemand sie hören können. Nur Ronja schaute kurz und leicht irritiert zu ihr auf. Dann setzte sie zu einem hohen Sprung auf eine Maus an, deren Piepsen sie aus einem Mauseloch erlauscht hatte.

Ein solcher Waschtag war Schwerarbeit für die ganze Familie, besonders aber die Mutter. Das Haus roch nach Waschpulver, der Dampf stieg in alle Räume, von dem Dampf waren Haare und die Kleidung aller Beteiligten feucht und verklebt. Bis zum Abend schwanden die Kräfte, besonders bei Hermine. Sie war froh, dass ihr die beiden Jungen halfen.

Ein Fest, in ein Bett steigen zu können, das nach sauberer, luftgetrockneter, handgebügelter Wäsche roch. Wer geholfen hatte, wusste dieses Vergnügen doppelt zu schätzen. Hermine sowie ihre neue Freundin Lore, aber auch alle anderen Frauen, die sie inzwischen kennengelernt hatte, ließen die Wäsche so lange wie möglich auf den Betten. Manche gaben an, sie alle zwei Wochen zu beziehen, hatten aber tatsächlich eine Waschfrau, was sie verschwiegen, oder sie hatten fließendes Wasser in der Waschküche und brachten die Wäsche nach dem Trocknen in die Heißmangel.

Hermine war froh, dass die Familie Fuß gefasst hatte: Gustav hatte in letzter Zeit in kürzeren Intervallen jeweils einen größeren Auftrag ergattert.

An die Unbequemlichkeiten, insbesondere im Winter, hatte sich die Familie gewöhnt. Glücklicherweise waren alle gesund geblieben trotz eisgekühlter Wege zum gewissen Häuschen bei Minustemperaturen und Schneetreiben. Die Kinder waren in alle Schwierigkeiten einbezogen, stellten keine Ansprüche und waren hilfsbereit, von altersbedingter, gelegentlicher Unlust abgesehen.

Als Hermine ihren Freien-Tag-Spaziergang mit Ronja antrat, drückte sie noch die zurückliegende Zeit wie eine große Bürde. Nunmehr, nach dem ausgiebigen Fußweg entlang der Felder, hin zum See und auf dem Rückweg, leuchtete, was sie geleistet hatten, in weitaus günstigerem Licht. Auch die ersten kleinen Rückzahlungen an die Bank begannen in ihrem Kopf nach zehn Monaten Selbständigkeit als achtbare Leistung zu glänzen. Sie beschloss, künftig die Dinge zuversichtlicher zu sehen und, statt sich von Gustav immer und immer wieder ermutigen zu lassen, nun ihrerseits Gustav öfter aufzumuntern.

Hermine fühlte sich von der Sonne, dem Feldweg, dem Lerchen-Jubilieren, dem niedlichen Mausezirkus und Ronjas Lebensfreude glücklich verwandelt. Anfängliche Verzagtheit und Ängstlichkeit waren neuer, entschiedener Lebenszuversicht gewichen.

Belebt trat Hermine den Rückweg an. Kumuluswolken waren am Himmel aufgezogen und türmten sich zu weißen, wildbewegten Wolkengebirgen. Hermine erwog einen Luxus, auf den sie in Allenstein bisher verzichtet hatte. Sie überlegte, ihren Ruhetag und ihre neu gewonnene, bejahende innere Einstellung mit dem Genuss einer Tasse Kaffee zu krönen. Das könnte sie zwar auch zu Hause tun, wollte jedoch das Gefühl erleben, sich nach langer Zeit wieder einmal fein bedienen zu lassen und sich dem Gedanken hinzugeben, sie seien weit über den Berg. Bergauf ging es zwar, wenn auch langsam, aber immerhin bergauf.

Auch hier war ein kleines Cafe am Marktplatz. Die Sonne hatte den Tag weiter erwärmt. Sie konnte draußen sitzen. Ringsherum blühten Geranien und Petunien in Kästen, wie zuletzt in ihrem Breslauer Cafe, in dem sie öfter zusammen mit Ilse gesessen hatte.

Die Kellnerin stellte die Tasse Kaffee vor sie hin. Der heiße, der Tasse entsteigende Dampf duftete aromatisch und erlesen, nach gutem Leben, dachte Hermine. Sie bestellte eine Kugel Schokoladeneis in einer muschelförmigen Waffel. Gustav hatte ihr zum Geburtstag ein Geldstück geschenkt, das sie aufbewahren wollte, bis eines ihrer Kinder etwas Neues zum Anziehen oder Material für die Schule benötigen würde. Dennoch spendierte sie sich den Kaffee und das Eis.

Sie genoss die wärmende Sonne auf der Haut, ihre Augen erfreuten sich an den Farben der roten und weißen Geranien sowie der Petunien in ihren hauchzarten, vielfältigen Fliedertönen. Der heiße Kaffee durchrieselte ihre Glieder und belebte sie wohltuend; das Eis schmolz auf ihrer Zunge und hinterließ in ihrem Gaumen eine kühle Spur der Schokoladensüße.

Das Marktgeschehen vor ihr lief ab wie ein Film: Sommerlich gekleidete Menschen schlenderten an ihr vorüber. Hausfrauen mit Blumensträußen und prall gefüllten Taschen trotteten hierhin und dahin, betrachteten Möhrenbunde, begutachteten rote und grüne Äpfel, verglichen die Preise von Wirsing und Rotkohl, prüften verschiedene Kartoffelsorten, betrachteten Astern und Zinnien in Eimern oder standen in Gruppen, die Einkaufstaschen zwischen den Beinen und plauderten vergnügt und angeregt.

Ronja entdeckte hier und da einen Hundekollegen mit Frauchen auf dem Marktplatz. Gebannt und Aufmerksamkeit heischend blaffte sie kurz und dezent. Sie zog an ihrer Leine, schnaufte aufgeregt oder belferte ärgerlich, wenn ein kleinerer Hund sie kratzbürstig anraunzte, statt sie freundschaftlich zu beschnuppern, anzuschwänzeln oder ihr gebelltes ‚Hallo‘ zu erwidern.

Hermine betrachtete das Geschehen vor sich, empfand tiefes Wohlbehagen und war in diesem Augenblick wunschlos glücklich.

Da rief eine Jungenstimme ganz in ihrer Nähe: „Extrablatt, Extrablatt! Thronfolger Ferdinand und seine Frau Sofie in Sarajevo erschossen! Extrablatt, Extrablatt!“

Der rufende, etwa zwölfjährige Knabe mit einer Schiebermütze trug ein dickes Paket Zeitungen auf dem Arm und war in kurzer Zeit von einer Menschentraube umgeben. Es dauerte eine Weile, bis Hermine an der Reihe war und ihr Extrablatt in der Hand hielt.

Sie setzte sich auf ihren vorherigen Platz. Während sie las, verdunkelte sich ihre Miene wie mit einem grauen Schleier, als sei die Freude in ihrem Gesicht ausgeknipst worden.

Ronja neben ihr war von dem lauten Rufen des Zeitungsjungen zappelig geworden. Lautes Geschrei widerstrebte ihr, auch solches von Arthur, Paul und Ilse zu Hause. Stritten sie zuweilen, ging Ronja mit Gebell dazwischen und schubste denjenigen mit der Schnauze, der nach ihrer Meinung Urheber der Misshelligkeit war. Hermine musste Ronja besänftigen, um zu verhindern, dass diese auf ihre Weise durchgriff. „Is’ gut“, sagte Hermine und knuffte ihren Hund freundschaftlich.

Sie las, Kronprinz Ferdinand, der Habsburger Thronfolger, sei zusammen mit seiner Frau, Herzogin Sofie von Hohenberg, in Sarajevo von dem bosnischen Studenten Gavrilo Princip erschossen worden. Als Hintergrund wurde eine großserbische nationale Bewegung genannt. Die Serben würden zusammen mit Bosnien und Kroatien ein Großserbisches Reich anstreben, um die Österreicher vom Balkan zu verdrängen.

Hermine legt die Zeitung, die sich zunächst auf diese Meldung beschränkt, auf den Tisch. Ihr Kaffee ist ausgekühlt. Das Eis ist geschmolzen und hat begonnen, die Muschelwaffel aufzuweichen. Hermine hält Ronja gedankenverloren die Waffel mit dem flüssigen Eis hin. Ronja schleckt erst das flüssige Eis, dann beißt sie manierlich von der Waffel ab, nimmt sie Hermine behutsam aus der Hand und verschlingt den Rest. Sie beleckt sich, ihre Augen leuchten, sie scheint zu lächeln mit ihren auseinandergezogenen Lefzen und angelegten Ohren.

Eine ältere Dame mit silberweißer Hochfrisur am Nebentisch, gleichfalls mit einer Zeitung in der Hand, schaut mit leerem Blick zunächst auf ihren Tisch, dann ihre Nachbarin mit der dunklen Brille, der langen Nase und dem straffen schwarzen Haarknoten im Nacken ratlos an. Die beiden Damen beginnen zunächst stockend, dann immer erregter zu spekulieren. „Was hat das zu bedeuten?“, fragt die Weißhaarige. „Ich muss unbedingt meinen Mann fragen“, entgegnet die mit dem Knoten. „Furchtbar“, stellt die Weiße fest, „ja, ganz, ganz furchtbar, einfach so erschossen“, entgegnet die bebrillte Schwarze.

Hermine schüttelt den Kopf. Die Sonne scheint noch immer. Makaber erscheint ihr das in diesem Moment. Zwei Menschen sind heut erschossen worden. Einfach so. Mitten im Frieden. Und die Sonne scheint, die Geranien leuchten, alles wie zuvor. Und doch ist alles anders. Sie trinkt den lauwarmen Kaffee aus.

Was sollte dieser Doppelmord? Ihr schaudert. Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen. Diese mittelalterliche Verszeile aus dem Gesangbuch kommt ihr in den Sinn. Dann vollzieht sich mit ihr eine seltsame Verwandlung, die ihre beiden Nachbarinnen aufmerken lässt.

Ihr Blick verschleiert sich, sie stiert weit ins Nirgendwo, die Farbe ihrer Augen wird dunkel und gespenstisch. Die Zeitung ist auf ihre Knie gerutscht. Ihre Nachbarinnen sehen sie eine Weile völlig in sich versunken. Sie bewegt sich nicht, wirkt wie erstarrt, und scheint kaum zu atmen.

Hermine ist es, als hörte sie Kriegslärm, Geklirr von Metall auf Metall, dumpfe Aufschläge, trockenharte Einschläge, dann qualvoll und peinigend einen Schrei, einen Schrei, wie von Arthurs Stimme: ‚Mutter, Mutter …‘ Hermine fährt auf. Habe ich geschlafen? Sie fühlt sich benommen, streicht mit der Hand über die Stirn, greift in ihren Nacken und streicht ihn wiederholt. Einen Moment lang fällt es ihr schwer, sich zu orientieren. Sie ist nicht sicher: ‚Habe ich geträumt? Oder bin ich eingenickt?‘ Vor sich undeutlich der offene Mund einer Frau, die auf sie einredet: „… werden doch ganz nass“, hört Hermine. ‚Meine lange aufgestaute Müdigkeit‘, geht es ihr durch den Sinn. Hat sie nicht Arthur schreien hören?

Eine dunkle Wolkenwand steht drohend über ihr. Zunächst dumpfes Donnergrollen, dann lautes Krachen. Erste dicke Regentropfen fallen auf die Zeitung wie harte kleine Steine. Ronja ist aufgeregt, sie hat Angst bei Gewitter, zittert und hat eine Pfote auf Hermines Schenkel gelegt. Sie jault und zerrt an der Leine, sie will nach Hause. Blitze zucken durch das Anthrazit des Himmels. Der Regenschauer verstärkt sich.

Hermine will mit Gustav und den Jungen reden. Sie hat keinen Regenschirm mitgenommen. Im Eingang des Cafes wartet sie den Schauer ab. Andere Cafe-Besucher stehen bereits schutzsuchend im Eingang. Hermine macht sich mit Ronja im Eilschritt auf den Heimweg. Noch grollt es hinter grauer Wolkenwand, von grellen Blitzen durchzüngelt.

Die Nachrichten überschlagen sich in den nächsten Tagen. „ Das Deutsche Reich ermuntert Österreich-Ungarn, gegen Serbien vorzugehen “, ist in der Zeitung zu lesen.

„Was heißt das?“, fragt Hermine ihre Söhne, die in der Schule über die gegenwärtige politische Großwetterlage reden. „Mein Geschichtslehrer“, sagt Arthur, „hält für möglich, dass es Krieg gibt, sagt aber gleichzeitig, das sei äußerst riskant, weil die Europäischen Staaten durch unterschiedliche Verträge so miteinander verbunden sind, dass eine Kriegserklärung, zum Beispiel von Österreich-Ungarn an Serbien, zu einem Flächenbrand führen könnte.“

„Was heißt Flächenbrand?“, fragt Hermine sehr leise und sorgenvoll. „Europäischer Krieg“, sagt Arthur behutsam, als glaube er das selbst nicht. „Hat er gesagt, muss aber nicht stimmen“, entgegnet Paul. „Hoffen wir, dass alle, die jetzt politisch Verantwortung tragen, die Nerven behalten“, stellt Gustav fest.

Am 31. Juli 1914 verkünden Extrablätter im deutschen Reich den allgemeinen Kriegszustand. Anfang August lässt Kaiser-Wilhelm II. die allgemeine Mobilmachung bekanntgeben.

Liebe und Tod im Grenzland

Подняться наверх