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Fehltritte

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»Evolution ist doch nichts anderes, als die Akkumulation nicht letaler Fehler. Fehler, die sich unter bestimmten Umständen als Vorteile herausstellen können.«

Aus dem Ordner: Diskussionen mit dem Selbst; Erinnerungen des Kollektivs

Irgendein Inneneinrichter hatte es für eine gute Idee gehalten, einen der größten Übungsräume im Haupthabitat des Zwergplaneten Inua schwarz zu lackieren. Eine Deckenleuchte warf einen Lichtkegel in die Mitte des Raums, der nicht bis an die Wände reichte. Das gab dem Raum zugleich etwas Beengendes und das Gefühl der Freiheit von jeglichen Begrenzungen. Die Wände hoben sich nicht von dem sie umgebenden Dunkel ab und schienen sich vor Karas Augen aufzulösen.

Sie blieb an der Türschwelle stehen. Selbst der graue Flur kam ihr gegen die Schwärze da drin hell und einladend vor. Nur ein bleicher Mann im grauen Anzug und eine Inderin im schwarzen Sari füllten die Leere zwischen den dunklen Wänden. Sie saßen am Rand des Lichtkegels auf großen Kissen. Die Hände des Mannes ruhten auf einer mit Fell bespannten Trommel, die zwischen seinen Oberschenkeln klemmte. Die Frau stellte ihre Teeschale auf einem niedrigen Holztisch ab. Dampf entstieg einer Glaskanne daneben. Schatten verbargen die Augen der beiden tief in ihren Höhlen.

Kara trat mit einem großen Schritt in den Raum. Ohne sie aus den Augen zu lassen, schlug der Trommler einen monotonen Rhythmus an. Die Inderin starrte geradeaus, als hätte sie nicht bemerkt, dass jemand eingetreten war. Kara straffte die Schultern, setzte ihr Tänzerlächeln auf und ging in die Mitte des Raumes. Sie unterwarf sich nicht zum ersten Mal den richtenden Blicken anderer bei einem Vortanzen. Und falls sie es heute nicht schaffte, diese Leute mit einer vollendeten Leistung zu überzeugen, würde es nicht das letzte Mal sein. Es kam ihr vor, als steckte sie in einer Schleife aus endlosen Versuchen und dem dazugehörigen Versagen fest. Immer wieder unterliefen ihr Fehler. Mal streckte sie das Bein nicht genügend. Mal fiel ihre Haltung zusammen. Mal kam sie aus dem Takt. Mal vergaß sie die Choreografie. Einmal war sie gestürzt. Die Erinnerung daran brachte sie nachts um den Schlaf.

Das Geräusch ihrer Schritte mischte sich unter die Trommelschläge. Kara blieb stehen und zog ihren Pferdeschwanz noch einmal fest. Eine nervöse Geste, die sie zu spät bemerkte. Das fing gut an. Diese Leute suchten nach perfekten Mädchen für ihre perfekten Vorstellungen. Unsicherheit, Nervosität und sonstige Makel standen einer Tänzerkarriere im Weg, weder die Tanzmeister noch die Choreografen konnten Abweichungen in ihren Vorführungen gebrauchen.

Sie stellte sich in der Anfangsposition auf. Die Füße hüftbreit aufgestellt, eine Hand vor ihrer Brust erhoben, wartete sie auf das Zeichen, zu beginnen. Noch immer trommelte der Mann und die Frau nippte an ihrem Tee. Anscheinend musste Kara von selbst beginnen. Sie nahm drei Schritte Anlauf und sprang in die erste Figur. Die Choreografie enthielt Elemente des Balletts und modernen Tanzes des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Erde. Aber die geringe Schwerkraft des Zwergplaneten erlaubte höhere, weitere und spektakulärere Sprünge, als die Menschen damals auf der Erde je zu Gesicht bekommen hatten.

Sie beendete ihren Flug mit einem Spagat in der Luft, und kam auf einem Fußballen auf, die Arme geöffnet, das Kinn erhoben, ein Lächeln auf dem Gesicht. Sie kannte jede Figur dieser Choreografie so gut, sie hätte sie im Schlaf durchtanzen können. Automatisch passte sie ihre Bewegungen den Trommelschlägen an.

Bumm. Einen Fuß nach vorne. Bumm. Gewicht verlagern. Bumm. Das andere Bein in die Höhe. Bumm. Drehung. Bumm. Arme ausbreiten. Bumm. Absprung.

Sie erhaschte einen Blick auf das Gesicht der Inderin. Die Frau zog verächtlich einen Mundwinkel nach oben und schwenkte desinteressiert ihre Teeschale. Kara kam mit dem falschen Fuß auf, stolperte in die nächste Drehung und nahm genügend Schwung mit, um sich der Länge nach hinzulegen. Ihre Schulter knallte auf den Boden.

Sie sprang auf und stellte sich wieder in Position. Aber die Uhr ließ sich nicht zurückdrehen. Sie hatte beim Vortanzen eine Bruchlandung hingelegt und ihre Aussichten auf eine Festanstellung in der Tanzgruppe damit zunichtegemacht.

Unsicher sah sie von der Frau zum Trommler. Am liebsten hätte sie sich selbst eine geknallt. Wie hatte sie sich so aus dem Konzept bringen lassen?

Der Trommler räusperte sich. Noch immer schlug er langsam auf sein Instrument ein, als führten seine Hände ein Eigenleben.

»Das war wohl wieder nichts«, sagte er. Ihre Wangen glühten.

Die Tanzmeisterin warf Kara einen Blick zu, der die Gletscher Inuas zum Frösteln gebracht hätte. Sie spürte die Scham über ihren Sturz schmerzhaft in ihrer Brust. Was hatte sie denn erwartet? Natürlich wollte die Frau sie nicht. Sie hatte sich gerade beim Vortanzen hingelegt. Schlimmer ging es kaum.

Der Trommler öffnete den Mund. Vermutlich, um das nächste Mädchen hereinzurufen. Noch immer hallten die rhythmischen Schläge zwischen den Wänden. Kara hob eine Hand vor ihre Brust. Ihre Fingerspitzen zitterten und der Versuch, das verräterische Zeichen ihrer Nervosität zu unterbinden, verstärkte den Tremor noch. Die Tücher an ihren Handgelenken schienen plötzlich aus Blei gewebt zu sein. Sie schluckte den letzten Tropfen Unsicherheit herunter. Niederlagen der Vergangenheit galt es, zu akzeptieren, und ihre Aufmerksamkeit sollte dem nächsten Schritt gelten. Und sie tat den nächsten Schritt. Wieder begann sie, sich zu drehen und zu springen. Jede Bewegung explodierte aus ihr.

Die Tanzmeisterin bohrte ihren Blick ohne jede Gefühlsregung in die Darbietung. In Kara wuchs Widerstand. Die Inderin hatte sie bereits als unpassend befunden. Eines der perfekten Tanzmädchen würde das neue Mitglied der Tanzgruppe werden.

Karas Tänzerlächeln schmolz von ihren Wangen. Sie lauschte dem monotonen Trommelschlag, schloss die Augen und vergaß die Fremden, die ihr Urteil bereits gefällt hatten.

Ihre Haltung verlor die Perfektion. Ihre Drehungen verloren an Unsicherheit. Ihre Hände die lange antrainierte Steife. Dafür brachte jeder Schlag ihre Mitte zum Vibrieren. Mit jeder Faser verschmolz sie mit dem Tanz und vergaß die Erwartungen der Beobachter. Noch immer folgte ihr Körper den einstudierten Mustern. Aber in ihren Sprüngen steckte eine Leichtigkeit, die ihre Lehrer nicht vorgesehen hatten, und ihre Arme verwandelten sich in Flügel, die sie der Schwerkraft enthoben. Sie fand sich selbst in ihren Bewegungen. In den letzten Jahren war das Tanzen zu einer Pflichtübung geworden, die sie gewissenhaft erledigte. Auf ihrer Suche nach Perfektion war die Leidenschaft verloren gegangen. Und sie hatte die Schönheit, die darin lag, und all die Geschichten, die sich in schiefen Figuren und unsauberen Landungen versteckten, einfach vergessen.

Die Choreografie nahm in ihrem Geist eine eigene Gestalt an. Lichter verwirbelten zu Nebeln, Farben und Schatten. Sie tanzte nicht nach der Führung durch die Trommel, sie tanzte mit ihr. Der nächste Schlag, die nächste Bewegung, sie waren die Folge des Vorhergewesenen. Sollten die sie wegschicken, wie all die anderen. Dieser Moment gehörte ihr. Sie tanzte nicht länger für die Anerkennung durch die anderen oder die Bestätigung durch die Tanzmeister. Nicht einmal für den Beifall eines Publikums. Sie tanzte für sich. Weil es ihr gefiel.

Bumm. Sprung. Bumm. Drehung. Bumm. Nach hinten fallen lassen. Bumm. Aufkommen. Bumm. Nicht verbeugen.

Langsam öffnete sie die Augen. Im ersten Moment blendete die Welt sie. Doch dann nahmen die Beurteiler im Grau des Raums wieder Gestalt an. Der Trommler verzog keine Miene.

Kara begegnete seinem Blick. Was hatte sie sich dabei gedacht? Die beiden würden jedem, den sie kannten, von ihrer seltsamen Vorstellung erzählen. Wieder würden Geschichten über einen Sturz und unmögliches Betragen erzählt werden und Leute würden über sie lachen.

Ihr Trotz kehrte zurück. Warum störte sie, was Langweiler dachten? Sie hatte getanzt. Wirklich getanzt.

»Finden Sie sich morgen um neun Uhr im Übungsraum ein.« Die Stimme des Trommlers war leise. Bloß ein Flüstern, doch es brachte ihr Innerstes zum Beben.

»Sie nehmen mich?« Ein Schauder durchlief ihren Körper von den Haarwurzeln bis zu den Fußspitzen. Sie stand kurz davor, ein neues Kapitel ihres Lebens zu schreiben. Sie spürte den Sog der Zukunft.

Die Frau antwortete mit frostiger Stimme. »Wir ziehen es in Erwägung. Sie werden sich zu einer Übungsstunde mit unserem Trommler einfinden. Danach sehen wir weiter.«

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