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11. Kapitel
Der Schicksalsbrief
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Seine Hand bebte leicht, als Paul zu den Anfangszeilen in seinem ersten Brief an Emma ansetzte. Die Schrift gelang nur zittrig. ‚Sehr geehrtes Fräulein Menzel‘, begann er. Dann hob er seinen Kopf. Die Tinte an der Feder trocknete ein.
Wie schreibt man einer jungen Dame, die man kennenlernen möchte. Von der ich nur weiß, dass Tante Selma sie schätzt und die ich, sollte das Schicksal mir wohlwollen, heiraten möchte, ging es Paul durch den Kopf. Ihm war heiß, wenngleich draußen wohltuende Herbstkühle herrschte.
Er legte den Federhalter neben den Block, lehnte sich nach hinten auf seinem Stuhl und faltete die Hände hinter dem Kopf. Nach einer Weile sprang er auf, lief zum Fenster seiner kleinen Stube, die er als Untermieter bewohnte, öffnete den Riegel und schaute nachdenklich hinaus.
Das fahle Herbstlicht legte einen wehmütigen Zauber über das sich färbende Laub. Auf einem Apfelbaum gegenüber leuchteten drei verbliebene rote Äpfel aus den gelb-grünen und braun eingerollten Blättern. Eine Taube flog mit gedämpftem Druu-uu an seinem Fenster vorbei hin zu dem schräg gegenüberliegenden Bäckerladen, wo sie, wie alle Tage, vor der Ladentür Krumen aufpickte.
‚Was willst Du?‘, hörte er Tante Selmas Stimme. ‚Eine Frau finden, die mich heiraten will‘, hörte er sich antworten. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine Falte aufgestellt. ‚Und was will der Brief?‘, fragte Tante Selma weiter. Paul dachte einen Augenblick nach. ‚Mich bekanntmachen. Sie soll neugierig werden und mich kennenlernen wollen.‘ Er atmete erleichtert auf. ‚Na also‘, sagte Tante Selmas Stimme zufrieden. ‚Und warum legst du nicht los wie ein heiratswilliger, wunderbarer junger Mann?‘ Tante Selmas Stimme klang energisch und belustigt zugleich. ‚Weil es so schwer ist, sich anzupreisen‘, hört er sich antworten und fand diesen Satz mehr als geistesschlicht. Er schüttelte den Kopf über sich selber und wedelte mit der flachen Hand vor seiner Stirn. ‚Wer spricht von Anpreisen? Du sollst deiner Künftigen ein Bild von dir malen. Besser farbig als schwarz-weiß. Also auf, mein Freund! Mutig, offen, ehrlich. Und vor allem: mit Herz!‘
Paul geht zurück zu seinem Stuhl. ‚Danke, Tante Selma, du mein guter Geist‘, hört er sich sagen. Der Dialog mit seiner Gefährtin hat ihm Klarheit gebracht und ihn ausgestattet mit Entschlossenheit und neuem Selbstvertrauen.
Er überlegt, ihm gegenüber säße diese Frau, verhüllt von einem Schleier, eine rätselhafte Silhouette. Für dieses Rätselwesen sei er selbst ebenso ein umflorter Schatten. Aus seinem Schleier will er nun mit Worten als leibhaftiger Mensch hervortreten, als Mensch mit einem warm schlagenden Herzen, mit Wünschen und Träumen.
Paul nahm den Federhalter wieder zur Hand, tauchte ihn in sein Fass mit der blauen Tinte und begann zu schreiben. Nach zwei Stunden unterschrieb er mit ‚Ihr ergebener Paul Freund.‘
Wieder lehnte er sich zurück, strich seinen Nacken, stöhnte ‚ah‘ und atmete tief durch. Er ging zum Fenster und genoss den Schein der weißlichen Herbstsonne. Lange stand er so. Eine große Seelenruhe erfüllte ihn. Vollbracht, klang es in seinem Herzen.
Er ging zurück zum Tisch, nahm den Brief zur Hand, als sei das der Brief eines anderen, schob seinen Stuhl mit den Füßen vom Tisch ab und begann zu lesen. Er dachte an die Fremde hinter dem Schleier, wie sie diesen Brief eines Unbekannten öffnet und sich hinein vertieft.
Nach der Lektüre der sechs handschriftlich beschriebenen Seiten fragte er sich: Das soll ich geschrieben haben? Was da steht ist gut. Richtig gut. Und ehrlich. Genau das wollte ich gesagt und geschrieben haben.
Emmas Tag im Lungen-Sanatorium Bad Reinerz war anstrengend gewesen. Wieder war einer ihrer Langzeitpatienten gestorben. Tage zuvor war er ‚aufgeblüht‘, wie sie es nannten, nachdem das verräterische Fieber höher und höher gestiegen war. ‚Jetzt macht er es nicht mehr lange‘, hatten die Kollegen prophezeit, die mit diesem Aufblühen länger Erfahrung hatten als sie.
Emma ließen diese, zynisch ‚Abgänge‘ genannten Todesfälle im Sanatorium nach wie vor nicht kalt. Sie würde es nie normal finden, dass viele ihrer Patienten nicht nach Hause zurückkehrten. Wieder einmal ging ihr beim Ableben des ehemaligen Verdun-Kämpfers Faust die Zeile durch den Sinn: ‚Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiss.‘
Betrübt trottete sie dem Haus in Bad Reinerz zu, in dem sie ein Zimmer als Untermieterin bewohnte. Vor ihre Zimmertür hatte ihre Vermieterin einen Brief gelegt.
Emma nahm den Brief in die Hand. Was für eine ausdrucksstarke Handschrift, dachte sie, noch bevor sie auf den Absender schaute.
Tante Selma hatte bei ihr angefragt, ob sie einverstanden sei, wenn ein junger Mann, den sie, Selma, kenne und schätze, brieflich Kontakt mit ihr aufnähme.
Sie wendete den Brief und las den Absender: ‚Paul Freund.‘ Einen Moment lang stolperte ihr Puls. Dann stieg ihr eine heiße Woge in den Nacken. ‚Ruhig‘, sagte sie zu sich selbst. Sie schloss die Tür auf, legte den Brief auf den Tisch, zog ihre Windjacke bewusst langsam aus und hängte sie sorgfältig an den Garderobenhaken. Dass sie weiche Knie bekommen hatte, versuchte sie zu ignorieren. Emma ging gelassenen Schrittes zu ihrem Wasserhahn, als läge kein Brief auf ihrem Wohnzimmertisch, wusch sich die Hände gründlich mit der rauen Kernseife, zu der sie als Sanatoriums-Bedienstete Zugang hatte, nahm ein Glas von ihrem Geschirrbord, füllte es mit Wasser und trank es in einem Zug aus. Dann noch ein zweites. Und ein drittes.
Danach war sie sicher, dass ein Brief von dem gewissen Unbekannten angekommen war und sie nicht träumte.
Sie ging zu ihrem Tisch zurück, nahm den Brief erneut in die Hand und setzte sich auf den Stuhl. Ein dicker Brief. Sie wog ihn in der Hand. Dann öffnete sie ihn sorgfältig mit ihrem Brieföffner und zog drei beidseitig handbeschriebene Blätter heraus. Bevor sie begann, den Brief zu lesen, betrachtete sie die Schrift. Durch die früheren Grafologie-Übungen, zusammen mit ihren Freundinnen bei Tante Selma, der amtlich vereidigten Gerichts-Grafologin, fesselte sie diese Schrift unvermittelt. Klar, geordnet, phantasievoll, großzügig, aktiver Geist, wache Sinne. Emma ließ die Handschrift nachhaltig auf sich wirken. Starke Persönlichkeit. Was sie wahrnahm, gefiel ihr. Gefiel ihr sehr.
Dann begann sie zu lesen.
Als sie geendet hatte, stand sie auf, zog ihre Windjacke wieder an, trank noch ein Glas Wasser und verließ die Wohnung. Sie lief den Feldweg, den sie schon oft gegangen war, heute schnell und zunehmend schneller. Sie lief zum Wald hin und, entgegen ihrer sonstigen Art, beachtete sie nicht die letzten weißen Scharfgarben und gelben Dolden des Rainfarns, die noch am Wegesrand leuchteten. Es begann zu dunkeln, als heimkehrende Wanderer sie tiefer in den Wald laufen sahen.
Die Nacht war bereits hereingebrochen, als sie, aus dem Wald kommend, wieder in ihren Feldweg einbog. Das schnelle Gehen, die Abendluft hatten den großen Aufruhr in ihr besänftigt. Sie atmete wieder ruhig, war dennoch bestrebt, zurück zu dem Brief zu gelangen, den Emma nun ein weiteres Mal, aber gefasster und kritischer lesen wollte.
Danach saß sie auf ihrem Stuhl, den Brief auf dem Schoß. Die Ellenbogen auf dem Tisch, den Kopf auf den gefalteten Händen ruhend, sann sie dem nach, was in ihr klang: Ein Mensch hatte ihr sein Herz geöffnet und mit seinen Worten eine Saite in ihrem Herzen zum Schwingen gebracht. Sie fühlte sich beschenkt. Noch nie in den 27 Jahren ihres Lebens hatte sie einen Brief wie diesen erhalten.
Müde war sie von der Arbeit heimgekommen und ermattet vom schnellen zweistündigen Lauf, dennoch spürte sie sich neu belebt und zu wach, um schlafen zu können. So nahm sie ihren Federhalter und Schreibblock und antwortete.
Als sie ihren Brief noch einmal las, fragte sie sich, darf man das, als junge Frau so offen zu einem Fremden sein? Ist es nicht unfein, sich so wenig zu zügeln? Sein Brief wirkte so stark in ihr, dass sie daraus instinktiv den Mut schöpfte, alles, was man durfte oder nicht, was fein oder unfein sein konnte, hinter sich zu lassen und stattdessen offen und frei aus dem Herzen nun ebenso mit Worten ein Bild von sich, ihrem Denken, Fühlen und Wollen zu malen. Sie schrieb so bescheiden von sich, so ehrlich, so ohne jede Schnörkel und Schönfärberei, wie es ihre Art war. Sie war ganz abgetaucht in eine andere Sphäre, als ihr die ungewohnten Worte aus der Feder flossen, als sei nicht sie es, die beherzt genug war, einem Fremden so viel Persönliches von sich zu offenbaren.
Als sie wieder auftauchte aus den Tiefen ihrer Seele, waren fünf Seiten beschrieben. Sie besah das Werk, das ihr als das einer anderen erschien, prüfte die Schrift und dachte, weicher, weniger streng als seine, ausgeprägtes Tagesbewusstsein, weniger Schweben in geistigen Sphären, aber Kopf, Geist und Herz gut ausgewogen. Geht in Ordnung. Sie ahnte, ließe sie den Brief bis zum nächsten Morgen liegen, würde sie ihn nicht mehr absenden. Der Mut verließe sie ob ihrer gewagten Offenheit. Sie steckte ihn in ein Kuvert, frankierte ihn und trug ihn noch um Mitternacht zum Postkasten. Auch das unfein, dachte sie lächelnd. Schicklicher wäre gewesen, Paul Freund einige Tage warten zu lassen. Diese gesellschaftlichen Spielregeln erschienen ihr plötzlich hölzern und blutleer. Sie galten nicht mehr, wenn ein heiliger Strahl in die Seele einschlug, das Innere entzündete und danach alles anders war als zuvor.
Sie schrieben jeder noch fünf Briefe und sandten sich ein Foto, dann vereinbarten sie ein Treffen in Breslau. Paul erwartete Emma in der Nähe des Bahnhofes. Sein Zug war früher eingetroffen als der ihre. Er sah sie aus der Eingangspforte des Bahnhofs treten, einen Moment verharren, dann schritt sie zögernd die Stufen hinunter. Sie trug ein blaues Baumwollkleid, das sie für dieses Treffen genäht hatte. Ihr blondes Haar umgab ihr Gesicht wie ein heller Schein. Sie gingen langsam aufeinander zu.
Paul spürte, wie bei ihrem Anblick sein Herzschlag einen Augenblick aussetzte. Mädchenhaft scheu und verhalten näherte sie sich. Unvermutet spürte er das tiefe Verlangen, dieses verletzliche Mädchen fortan zu beschützen. Paul würde dieses Bild nie vergessen: Emma in dem blauen Baumwollkleid, ihr blondes Haar, das wie ein Schein ihren Kopf umrahmte.
Emma schaute zu Paul hin und war angerührt, wie klein und zart dieser phantasievolle, geistreiche und gefühlsstarke Briefschreiber war. Wie fein seine hohe Stirn, sein schmaler Kopf, wie beherrscht seine vollen Lippen. Sie nahm seine unterschiedlich großen Augen wahr und wusste aus seinen Briefen von seinem Schicksal mit den Augenoperationen in der Kindheit und seinem Kunstauge. Sein Anblick griff ihr ans Herz. Sein kraftvoller Händedruck überraschte sie. Paul seinerseits hielt eine fleischige, weiche, warme Hand in der seinen.
Es war nicht leicht, die Nähe, die in den Briefen zwischen ihnen entstanden war, in der persönlichen Begegnung wiederzufinden, wenngleich ihrer beider Herzen überquollen von dem, was sie empfanden und sich sagen wollten. Sie gingen an der Oder spazieren. In einem kleinen Lokal tranken sie Malzkaffee. Ihr Gespräch war nun auch mündlich in Gang gekommen. Ab und zu schauten sie einander mit einem flüchtigen Blick scheu an und lächelten. Hin und wieder auf dem Weg zurück zur Bahn hatte Paul wie versehentlich ihre Hand gestreift. Am liebsten hätte er Emma beim Abschied in den Arm genommen und … ja. Er erschrak. ‚Dann hättest du alles kaputt gemacht‘, sagte er zu sich selbst.
Sie trafen sich in Görlitz. Paul zeigte ihr seine neue Heimatstadt, die Peterskirche mit der Sonnen-Orgel, den Flüsterbogen, die Arkaden am Unter- und Obermarkt. Er fuhr mit ihr zur Landeskrone, um ihr zu einem Blick aus der Vogelperspektive auf die tellerförmige Talsenke der Neiße zu verhelfen.
Einer der nächsten Briefe begann mit der Anrede: ‚Königin meines Herzens.‘ Emma wusste, ja, das ist Glück.
Sie lebte parallel in zwei Welten. Alles erschien ihr leicht. Sie konnte das Elend um sich herum für Stunden ausblenden und vergessen. Sie beherrschte ihre Arbeit, konnte zeitgleich Löhne ausrechnen, Geld sortieren, nach Stichworten einen Brief für den Chef tippen und an Paul denken. Rausch, was ich erlebe, ungeahnter Glücksrausch, dachte sie.
Ihre Kollegen betrachteten sie mit neuen Augen. Wie wunderschön Emma war, wie sie strahlte! Wie konnte ihnen Emmas Glanz bisher entgangen sein! Auch diejenigen, die sie bisher kaum beachtet hatten, machten ihr Komplimente. Den Grund ihrer Verwandlung kannten sie nicht.
Paul und Emma trafen sich mehrfach in Dresden und saßen zusammen still und andächtig in der Frauenkirche.
In der Kreuzkirche, der evangelischen Hauptkirche am Markt neben dem Rathaus, besuchten sie eine Aufführung des Weihnachts-Oratoriums von Bach. Ergriffen lauschten sie der klaren, eindringlichen Musik, den Texten und Chören. Diese Musik war wie komponiert für den schlichten, hellen Innenraum dieses Gotteshauses.
‚Wenn ich neben ihm sitze, bin ich wunschlos. Dann ist alles gut‘, dachte Emma. ‚Mit Emma zusammen zu sein, ist wie angekommen sein. Wohlbefinden und innerer Frieden‘, empfand Paul. Jeder liebte, was auch der andere liebte.
Im Frühjahr fuhren sie mit dem Ausflugsboot nach Pillnitz, um die Kamelie zu bestaunen. Dieses japanische Teegewächs, von einem Reisenden im achtzehnten Jahrhundert aus Japan nach Deutschland mitgebracht, stand in voller Blüte. Sie ließen sich berauschen von dem Zauber der vielen Tausend glockenförmigen, karminroten Blüten dieses Wunderbaumes.
In Meißen betrachteten sie die Werke der Porzellan-Kunst. Emma entzündete sich besonders für den Porzellan-Baum, dessen einzelne Blätter aus Porzellan fein gestaltet und in dem feinen Geäst aufgehängt waren. Ein Schild bat die Besucher, vorsichtig aufzutreten, um Erschütterungen des Bodens zu vermeiden wegen der Empfindlichkeit dieses Kunstwerkes. Paul hatte mehr und mehr das Gefühl, Emma öffne ihm auf eine besondere Weise Auge und Herz auf eine neue, bisher nicht gekannte Weise. Seine Welt wurde reicher.
Ein anderes Mal fuhren sie zum Elbsandstein-Gebirge und bestiegen die Bastei. Hier oben fragte Paul Emma, ob sie seine Frau werden wolle.
Sein Herz schlug bis zum Hals. Je länger er Emma kannte, umso mehr zweifelte er, ob er gut genug für sie sei. Sie kannte sich in der Musik aus, spielte drei Instrumente, sang, nähte, strickte, malerte, las gute Bücher. Sie erschien ihm perfekt und ideal als Mutter für die Kinder, die er sich wünschte. Für jeden Mann ein Glücksfall. Ich bin nicht groß, stattlich, athletisch, trage eine Brille, bin kein Typ, auf den Frauen fliegen, dachte er, erneut von Selbstzweifeln gequält, die noch seiner dunklen Kindheit entstammten.
Emma ihrerseits dachte, was kann ich diesem wunderbaren Mann schon bieten? Seit ihrer Kindheit nagte an ihr die Scham, ohne Vater aufgewachsen zu sein. Der Stiefvater konnte diese Wunde nicht heilen. Meine Familie ist arm. Gut, ich habe einen Beruf, mache meine Sache ordentlich. Aber könnte dieser geistvolle, phantasievolle, gefühlsstarke Mann nicht jede andere Frau fesseln? Mit seinem klugen Denken kann ich nicht mithalten.
Als Paul Emma seine Herzensfrage gestellt hatte, entstand eine Pause. Sie erschien Paul endlos wie zwei Ewigkeiten. Jeder von beiden rätselte, was in Kopf und Herz des anderen wohl vorginge. Pauls Knie waren butterweich. Emmas Herz machte erst einen Luftsprung, dann setzte es einen Moment lang aus. Heiß und kalt, dachte sie, gleich falle ich tot um. Dann sagte sie mit kaum gebändigter, überschwänglich glucksender Stimme: „Ja, Paul, möchte ich. Ich möchte deine Frau werden.“ Ihr fiel auf, dass sie Paul gerade geduzt hatte. Er hatte gefragt: „Fräulein Menzel, möchten Sie …“ Deshalb hielt sie sich die Hand vor den Mund und sagte: „Entschuldigung.“
„Wofür?“
„Weil ich Sie gerade geduzt habe.“
„Danke für das Du“, sagte Paul mit belegter, tiefer Stimme, „dabei sollte es bleiben, ja?“ „Kommst du noch auf ein Bier mit in den Braunen Hirsch ?“, fragt Paul seinen Kollegen Ewald. „Klar, wollte sowieso mit dir einiges besprechen.“
Sie waren zu dieser Zeit die einzigen Gäste im Lokal und setzten sich in ihre bevorzugte Fensternische. „Was hältst du von dem amerikanischen Young-Plan, mit dem endgültig die Reparationszahlungen festgelegt werden sollen?“ Paul hat leise gesprochen. Das Thema ist heikel. Die Meinungen in der Bevölkerung sind geteilt. Schnell entsteht Streit, wenn zwei entgegengesetzte Ansichten aufeinanderprallen. „116 Milliarden Reichsmark, zu zahlen bis 1988. Das heißt, auch unsere Enkel zahlen noch für unseren Krieg“, entgegnet Ewald. Paul sieht, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht gestiegen ist. „Und trotzdem vorteilhafter als die bisherige Regelung“, wendet Paul ein. „Gewaltiges Problem“, gibt Ewald zu bedenken, „die Nazis werden da nicht mitspielen. Werden Zulauf bekommen, weil viele das so sehen wie sie: Keine Reparationszahlungen, die bis in das Leben unserer Enkel hineinreichen sollen.“
Beide heben ihren Bierkrug und nehmen lustlos einen Schluck. „Und jetzt noch der sogenannte ‚Schwarze Freitag‘ in New York. Experten befürchten, Deutschland könnte in den Sog hineingeraten mit einer schweren Wirtschaftskrise als Folge“, erwidert Paul mit gedämpfter, düsterer Stimme. „Hoffen wir, dass diese Propheten Unrecht haben.“
Paul machte sich Sorgen um Emma, sie könne sich bei den Patienten im Sanatorium anstecken. Deshalb bat er sie, sich bei der WKK in Dresden als Sachbearbeiterin zu bewerben. Emma wurde in Dresden eingestellt. Ihre Treffen waren nun weniger zeit- und kostenaufwendig als bisher.
Für beide ist entschieden, dass sie zusammengehören und für immer zusammenbleiben wollen. Sie heiraten im Jahr 1930 und beziehen eine Wohnung in Görlitz.
Die beiden Neuvermählten bedauerten, dass eine ersprießliche Beziehung zu Pauls Eltern nicht zustande kam. Hermine lehnte Emma ab. Paul versuchte Emma zu erklären, warum das nach seiner Meinung so war.
Durch Hermines fast übermenschliche Kraft, die immer wiederkehrenden Rückschläge und Enttäuschungen seiner misslungenen Augen-Operationen während seiner frühesten Kindheit zu ertragen, hatte sie immer neue Hoffnung aus sich selbst geschöpft. Die dämpfenden Aussagen der Ärzte wollte sie nicht hören oder verdrängte sie sofort wieder. Sie klammerte sich an die winzige Chance, die die Mediziner Paul einräumten. Ihre ausdauernde Hoffnungskraft führte zum Sieg. Im siebenten Jahr wurde es hell in Pauls vorher dunkler Welt und Paul gewann die Chance auf ein normales Leben.
„Hermine betrachtet mich seitdem als ihr Werk und ihr Eigentum“, endete Paul. „Du, meine Emma, bist für sie der Eindringling, der ihr vermeintlich die Liebe des Sohnes nimmt. Meine Liebe soll auch weiterhin nur ihr gehören. Zudem vergleicht dich Hermine mit meiner Schwester Ilse. Jeder Mensch ist anders. Hermine hat da so ihre eigenen Maßstäbe“, fügte er schmunzelnd hinzu.
Emma hatte Paul zur Verlobung Strümpfe gestrickt. Sie konnte nicht gut stricken, hatte durch ihr Klavierspiel auch wenig Zeit. Dennoch strickte sie diese Socken, um ihm ihre besondere Zuneigung zu zeigen: in jeder Masche ein guter Gedanke. Paul hatte sich über alle Maßen gefreut, mehr als über die Garnitur Bettwäsche von Hermine und Gustav.
Das war unbewusst geschehen, aber Hermine hatte das sehr wohl registriert. Sie nahm die Strümpfe, betrachtete sie kritisch und sagte später zu Paul: „Wenn deine Emma alles andere auch nicht besser kann als stricken, dann gute Nacht.“ Ihre Ilse war eine perfekte Strickerin, was Emma neidlos anerkannte. Sie konnte anderes. Das wiederum ließ Hermine nicht gelten. Es interessierte sie nicht, dass Emma Klavier, Zither, Laute spielte und wunderbar sang. Dass sie ihre Sachen selbst nähte und gute Bücher las. Spinnereien waren das für Hermine. Emma war als Schwiegertochter durchgefallen.
In den folgenden fünf Jahren erblickten drei kleine Mädchen das Licht der Welt: Marie, die kernige Ernsthafte mit der tiefen Stimme, kastanienbraunem Haar und ebensolchen Augen, Renate, die blasse, oft kränkelnde Mittelblonde mit Honigaugen wie Emma, und Ute, die strohblonde, blauäugige Jüngste, Pauls kleiner Liebling.
Emma hatte auf Pauls Wunsch ihre Arbeit bei der WKK aufgegeben, als sie schwanger wurde. Es war Pauls Stolz, seine Frau und die kommenden Kinder allein ernähren zu können.
Emma hatte versucht, ihre Sache als sparsame Hausfrau, Köchin, fantasievolle Mutter und liebevolle Ehefrau gut zu machen. Nach besten Kräften setzte sie sich ein. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr eines Tages die Kräfte ausgehen könnten.
Als Paul eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, saß Emma auf der oberen Stufe der steilen Holztreppe in ihrem zweiten Stockwerk, hatte die Hände vor dem Gesicht. Die Haare der aufgelösten Knoten-Frisur hingen zu beiden Seiten über die Hände. ‚Lass dich nicht so gehen‘, wollte Paul gerade empört sagen, da kam ihm Emma zuvor.
„Ich kann nicht mehr … bin völlig am Ende“, brach es aus ihr hervor. Sie weinte hemmungslos. Das Weinen erschütterte ihren ganzen Körper. Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften auf ihre Bluse. Paul hatte geglaubt, mit Zusammenreißen, gutem Willen und eiserner Disziplin ließe sich jede Aufgabe meistern. Er lernte innerhalb der nächsten Stunden, dass dieses Rezept nur bedingt anwendbar war. Wenn die Kräfte aufgebraucht waren, die Nerven ihren Dienst versagten und der gute Wille demgegenüber schrumpfte und sich in Luft auflöste.
Emma hatte einen Tag hinter sich wie so manchen. Paul arbeitete hart, seine zusätzliche Geschäftsstelle Reichenbach ohne zusätzliches Personal beanspruchte ihn bis zu seinen eigenen Grenzen. Überstunden waren für ihn selbstverständlich geworden. An den Sonntagen zu Hause zu arbeiten, war für ihn ein Dank an das Schicksal, das es mit ihm trotz aller Startschwierigkeiten dennoch gut gemeint hatte. Auch den Urlaub ausfallen zu lassen, fiel ihm nicht schwer. Sie hätten ohnehin nicht in Urlaub fahren können. Dafür fehlte das Geld bei drei kleinen Kindern und nur einem Gehalt. Emma wollte ihrem arbeitsamen Mann ihre Sorgen nicht auch noch aufbürden.
„Marie hat dreimal das Bett vollgebrochen. Dreimal habe ich abgezogen. Die Wäsche trocknet schlecht bei dem feuchten Wetter in dem Keller da unten. Renate hatte wieder Ohrenschmerzen und jammerte fast den ganzen Tag. Die Ohrentropfen halfen nicht mehr“, Emma sprach schnell, die Tränen liefen weiter. Sie war kaum zu verstehen. Ihre Stimme war voller Verzweiflung, als sie fortfuhr: „Nur Ute war fröhlich und lächelte. Wenn ich die Kleine nicht hätte …“ Emma schüttelte den Kopf. Ihre aufgelösten Haare klebten an ihren feuchten Wangen. „Ich wollte zum Arzt mit den Kindern, stand vor der steilen Treppe. Plötzlich dachte ich: Ich werde da runterstürzen … mit dem Baby auf dem Arm. Hab nicht gewagt, da runterzugehen. Ich glaube, ich werde verrückt.“ Paul stand fassungslos vor Emma, hob sie unter dem Arm hoch und ging mit ihr in die Wohnung. Es roch nach Windeln und Erbrochenem. Die Windeln kochte Emma in dem Wäschetopf in der Küche. Der Geruch war unvermeidlich.
Paul erfuhr, Emma habe seit langem den Eindruck, dass ihre Kräfte immer weniger würden. Die zwei Treppen mit drei kleinen Kindern. Renate, die nicht nur einmal die Treppe runtergefallen war und sich ein Loch in der Stirn geholt hatte. Der Kinderwagen, der unten nicht stehenbleiben konnte. Der Hausflur war zu eng. Er musste täglich bei dem Spaziergang rauf- und runtergetragen werden. Emma sagte: „Wenn ich mal eine Nacht ruhig schlafen könnte! Wenn mal einen Taglang kein vollgebrochenes Bett wäre! Wenn mal einen Tag Renate keine Ohrenschmerzen hätte! Ich geh kaputt. Ich weiß nicht weiter. Paul, tut mir leid.“
Erschöpft! Höchste Alarmstufe, durchfuhr es Paul. Schnell musste etwas geschehen. Am nächsten Abend traf er sich mit Ewald nach Feierabend wieder in ihrer Fensternische im ‚Braunen Hirsch‘ auf ein Bier. „Kur“, sagte Ewald, nachdem er sich Pauls Leidensgeschichte angehört hatte. „Und meine drei kleinen Mädel hänge ich währenddessen in den Schornstein“, entgegnete Paul genervt, „du hast keine Kinder. Hast gut reden“, schob er aufgebracht nach. „Es gibt Kinderheime. Vier Wochen müssten doch zu vertreten sein. Vielleicht auch kürzer, wenn du deinen Jahresurlaub nimmst und mal selber euren Haushalt schmeißt.“ Paul in seiner Bedrängnis und aussichtslos erscheinenden Zwangslage tat Ewald leid. Paul war blass. Er war schmal geworden. Die Belastungen im Büro kannte Ewald. Er war selbst mittendrin. Dass drei Kinder in fünf Jahren keine Kleinigkeit für eine junge Frau und den jungen Familienvater waren, glaubte er ohne weiteres. „Wenn Emma nach vier Wochen wiederkommt, ist die steile Treppe in den zweiten Stock immer noch da. Und Emmas Angst davor. Und der feuchte Keller, in dem die Wäsche nicht trocknet.“ Paul musste sich zusammenreißen, in seiner Ratlosigkeit seinen Bierkrug nicht gegen die Wand zu schleudern oder einfach verzweifelt loszuheulen.
Ewald sah den Zustand seines Freundes, legte beschwichtigend seine Hand auf Pauls Unterarm, dann auf seine Schulter. „Wenn du den Rat eines wohlmeinenden Mitmenschen hören willst, so nicke mit dem Kopf“, sagte Ewald schmunzelnd, sein Gesicht nah vor Pauls. Paul nickte und beide lachten herzhaft. „Aber nicht gleich wieder aus der Haut fahren, wenn ich bitten darf“, warnte der gutwillige Kollege. „Geht klar“, sagte Paul und hatte sich wieder unter Kontrolle. Ewald schlug auf Pauls Schulter. „Dann noch einmal gut durchatmen.“ Paul grinste. Ewald machte eine vielsagende Pause. Zwischen Pauls Brauen entstand skeptisches Faltengekräusel. „Du kaufst ein Haus.“ Als Paul rot anlief und gerade wieder in die Luft gehen wollte, fuhr Ewald seelenruhig fort: „Ihr habt kein Geld. Völlig klar. Niemand hat Geld, der jung ist, kleine Kinder hat und ein Haus braucht. Aber gerade diese Leute kaufen Häuser. Verschulden sich. Stottern ab. Und die Kinder wachsen im Grünen auf, mit Garten, mit Hund und viel Platz. Zu ebener Erde, ohne steile Treppe. Und einer Wäscheleine im Garten.“
„Bei dir piept’s“, entfuhr es nun dennoch Paul. „Vielleicht, oder auch nicht. Frag mal deinen Vater. Der ist doch Baufritze. Hat doch Beziehungen. Könnte dir doch einen Tipp geben. Oder?“ Paul nahm seinen Bierhumpen, sagte „Prost, Ewald“ und beide tranken ihr Bier aus. Paul musste nach Hause. Nachdenken. Und Emma helfen.
Alles ging danach ganz schnell. Wie zu erwarten, gab es nochmals viele Tränen, als Paul seiner Frau sagte, sie führe für vier Wochen zur Kur. „Und die Kinder?“, rief Emma verweint und zornig, weil Paul wieder einmal über ihren Kopf hinweg entschieden hatte, was sie zu tun und zu lassen hätte. „Warum werde ich nicht vorher gefragt?“, wütete sie. „Manche Entscheidungen muss das Familienoberhaupt treffen und verantworten“, befand er. Emma hasste diese einsamen Beschlüsse, insbesondere, da sie in der Kneipe unter Männern, statt mit ihr, der Partnerin, ausgetüftelt wurden. Aber sie hatte keine Kraft mehr. Nicht zum Streiten. Nicht für die viele Arbeit. Der Berg unerledigter Bügel- und Reparatur-Wäsche wuchs und wuchs. Das Rheuma in beiden Handgelenken wurde von der kalten Waschküche zunehmend schmerzhafter. Die wollenen Pulswärmer halfen kaum noch. ‚Kein Land in Sicht‘, dachte sie erschöpft und fügte sich schließlich mit abflauendem Zorn im Bauch.
Emma fuhr zur Kur. Paul versuchte, während seines Urlaubs die Arbeit zu Hause und mit den Kindern zu bewältigen. Betten machen. Baby wickeln und Fläschchen geben. Marie, die fünfjährige Älteste, half ihm. Frühstück für die Kinder. Auch hier half Marie. Abwaschen. Wäsche. Spazierengehen. Spielen. Einkaufen. Kinderwagen und Baby Ute die steile Treppe rauf- und runtertragen. Am fünften Tag war die Wäsche für die Kinder verbraucht. Das Geschirr stapelte sich. Marie und Renate mochten Pauls Essen nicht. Die Kartoffeln waren noch hart. Die Zwiebeltunke hatte keinen Geschmack. Paul schüttelte den Kopf.
Wie hat das Emma all die Jahre über geschafft? Sie hatte wenig geklagt. Er verstand, sie wollte ihn in Ruhe lassen, hatte er doch selbst im Büro genug am Hals. Der Unterschied war, dass er seine Büroarbeit inzwischen perfekt beherrschte. Menschenführung lag ihm. Emma wollte nicht geführt werden. Sie wollte Partnerin sein und einbezogen werden. Seine autoritäre Art brachte sie auf die Palme. Immer wieder plagten ihn Zweifel, was richtig sei. Ein Mann, der sich nicht durchsetzte, galt unter Männern als Trottel.
Wie kann eine Frau Respekt vor ihrem Mann haben, der nicht die große Linie bestimmt, fragte er sich. Er wusste niemanden, den er hätte fragen können. Seine männlichen Bezugspersonen waren wie er, hielten demokratisches Miteinander für neumodischen Quark. ‚Wo soll das hinführen. Nutzlose Familien-Dauerdebatten‘, pflegten sie zu resümieren.
Nach einer Woche Hausarbeit, Kinderpflege, Kochen, Putzen, Einkaufen hatte Paul das Gefühl, im Chaos zu versinken. Er liebte Ordnung, Sauberkeit, Struktur, wünschte sich die Kinder eingepasst, gehorsam, hilfsbereit.
Es gelang ihm nicht, seine Büro-Prinzipien in den Familienhaushalt zu übertragen und einen reibungslosen Ablauf zu erzeugen. Immer wieder störte Unvorhergesehenes seine Planung. Er rief das Kinderheim an. Und ging mit sich zu Rat.
Als Emma nach vier Wochen heimkehrte und auf ihn zukam, erinnerte sie ihn an damals auf dem Bahnhof in Breslau, als er sie zum ersten Mal sah. Sie strahlte wieder, freute sich, ihn wiederzusehen. Sie freute sich auf die Kinder, als sie gemeinsam zum Kinderheim gingen, um sie abzuholen. Die Wiedersehensfreude ertrank fast in Freudentränen der Kinder und der Eltern.
Wenige Tage später bat Paul Emma, sich selbst und die Kinder hübsch anzuziehen. Er wolle mit ihnen einen Ausflug machen.
Sie spazierten aus der Stadt, die Ahorn-Allee Richtung Hennersdorf entlang. Als Renate nicht mehr laufen konnte, nahm Paul sie Huckepack. Ute im Kinderwagen quietschte vor Vergnügen. Die fünfjährige Marie schob den Kinderwagen. Nach einer guten Stunde erreichten sie eine Vorstadtsiedlung. Die Häuser sahen neu aus, hatten noch keine Türen und Fenster. Paul stellte sich vor Emma und sagte zu ihr: „Such dir ein Haus aus.“ Emma schaute Paul an. Sie wedelte mit beiden flachen Händen gegeneinander vor ihrer Stirn und sagte zu ihm: „Paul, ist alles in Ordnung mit dir?“ Sie sah ihn besorgt an. Auf Maries Stirn zeigte sich eine kleine steile Falte. Sie schaute zum Papa, dann zur Mama. War das hier ein Spiel oder gibt es gleich wieder Streit wie früher, vor Mamas Kur? „Mir geht es hervorragend“, entgegnete Paul und schmunzelte vielsagend. ‚Jetzt ist er übergeschnappt‘, fuhr es Emma durch den Kopf. Die viele Arbeit, die Überstunden, der fehlende Urlaub, der Versuch, den Haushalt während ihrer Abwesenheit zu bewältigen. Zu viel für ihren Mann, dachte sie erschrocken.
„Wie sieht es aus, hast du deine Wahl getroffen?“, fragte Paul erneut, „oder soll ich eins aussuchen?“
„Gut, ich suche jetzt eins aus. Und dann hörst du mit dem Quatsch auf. Es reicht.“ Emma schritt flott in die Siedlung hinein. Marie folgte mit dem Kinderwagen, Paul mit Renate auf den Schultern. Vor dem letzten Haus ganz links, da, wo nichts mehr kam außer Feldern und Wiesen, wo kein folgendes Haus die Sicht in die weite Landschaft versperrte, wo man die Neiße rauschen hörte, auf der Höhe eines Sandberges blieb sie stehen und sagte: „Dieses hier! So, und jetzt machen wir eine kleine Pause. Futtern unseren Kartoffelsalat, den Pudding und gehen wieder zurück in die Stadt. Du hast verrückte Ideen!“, sagte sie noch lachend zu Paul hin. „Manchmal könnte man wirklich glauben, dass bei dir eine Schraube locker ist.“
Es brauchte noch einige Zeit, bis Emma verstanden hatte, dass es Paul ernst war. Er brachte den Kaufvertrag für die Doppelhaushälfte mit nach Hause. In der anderen Haushälfte würden Hermine und Gustav wohnen. Wieder gab es viele Tränen, weil Emma sicher war, sie würden so viel Geld nie aus ihrem Budget herausschneiden können. „Wir werden alle im Schuldturm landen. Alle zusammen“, schluchzte sie. „Ich habe einen Wahnsinnigen geheiratet“, stellte sie fest, schüttelte ihren Kopf, wedelte erneut mit beiden flachen Händen gegeneinander vor ihrer Stirn und platzte plötzlich heraus. Sie lachte. Und lachte. Und lachte. Paul stimmte mit ein, Marie schaute die beiden an, dann lachte auch sie. Renate fand das Gelächter so komisch, dass sie mitlachte, ohne zu wissen, warum. Ute quietschte, strampelte und dirigierte mit ihren kleinen Armen. „Mit Volldampf in den Schuldturm“, resümierte Emma und konnte vom vielen Lachen kaum sprechen. Lachtränen liefen ihr aus den Augen. Sie nahm erst Paul, dann die Kinder in den Arm. Sie wusste aus sechs Jahren mit Paul, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Dass er keine wichtige Entscheidung traf, die nicht bestens durchdacht war. Bis ins Kleinste. Und Paul wusste, er konnte sich auf Emmas Sparsamkeit verlassen. Sie würde ihren Teil zu diesem Marathon an Sparen und notwendigen Einschränkungen beitragen. Helfen würde ihnen der Garten, den sie in einen kleinen Garten Eden verwandeln wollten. Mit viel Fleiß und noch mehr Naturdünger aus ihrer Senkgrube. Denn ihr Haus stand auf einem Sandberg. Dennoch war es nicht auf Sand gebaut.
Ute wurde ein Jahr, als sie in ihr Siedlungshaus einzogen.