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9. Kapitel
Mit Siebzehn auf eigenen Füßen
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Als Emma am nächsten Morgen erwachte, war alles anders. Nicht das Erzählen und Singen der kleinen dreijährigen Minna im Bett neben ihr, der besondere Duft des Kleinkindes. Nicht die gewohnten Geräusche, wenn Mutter in der Küche das Frühstück bereitete. Wo sonst die laut tickende weiße Telleruhr gehangen hatte, war nun ein helles Rund an der nachgedunkelten Wand. In der Luft lag noch der Duft von Elises Uralt Lavendel, das Emma ihrer Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Elise liebte diesen feinen unaufdringlichen Duft, den auch ihre Bettwäsche und die Handtücher ausgeströmt hatten. Sie verwandte, sparsam wie sie war, den Duft für die Wäsche, statt für sich. In der Wohnung hing zudem der Duft von gedünstetem Weißkohl, Essig und Zwiebeln vom Weißkohlsalat, den Elise für die weite Reise in die Schweiz zubereitet, in einen kleinen Sauerkrauteimer gefüllt und mit einem Deckel verschlossen hatte.
Vollkommene Stille umgab Emma. Erst da kehrte mit voller Kraft die Erinnerung an das Geschehen des Vortages zurück. Ihre Familie war ausgezogen und abgereist, um ein neues Leben in der Schweiz zu beginnen, einem Land, in dem der Vater seiner Arbeit wie bisher in Breslau nachgehen konnte. Er hatte die Zusicherung, dort seinen alten Arbeitsplatz in einer Schuhmanufaktur vorzufinden. Das benötigte Leder für die Herstellung hochwertiger handgenähter Schuhe konnte von der Schweiz aus uneingeschränkt weltweit eingekauft werden. Im Gegensatz zur alten Heimat, wo die britische Seeblockade den internationalen Seehandel von Deutschland aus unterbunden hatte. Seine Familie würde zu essen haben.
Emma erhob sich und schaute sich um. Die Wohnung war leer bis auf ihr Bett, die Zither und ihre Laute, die in der Zimmerecke lehnten, die Noten sowie ihre Bücher auf dem Fußboden entlang der hinteren Wand. Wie grau die Wände waren, zeigte sich nun, da dort, wo die Schränke gestanden hatten, die ursprünglich helle Farbe sichtbar wurde. An den Fensterrahmen war die Farbe stellenweise abgeblättert, das Rahmenholz Wind und Wetter ausgesetzt. Wo der alte Webteppich fehlte, sah man die Schrammen auf den Holzdielen. Wo vorher eine einfache Glaslampe von der Decke gehangen hatte, hing nun eine einsame Glühbirne an einem Elektrokabel. Hier gab es viel zu tun.
Ohne Teppich und Gardinen hallten ihre Schritte. Emma setzte sich auf den Boden, legte die Arme um ihre Knie, den Kopf auf die Arme und glaubte einen Moment lang, ihre kleine Schwester lachen und singen zu hören. Minnie lachte und sang tatsächlich zu dieser Zeit, aber auf dem Schiff auf dem Weg von Kreuzlingen am Bodensee nach Romanshorn. Sie sang und lachte, um ihre große Verzweiflung zu übertönen. Sie hatte sich von ihrer Schwester-Mama Emma trennen müssen.
Die Mitreisenden ließen sich anrühren von der vermeintlich glucksenden Lebensfreude dieses kleinen Mädchens.
Nur jetzt keine Wehleidigkeit, sagte Emma zu sich selbst. Gerade beginnt für dich etwas Neues. ‚Also Ärmel hoch und das Beste draus machen‘, glaubte sie ihre Mutter Elise sagen hören. Ich kann, darf, muss von nun an alles selbst entscheiden. Bei dieser Betrachtung stockte ihr der Atem einen Moment lang. Sie holte tief Luft, raffte sich zusammen und verscheuchte mit dem frischen Luftstrom die letzten mutlosen Gedanken.
Sie hatte ihren sicheren Arbeitsplatz als kaufmännische Angestellte sofort nach der Handelsschule gefunden und verdiente gegenwärtig mit siebzehn Jahren in einem Groß- und Außenhandelsunternehmen hochpreisiger Herren-Oberbekleidung etwas mehr als ihre berufserfahrene Mutter in deren Beruf als Friseuse.
Die folgenden Urlaubstage nutzte Emma, um sich in ihrer ersten eigenen Wohnung im neu beginnenden Lebensabschnitt einzurichten.
In einem Malergeschäft lieh sie aus, was ein Wohnungsanstrich erforderte: einen Quast, um mit viel Wasser die alte Farbe zu entfernen, einen Eimer weiße Farbe, Rollen, Pinsel, Schmirgelpapier für die Fenster, Grundierungslack, Klar-Lack. Und fing an, die in die Jahre gekommene Wohnung rundum zu erneuern. Sie aß zwischendurch Brot mit Senf oder mit Margarine und trank Wasser aus der Leitung. Der Herd war mit der Familie unterwegs in die Schweiz.
Sie arbeitete nahezu ohne Pause. Diese Anstrengung beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft und half, ihre wunde Seele zu besänftigen. Sie plante bereits die nächsten Schritte: Stoffreste für neue Gardinen, eine Nähmaschine auf Raten kaufen, alte Möbel in einem Gebrauchtmöbellager ansehen. Sie brauchte fürs erste einen Tisch, einen Stuhl, einen Kleiderschrank.
Nach fünf Tagen war die Wohnung geweißt, die Holzfensterrahmen waren glatt und glänzten in frischem Braun.
Wieder setzte sich Emma auf den Fußboden, einen Stuhl hatte sie nach wie vor nicht, und betrachtete zufrieden ihr Werk. Rücken, Schultern, Nacken schmerzten, aber sie war stolz, alles ohne fremde Hilfe und in der geplanten Zeit bewältigt zu haben.
Sie fand bei dem Gebrauchtmöbelhändler einen kleinen Tisch mit einem Stuhl für wenig Geld. Einen Spind aus alten Militärbeständen bemalte sie als Bauernschrank: blass-grüner Untergrund, darauf dicke Rosenblüten in blassem Alt-Rosa und Weiß, die Rosenblätter in mattem Dunkelgrün. Das Ganze wirkte antik, sehr fein abgestimmt und dezent. Emma empfand zum ersten Mal in der eigenen Wohnung einen Hauch von Glück, den sie später immer wieder spüren sollte, wenn sie eine Idee verwirklichen konnte. Schöpferfreude nannte sie das. Sie stand vor ihrem Schrank, prüfte erneut kritisch Farben und Formen, stemmte beide Hände in die Seiten, wog den Kopf hin und her, lächelte und sagte zu sich selbst: ‚Gut gemacht, Emma.‘
Als sie zurückkam an ihren Arbeitsplatz, war dort große Aufregung. Fünf Kolleginnen und ihr engster Mitarbeiter standen beieinander und diskutierten. Zunächst waren sie und ihre Wohnung Hauptthema. „Hast du bei all deiner Streicherei mitgekriegt, was draußen in der großen Welt, besser gesagt in Deutschland, in der Zwischenzeit geschehen ist?“, fragte Wilhelm, mit dem Emma einen engeren Kontakt hatte. Er stand vor ihr, groß mit seinen breiten Schultern, ihr leicht zugeneigt, die Holzkrücke unter der linken Schulter, Ersatz für das fehlende, im Krieg verlorene linke Bein, dessen Hosenbein er mit Sicherheitsnadeln hochgesteckt hatte. Mit seinen blaugrauen Augen schaute er sie gutmütig an. Seine glatte dunkelblonde Haartolle hing ihm, wie meist, in die Stirn, seine ganze Haltung drückte Herzlichkeit aus. Seine große, fleischige Hand hielt er ihr entgegen, die Emma, wie stets, gern in der ihren fühlte. „Was ist passiert?“ Emma war neugierig geworden. Seit einer Woche war sie nicht mehr dazu gekommen, Zeitung zu lesen.
„Der Versailler Vertrag ist unterschrieben und soll am 10.01.1920 in Kraft treten. Der amerikanische Präsident, Woodrow Wilson, hatte vor dem Aushandeln des Vertrages gesagt, es solle keine Verlierer und Sieger geben, um einen dauerhaften Frieden zu ermöglichen. Leider kam alles anders. Die Franzosen wollen höchstmögliche Sicherheit. Die Engländer keine deutschen Schiffe auf den Weltmeeren. Das Ergebnis: Deutschland entmündigt und unter Vormundschaft gestellt.“
Die Kollegen waren bei dieser deutlichen Zusammenfassung des Geschehenen und Künftigen erneut erschrocken und verstummt. Ihre Gesichter waren ernst. Der Krieg war zu Ende. Eine neue Bedrohung tauchte auf. Was hatten sie, die Zivilmenschen, in der kommenden Zeit zu erwarten? Emma schaute in die Runde. Wie schmal sie alle geworden waren. Die Blusen der Kolleginnen waren zu weit, die Rockbünde wurden mit Sicherheitsnadeln enger gesteckt. Sogar die Schuhe schienen größer und weiter geworden zu sein. Einlegesohlen, aus mehreren Lagen Zeitungspapier zurechtgeschnitten, verminderten das Schlappen. Es wurde viel gestopft, angestückelt, enger genäht. Und nun: alles noch verschärft? „Kauf dir heut mal eine Zeitung. Die sogenannten Friedensbedingungen kannst du überall nachlesen. Wir erleben, glaube ich, gerade Weltgeschichte“, empfahl Kollegin Thea, die sanfte mit dem Puppengesicht, dem Mittelscheitel im glatten braunen Haar, dem weichen Knoten im Nacken, aus dem meist Haarsträhnen herausrutschten. Sie hatte sich bisher nicht sonderlich für Politik interessiert, sah aber nun ebenso ratlos aus wie die Kollegen. „Was jetzt geschieht, geht jeden von uns an. Es kann nicht verkehrt sein, sich auf dem Laufenden zu halten“, sagte sie in ihrer ruhigen Art.
Auf dem Heimweg nahm Emma von einem Kiosk eine überregionale Zeitung mit. Sie setzte sich in ihrer Wohnung auf den neuen Stuhl und vertiefte sich in die Bedingungen, die sich ‚Friedensbedingungen‘ nannten. Sie las von Gebietsabtretungen: Elsass-Lothringen würde wieder an Frankreich fallen. Große Teile der Provinzen Posen und Westpreußen an Polen. Das Memelland käme unter alliierte Verwaltung. Danzig als Freie Stadt unter den Schutz des Völkerbundes. Sämtliche Kolonien und Mandatsgebiete unter die Kontrolle des Völkerbundes. Große Teile der Rheinprovinz und Rheinpfalz als Pfand für die Erfüllung der Friedensbedingungen unter alliierte Kontrolle. Verbot eines Zusammenschlusses mit Österreich.
Emma war fassungslos. Sie saß da, schüttelte wieder und wieder den Kopf, hielt zuweilen den Atem an, um anschließend die Luft wie einen Wutschrei auszustoßen. Aber sie hatte noch nicht zu Ende gelesen. Was folgte, waren die Entwaffnungsbestimmungen. Unter anderem würden die Handelsflotte und ein Großteil der Kriegsschiffe an die Alliierten fallen. ‚Was wird aus dem Groß- und Außenhandelsgeschäft meines Arbeitgebers Meier & Söhne, wenn Außenhandel nicht mehr möglich ist?‘, dachte Emma. Er führte Stoffe aus Indien, Südamerika und England ein und exportierte Anzüge, Mäntel und Jacken in alle Welt. Emma korrigierte sich: hatte bisher ein- und ausgeführt. Wenn der Seehandel unterbunden würde, wäre das das Ende von Meier & Söhne. Sie las, die deutsche Hochseeflotte sei am Flottenstützpunkt Scapa Flow bei den Orkney-Inseln versenkt worden. Das sei auf Anordnung der Briten und ihres Kommandanten, die Schiffsventile zu öffnen, geschehen.
Emma blätterte eine weitere Seite in ihrer Zeitung mit bösen Nachrichten auf: Deutschland hatte alle bei den Alliierten angerichteten Kriegsschäden zu ersetzen. Die Zahlungen würden bis in das Jahr 1988 hineinreichen. Ferner wurde Deutschland zusammen mit seinen Verbündeten gezwungen, die Alleinschuld für den Ausbruch des Weltkrieges anzuerkennen.
Es gab auch Strafbestimmungen, nach denen die Auslieferung des Kaisers sowie prominenter Personen als Kriegsverbrecher an die Siegermächte gefordert wurde, um sie vor ein internationales Gericht unter öffentliche Anklage zu stellen.
Sie erinnerte sich an die wunderbaren Kaiser-Geburtstage, wenn die Kinder schulfrei hatten, die ganze Stadt geschmückt war mit Fahnen, Girlanden, Blumengebinden, wenn bei den Militärumzügen die Soldaten ihre Paradeuniformen trugen, die Berittenen ihre weißen Helme und bunten Federbüsche, die Pferde gestriegelt, glänzenden Schmuck in den geflochtenen Mähnen. Kinder, die nebenher liefen, lachten und winkten und die Musikkapellen für Festtagsstimmung sorgten. Frauen, die den marschierenden Soldaten Blumen zusteckten.
Diese alljährlich wiederkehrenden Rituale sollten nun der Vergangenheit angehören und ihr Kaiser ausgeliefert werden. Diese Schmach! Was war voraufgegangen? Emma hatte noch nicht verstanden, wie alles so kommen konnte.
Die Kaiserliche Flotte sollte zu einer letzten Entscheidungsschlacht gegen die Engländer auslaufen. Die Matrosen, überzeugt, ein weiteres Blutopfer würde vergeblich sein, meuterten. Als die Kanonen der nicht meuternden Schiffe auf sie gerichtet sind, lassen sie sich festnehmen. Tausende von ihnen werden in Militärgefängnissen festgesetzt. Ihnen droht die Erschießung. Eine Delegation von Matrosen versucht, ihre Freilassung zu erreichen, die aber verweigert wird. Was folgt, ist ein Aufstand der gesamten Flottenbesatzung, der sich Dockarbeiter und Landsoldaten anschließen. Am dritten November haben sich Tausende in Kiel zu einem Demonstrationszug versammelt. Sie werden von einer bewaffneten Patrouille auseinandergetrieben. Einen Tag später wählt das Dritte Geschwader in Kiel Soldatenräte, entwaffnet die Offiziere und hisst die rote Fahne auf den Schiffen. Die Matrosen gehen an Land, befreien die Inhaftierten und besetzen die öffentlichen Gebäude. Andere norddeutsche Städte haben sich in der Zwischenzeit solidarisiert. Am Abend ist ganz Kiel in der Hand der Aufständischen. Der Kommandant der örtlichen Marinestation kapituliert.
Die Reichsregierung schickt den Abgeordneten Noske nach Kiel, mit den Aufständischen zu verhandeln. Mit einem 14-Punkte-Programm soll er Straffreiheit für die Meuterer sowie die Anerkennung der Arbeiter- und Soldatenräte anbieten.
Am neunten November folgt ein Generalstreik, in dem die Aufständischen die gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt fordern, die auf die Arbeiter- und Soldatenräte übergehen soll. In einer Entschließung wird festgehalten, der Militarismus sei zusammengebrochen und Deutschland eine sozialistische Republik. Träger der politischen Macht seien die Arbeiter- und Soldatenräte. Die rasche und konsequente Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel sei notwendig.
Am 11. November unterschreibt Matthias Erzberger, Leiter der deutschen Delegation, in einem Eisenbahnwagen im Wald von Compiegne die Waffenstillstandsbedingungen der alliierten Siegermächte.
Deutschland wird eine Republik.
Emma fühlt sich wie erschlagen. Sie steht auf, ihr Mund ist ausgetrocknet, sie trinkt drei Gläser Wasser hintereinander. Sie wünscht sich, aus einem Albtraum aufzuwachen. Wie von einer bösen Schlange hypnotisiert, liest sie dennoch weiter, obgleich ihr speiübel ist. Dann hab ich’s hinter mir, denkt sie.
8,5 Millionen Soldaten sind in diesem vierjährigen Krieg gefallen, davon 1,8 Millionen Deutsche, dazu 4,2 Millionen verwundete deutsche Soldaten. Der Krieg hat 13.000 Milliarden Goldmark gekostet, liest sie.
Emma legt sich auf ihr Bett, starrt die Decke an und fragt sich, wie ihrer aller Leben weitergehen kann.
Die Folgen sieht sie nun täglich. Tausende von Soldaten kehren heim. Die frühere Begeisterung der Bevölkerung für ihre Soldaten gehört einer anderen Zeitrechnung an. Die Soldaten sind müde, ausgehungert, demoralisiert, viele von ihnen traumatisiert oder kriegsbeschädigt. Sie sind nicht willkommen. Sie brauchen Nahrung und einen Arbeitsplatz. Viele benötigen medizinische Hilfe und Krücken.
Frauen hatten während des Krieges in der Landwirtschaft ausgeholfen, soweit das möglich war. Sie konnten jedoch nicht die vollständige Arbeitskraft ihrer Männer und Söhne in Landwirtschaft, Industrie und Rüstungsindustrie neben ihrer eigenen Familien- und Berufsarbeit ersetzen. So waren Felder unbestellt geblieben.
Die schlechte Ernte wegen ungünstiger Witterungsbedingungen tat ein Übriges. Es gibt fast nur noch Steckrüben, Kartoffeln und Brot. Fleisch und Milchprodukte kann nur erwerben, wer auf dem Schwarzmarkt Wucherpreise bezahlen kann. Diese steigen wie auch die Preise regulärer Ware in dem Maße, wie sich das Warenangebot verringert.
Emma sowie ihre Kolleginnen benötigen viel mehr Zeit für ihre Einkäufe, zumal die Lebensmittel nur in kleinen Mengen abgegeben werden dürfen. Die Menschen stehen Schlange vor den Geschäften, um wenigstens das zu erhalten, was ihre Lebensmittelmarken vorsehen.
Zu den Hauptsachleistungen, die Deutschland an die Franzosen zu leisten hat, gehört die Kohle. Die Deutschen sollen 25 Millionen Tonne Kohle jährlich abliefern. Vor dem Krieg wurden pro Jahr 139 Millionen Tonnen Kohle gefördert. Diese Menge ist auf 60 Prozent gesunken, teils durch fehlendes Arbeitsgerät, teils durch die verlorenen Kohlereviere im Saarland und in Oberschlesien. So bleiben für Menschen und Betriebe nur noch 60 Millionen Tonnen Kohle, die ebenfalls streng rationiert werden muss.
In ihrem Betrieb wird der Ofen erst angeheizt, wenn Emma und ihre Kolleginnen eintreffen. Wer weiter entfernt vom Ofen arbeitet, darf sich ab und zu aufwärmen. Immer weniger Holz oder Kohle wird für einen Tag eingeplant. Die Mitarbeiter telefonieren, schreiben, schneiden zu, nähen an Maschinen, packen aus oder ein, bekleidet mit Mantel, Schal und Mütze. Das findet im Laufe des kalten Winters niemand mehr komisch. Kalte Füße und Hände, trockenes Brot, allenfalls auf dem Kanonenofen im Betrieb geröstet. Immer trübsinniger wird die Stimmung.
Eines Tages teilt der Chef, Herr Meier Senior, den Mitarbeitern mit, dass zwar die Aufträge noch hereinkommen, aber viele nicht mehr bedient werden können. Ohne importierte Stoffe keine Anzüge, Jacken und Mäntel. „Unsere Produkte sind hochpreisig“, sagt er. „Die Kunden im Inland gehen uns nach und nach aus. Die ausländischen können wir wegen der Seeblockade nicht mehr beliefern. Unsere Vorräte an Stoffen gehen zur Neige.“
Grabesstille umgibt ihn. Die Angst und Beklommenheit in den Gesichtern der Arbeiter und Angestellten ist kaum zu ertragen. Dem alten Herrn fällt es offensichtlich schwer, fortzufahren. Er räuspert sich wiederholt, fährt mit der Hand durch sein silbergraues Haar, und vermeidet, den Getreuen vieler Jahre in die Augen zu sehen, als er mit leiser, zerbrechender Stimme weiterspricht: „Ich will es nicht. Aber ich muss.“ Die Pausen zwischen seinen kurzen Sätzen werden immer länger. Immer öfter räuspert sich der alte Herr. „Ich muss verkleinern. Noch deutlicher: Einige von ihnen werden uns verlassen müssen. Eine Lockerung der verschärften Handelsbedingungen durch die Engländer ist in nächster Zeit nicht zu erwarten.“ Herr Meier fährt sich erneut mit der Hand durch sein Haar und schaut auf seine Schuhe, bevor er kaum noch verständlich weiterspricht: „Ich werde mit jedem von ihnen reden. Mitarbeiter mit schulpflichtigen Kindern, die weder umziehen noch auswandern können, müssen sich zunächst keine Sorgen machen. Das Ganze tut mir unendlich leid.“
Ein halbes Jahr später ist die Hälfte der Belegschaft entlassen.
Emma wird im Büro für die Entlassungspapiere und die ausstehenden Löhne noch gebraucht. Es schnürt ihr das Herz zu, den scheidenden Mitarbeitern beim Abschied in die Augen sehen und ihnen die Hand geben zu sollen.
Die neueste Ausgabe ihrer Zeitung macht ebenfalls keinen Mut. Emma hat das Gefühl, je länger schlimme Nachrichten auf sie alle einstürzen, umso fatalistischer wird sie. Das Gefühl der Ohnmacht verstärkt sich: wir können es nicht ändern, können aber auch nicht unbegrenzt täglich neu verzweifelt sein. Die Augen lesen die neuen Nachrichten, aber Herz und Sinne kapseln sich nach und nach ab und schützen sich so vor zu viel Bedrängnis.
Sie liest, dass Im Ruhrgebiet die Bergarbeiter streiken. Die Franzosen, die im Gegenzug zu unvollständigen Kohlelieferungen das Ruhrgebiet besetzen, verursachen durch ihre Anwesenheit eine noch schlechtere Kohleausbeute. Die Bergarbeiter sind nicht mehr bereit, diese Bedingungen hinzunehmen. Die Regierung ist auf ihrer Seite und bereit, die Löhne in Millionenhöhe zu bezahlen, als die Streikkassen leer sind. Als dem deutschen Staat für diesen Streik ebenfalls das Geld ausgeht, lässt er Geld drucken. Je mehr Geld in Umlauf geht, desto wertloser wird es. Die Preise steigen. Auch die Löhne steigen, aber in langsamerem Tempo. Die Kaufkraft sinkt.
Wer Geld hat, kauft Werte wie Häuser, Grundstücke oder Getreide. Wer Ersparnisse hat, erlebt, wie diese von Tag zu Tag dahinschmelzen. Das trifft vor allem kleine und mittlere Handwerksbetriebe. Viele müssen schließen und reihen sich in die stetig größer werdende Gruppe der Arbeitslosen ein, die vor Suppenküchen auf einen Teller Wassersuppe warten.
Emma entscheidet sich zu etwas, das sie noch drei Jahre zuvor nicht einmal im Traum erwogen hätte und was ihr auch jetzt Beklemmungen und Herzklopfen verursacht, hofft aber, das Richtige zu tun. Sie erfüllt sich ihren Kindheitstraum und kauft ein Klavier, ein wunderbares neues, schwarz lackiertes Klavier auf Raten, bevor das ersparte Geld wertlos wird.
Endlich hat sie den Platz dafür in ihrer eigenen, fein renovierten Wohnung. Als es eintrifft, ist sie aufgeregt wie lange nicht. Kaum sind die Träger mit ihren Gurten abgezogen, setzt sie sich an das Instrument, schlägt den Deckel auf, schaut auf die schwarzen und weißen Tasten, atmet den Duft nach Holz und frischem Lack, fährt mit einer Hand behutsam über die Tasten und spürt, wie ihr vor Glück Tränen die Wangen herunterlaufen.
Seit einem knappen Jahr hatte Emma am Konservatorium Musiktheorie belegt. Über Tante Selma, bei der sie als Kind Lautenunterricht erhielt, hatte sie eine alte Klavierlehrerin kennengelernt, die ihr für wenig Geld Klavierunterricht gab. Sie durfte dort üben, nahm dieses Angebot jedoch nur selten in Anspruch, um der alten Dame ihr Geklimper, wie sie es nannte, nicht zuzumuten. Aber Frau Manzel, die Klavierlehrerin, hatte Emma gern bei sich. Sie erkannte schnell, dass sie es mit einem jungen Menschen von außergewöhnlicher Musikalität und Begeisterung für das Erlernen des Klavierspiels zu tun hatte. So war Emma schnell vorangekommen und konnte bereits leidlich spielen, als ihr schwarzglänzendes Klavier in ihrer Wohnung eintraf.
Sie holte Noten, die sie bereits gesammelt hatte und spielte als Willkommensgruß für das Klavier in ihrem kleinen Reich ‚Für Elise‘ von Franz Schubert. Endlich! Endlich ihr Klavier.
Es ließ sie vergessen, dass Winter war, dass sie kalte Hände hatte, dass sie sich in eine Decke einhüllen musste, weil sich ihre Beine wie Eiszapfen anfühlten, dass sie Hunger hatte und auch heute nur eine Steckrübensuppe, auf ihrem ebenfalls neu erworbenen Kanonenofen zubereitet, ihr Abendessen sein würde. Sie konnte vorübergehend das Leid ihrer Kollegen vergessen, die sich mit Tränen im Gesicht von ihr verabschiedet hatten, weil sie nicht bleiben konnten.
Emma konnte von nun an die Welt da draußen mit all ihrem nicht enden wollenden Elend für Stunden ausschalten. Sie schlief weniger und übte lieber. Ihre Freude war so überwältigend, dass sie keine Müdigkeit verspürte. Sie aß noch weniger, um schneller von ihren Ratenverpflichtungen herunterzukommen. Schließlich hatte sie wegen der schwindenden Kaufkraft des Geldes bereits ihre Nähmaschine auf Raten gekauft. Sie hatte beschlossen, für sich nur das Nötigste zu nähen, bis der größte Teil ihrer Schulden abgestottert sein würde. Sie ahnte, dass die böse Inflation ihr helfen würde, bald schuldenfrei zu sein. Dass es dann noch schneller gehen würde als vermutet, hatte sie nicht zu hoffen gewagt.
Die Tageseinnahmen, die sie an jedem Abend in ihrem Büro zusammen mit einer Kollegin zählte, bewegten sich in immer größeren Zahlen. Im Juni 1923, die Geldentwertung war noch nicht auf ihrem Höhepunkt angekommen, ließen ihre Kollegin Thea und sie die sechs Nullen auf den Geldscheinen jeweils weg und zählten nur noch die Zahlen davor. Sie bündelten das Geld und warfen es in einen Waschkorb. Aus diesem Waschkorb verteilten sie im Wochenrhythmus die Löhne in Form solcher Geldscheinbündel in kleinere Körbe, die die Mitarbeiter abholten und noch am selben Tag in ihren Laden trugen, um die Grundnahrungsmittel zu kaufen, die auf Lebensmittelmarken zu haben waren. Geld, das man nicht ausgab, war am nächsten Tag nur noch die Hälfte oder weniger wert. Der Anblick wirkte grotesk: Menschen gingen mit Geldkörben zum Einkaufen und kamen zuweilen mit einem Brot als Gegenwert zurück.
Emma hatte, seit sie eigenes Geld verdiente, ein Wirtschaftsbuch geführt, um verfolgen zu können, wo ihr Geld geblieben war. So konnte sie eines Tages die Preisentwicklung nachvollziehen. Aus ihren Notizen und ihrem Wirtschaftsbuch gingen die folgenden Daten hervor, die sie am Jahresende 1923 anlässlich einer kleinen internen Silvesterfeier mit spendierter Extrascheibe Brot von ihrem Chef und einer heißen Tasse Pfefferminztee ihren Kollegen vorlas:
„1914 betrug der Preis für einen Dollar 4,20 Goldmark. Im Jahr 1923 kostete ein Dollar 4,21 Billionen Goldmark. Gegenwärtig ändert sich der Preis eines Dollars fast stündlich. Im Januar 1923 betrug der Preis für ein Brot 250, im August 69.000, im September 1,5 Millionen, im Dezember 399 Milliarden Goldmark.
Im Juni 1923 kostete ein Ei 800, ein Pfund Kaffee 26.000 – 36.000 Mark, im Dezember 1923 ein Kilo Kartoffeln 90 Milliarden, 1 Ei 320 Milliarden, ein Pfund Butter 2.800 Milliarden, ein Zentner – Briketts 1981 Milliarden Goldmark.“
Die meisten Kollegen schütteln fassungslos den Kopf. Weil diese Preisentwicklung derart aberwitzig ist, können einige mit Galgenhumor darüber lachen in völliger Ohnmacht und dem Gefühl, diesen undurchschaubaren Mechanismen ausgeliefert zu sein, die sich verselbständigt zu haben scheinen.
1924 streiken 140.000 Metaller gegen Lohnkürzungen und geplante Arbeitszeitverkürzung und werden ausgesperrt. 1927 wird der Achtstundentag zur Regel. Wer mehr arbeitet, kann Lohnzuschüsse erhalten. Die Arbeitslosenzahl sinkt auf 700.000.
Der Betrieb Meier & Söhne hat die dramatische Zeit nicht überlebt. 1924 ging er in Konkurs.
Emma fand eine neue Stelle im Lungensanatorium in Bad Reinerz als Bürokraft, teils für Buchhaltung, in der sie inzwischen erfahren war und als Schreibkraft für den Chefarzt, für den sie nach Stichworten den Schriftwechsel erledigte.
Viele Soldaten waren lungenkrank aus dem Krieg heimgekehrt. Die Betten in den Sanatorien reichten kaum für alle Kranken. Die völlig unzureichende Ernährung und die schlecht oder nicht geheizten Räume hatten auch in der Zivilbevölkerung zu schweren Lungenschäden geführt. Viele Menschen, die wegen Arbeitslosigkeit ihre Kohlen oder ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten, waren in den kalten Hungerwintern in ihrer ungeheizten Wohnung, einem Hauseingang oder auf einer Parkbank verhungert und erfroren. Die Suppenküchen reichten nicht aus, um für jeden Hungrigen oder Frierenden einen Teller heißer Wassersuppe aus Kohlrüben und Kartoffeln bereitzuhalten.
Emma war nicht nur eine verlässliche Mitarbeiterin im Sanatorium, sie war auch eine Bereicherung an den Patientenabenden mit Gesangsbeiträgen sowie ihrem Klavier- und Zitherspiel. In der Berglandschaft um sie herum ergaben sich in den Wintern Möglichkeiten zum Skifahren und Rodeln, die sie und ihre Kolleginnen nutzten.
In ihrer Breslauer Zeit ohne ihre Familie hatte sie ihre Besuche bei Tante Selma wieder aufgenommen. Tante Selma gab jungen Frauen, die allein in der Stadt lebten, die Möglichkeit, sich mit den schönen Künsten zu beschäftigen. Sie lasen mit verteilten Rollen Texte klassischer oder moderner Literatur, besprachen deren Inhalt und konnten sich zuweilen mit der einen oder anderen Rolle identifizieren. Sie bekamen Einblick in die Grafologie, da Tante Selma als vereidigte Grafologin am Amtsgericht in Breslau ein fundiertes Wissen aufzuweisen hatte. Die sechs bis acht jungen Frauen, die regelmäßig in ihre Gruppenstunden kamen, waren begeistert von der Aussagekraft einer Handschrift und deuteten gegenseitig ihre Handschriften, für sie eine neue Möglichkeit, Näheres über einen Menschen zu erfahren.
Da Tante Selma außerdem als Schriftstellerin arbeitete und mehrere Bücher veröffentlicht hatte, versuchten sich Emma und ihre Freundinnen auch darin, eigene Texte zu verfassen.
Sie betrachteten Bilder großer Meister und lernten gute von weniger guten Werken zu unterscheiden. Sie sangen Volkslieder zur Laute oder das eine oder andere Kunstlied mit Klavierbegleitung.
Sie schufen sich auf diese Weise eine neue, unerschöpfliche Innenwelt parallel zu der Welt politischer und wirtschaftlicher Turbulenzen draußen. Diese Welt des Geistes und der schönen Künste half ihnen abzutauchen, ihre Mitte wiederzufinden und gestärkt in den Arbeitsalltag zurückzugehen. Emma spürte, hier bekam ihre Seele die Kraftnahrung, die sie brauchte, aber im normalen Alltag nicht mehr fand, weil die Sorgen und Bedrückungen zu groß geworden waren. Die jungen Frauen trugen diese neu gewonnenen Kraftquellen für Zufriedenheit, ja sogar Glück, in ihre Familien, zu ihren Müttern und Geschwistern und halfen ihnen, ebenso diese Zeiten großer Not besser zu durchstehen.