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Totschlag

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Sonnenwind, auf dem Weg nach Amarok

Der Frachtraum im Bug sah aus, als sei eine Bombe explodiert. Zehn Jahresrationen an Nährstoffkartuschen, Kalorieneinheiten und Aromen klebten als gelbbraune Schmiere an jedem Quadratzentimeter. Eine nach Vanille riechende Wolke aus feinem Puder und abgerissenen Metallteilen wirbelte im Zug der Lüftungsanlage.

Lena atmete etwas von dem klebrigen Staub ein und hustete. Er schmeckte süß und hinterließ ein pelziges Gefühl im Rachen. Widerlich.

Unter der Bugklappe, direkt über ihrem Kopf, hing eine gelbliche Wasserblase von fünf Metern Durchmesser. Anscheinend war mindestens einer der Wassertanks geplatzt und hatte mehrere Tonnen seines kostbaren Inhalts ins Lager entleert. Werkzeuge und abgerissene Kistendeckel schwebten darin, wie eingefroren. Lena schnalzte mit der Zunge. Sie wusste nicht einmal, wo sie anfangen sollten, diese Sauerei aufzuräumen.

Das Shuttle von Lehrsinn-Bode hing ebenfalls an der Blase. Mit der Bugspitze auf dem Wasser dümpelnd, sah es wie der Schwimmer einer Angelrute auf der Wasseroberfläche aus. Teile zerquetschter Vorratskisten klebten immer noch an der Außenhülle der Fähre, die vergleichsweise unbeschädigt wirkte. Abgesehen von dem Riesenloch in der Backbordseite. Und den Metallstreben der alten Bettgestelle, die hier drin eingelagert worden waren und nun wie Speere in den Scheiben des Cockpits steckten.

Durch die Öffnung in der Seite erspähte sie Nance, die mit dem Rücken zu ihr vor einer Sitzreihe schwebte und sich über etwas beugte. Die orangefarbene Notbeleuchtung des Shuttles ließ die grünen Zöpfchen der Programmiererin schwarz wirken.

Lena stieß sich kräftig vom Boden ab und schwebte mitten durch die Puderwolke auf Nance zu. Der gelbe Staub verfing sich in ihren Haaren und geriet in ihre Augen. Halb blind suchte sie Halt an den Rändern der Außenhülle. Ein Stromschlag fuhr durch ihre Fingerspitzen und knallte dumpf in ihre Schulter. Ihr ganzer Arm fühlte sich taub an. Sie schüttelte ihn, um das Gefühl zu vertreiben. Es half nichts.

Der Staub verklumpte mittlerweile zu scharfkantigen Traumsandkrusten in ihren Augenwinkeln. Immerhin sah sie so wieder etwas. Benommen wischte sie mit dem Handrücken die Verkrustungen aus ihren Augen und betrachtete den Rand des Loches. Die aufgerissene Außenhülle wimmelte dort, als versuchten miteinander verworrene Würmchen, sich ständig neu zu ordnen. Die Autoreparatur versuchte, die Hülle wieder instand zu setzen. Allerdings nahm das Loch mit etwa drei Metern Durchmesser die halbe Backbordseite ein. Der Materialvorrat reichte nicht aus, um es zu stopfen.

»Komm rein, Lena!«, rief Nances Stimme aus dem Shuttleinneren. Lena benutzte die Füße, um sich von der Außenhülle abzustoßen und hineinzufliegen. Sie war lernfähig. Noch einen Stromschlag brauchte sie nicht. Der Erste ließ ihre Finger immer noch pochen.

Nach dem hell erleuchteten Frachtraum kam ihr die orangefarbene Beleuchtung im Shuttleinneren dunkler vor, als ihr Beschleunigungstank. Nances winzige Gestalt schwebte nur wenige Meter unter dem Cockpit der Fähre. Ihre Zöpfchen umwaberten ihren Kopf wie Seetang. Neben der Programmiererin lugten zwei Helme über die Rückenlehnen einer Bankreihe. Dahinter zog Dans dürre Gestalt direkt unter der Lampe des Cockpits einen dritten Helm ab und legte Tians Glatze frei. Der große Mechaniker rührte sich nicht.

»Und?«, fragte Lena. In ihrer Kehle steckte ein Eisklumpen, der ihre Stimme an dem einen Wort zerbrechen ließ. Sie räusperte sich und sprach lauter weiter. »Wie geht’s ihnen?«

»Tian und Kroll sind bewusstlos, aber lebendig«, erklärte Nance. Die großen Augen der Programmiererin glitzerten.

»Wirklich?« Lenas Herz hüpfte vor Aufregung in ihrer Brust. Wenn Kroll und Tian noch lebten, dann war sie nicht zu schnell gewesen. Dann hatte sie es geschafft, sie zu retten.

Mit einem kräftigen Stoß flog sie hinauf zum Cockpit und kam neben Nance zum Halten. Die Programmiererin deutete, ohne hinzusehen, auf eine Gestalt, die zusammengesunken auf einem der Sitze saß. Lena erkannte Glenn selbst in dem schnieken Anzug von Lehrsinn-Bode. Die Gurte hielten seinen Oberkörper in Position. Doch sein Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel in der Luft. Seine Augen starrten in die Leere.

Zwischen ihren Ohren entstand ein Druck, als pumpe jemand ihren Kopf auf, wie einen Luftballon. »Ist er …«

»Ich glaube, sein Genick ist gebrochen. Nichts allzu Schlimmes. Der Medisarg schafft das.« Nance klang nicht besonders überzeugt und Lena legte der jungen Programmiererin eine Hand auf die Schulter.

»Ganz sicher kriegt der das hin, Nance. Aber wir sollten ihn vorsichtig bewegen, wenn wir ihn ins Krankenzimmer bringen. Und den Anzug vorher nicht ausziehen. Hier drin sieht man ja die Hand vor Augen nicht.«

»Ist reine Gewöhnungssache«, rief Dan aus dem Cockpit. »In ein paar Minuten kannst du hier drin Bedienungsanleitungen lesen.«

Er zog Tian aus dem Pilotensitz und begann, den Rest des Anzugs vom Mechaniker abzustreifen. Die Finger dessen linker Hand standen in alle Richtungen ab und sein tätowiertes Gesicht wirkte selbst im orangefarbenen Schein seltsam fahl. Er schlug die Augen auf und fing an zu brummen, als er Lena sah.

»Wenn du uns umbringen wolltest, hättest du den Job den Konglos überlassen sollen, Prinzessin«, lallte er und zeigte mit seiner lädierten Hand auf Lena.

»Ich bringe Tian ins Medizimmer.« Dan zog den Mechaniker runter Richtung Loch.

»Wenn er sich noch darüber beschweren kann, dass ich ihm den Hintern gerettet habe, geht’s ihm gut genug«, sagte Lena. »Warte noch, bis wir nach Kroll gesehen haben.«

Als Tian und Dan sich bewegten, schaukelte Glenns Kopf im Luftzug. Lena schluckte. Der Medisarg bekam das wieder hin. Ganz sicher. Ihr Magen schien sich trotzdem mit Eiswasser zu füllen. Sie presste die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab.

Nance löste die Verschlüsse von Krolls Helm und öffnete das Visier. Frischer Schweißgeruch, gemischt mit dem Duft eines Aftershaves, entstieg dem Anzug. Der Wissenschaftler sah genauso aus, wie auf dem Profilbild seiner Akte. Nur etwas blasser um die schiefe Nasenspitze und seine schwarzen Locken klebten feucht an der Stirn. Verkrustetes Blut hing unter seinen Nasenlöchern und seine Augen verdrehten sich so weit, dass nur das Weiße zu sehen war.

»Scherben«, flüsterte er im Halbschlaf. »Glas. Rucksack.«

Dank ihres Bremsmanövers lebte der Felsenkleber noch, und Glenn saß hier mit gebrochenem Genick. Sie schloss die Augen. In Gewissensbissen konnte sie später suhlen. »Wir müssen entscheiden, wer den Medisarg zuerst benutzt.«

»Wer ihn zuerst benutzt?« Tian schaffte es, gleichzeitig zu lallen und wütend zu klingen. »Du hast den Käpt’n auf’em Gewissen. Willst du jetzt auch noch seine Wiederbelebung rauszögern? Das Kommando gefällt dir wohl zu gut.«

Lena holte tief Luft, damit sie ihn nicht anfauchte. Obwohl ihr der Blutdruck in den Ohren sauste, antwortete sie mit ruhiger Stimme. »Ohne mich könntest du dich jetzt in das Heer der Konglos einreihen, die für Luft und Wasser mit ihrer Freiheit bezahlen.«

»Da die anderen beiden noch leben, können sie ruhig einige Tage warten, bis sie in den Medisarg kommen«, sagte Nance etwas zu laut. »Ich steck’ den Käpt’n mal zuerst rein, damit die Verwesung nicht einsetzt. Magst du nicht mitkommen, Lena?«

»Vielleicht hast du’s noch nicht kapiert. Aber du hast den Käpt’n umgebracht, Prinzessin«, rief Tian. Er schwebte neben Dan und fuchtelte mit seiner abgeknickten Hand in ihre Richtung. »Warte, bis ich mich besser fühle, dann dreh ich dir höchstpersönlich den Hals um. Verdammte Navigatorenbrut. Die Träumer wissen, was sie euch ins Hirn gepflanzt haben, mit euren …«

»Wir kommen mit ins Krankenzimmer, Nance. Du steckst den Käpt’n in den Medisarg und ich such die Schmerzmittel für Tian«, sagte auch Dan in übertriebener Lautstärke. Er legte einen Arm um Tians Schulter und zog ihn sanft von Lena fort. »Vielleicht kannst du dich um Kroll kümmern, Lena? Setz ihn bei Bedarf einfach unter Drogen.«

Tian und Lena tauschten einen düsteren Blick aus, ließen es aber zu, dass ihre Mannschaftskollegen sie voneinander trennten. Nance schob Glenns reglosen Körper vor sich her. Jedes Mal, wenn sie die Richtung änderte, wackelte sein Schädel hin und her, als sei der Hals aus Gummi.

»Pass auf seinen Kopf auf, Nance«, sagte Lena. Ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Es stimmte. Sie hatte Glenn umgebracht.

»Asche ist Metall. Vom Dreck trennen. Atmosphäre ausgesetzt. Im Rucksack. Vielleicht noch zu retten«, sagte Kroll von der Seite.

Lena blinzelte ihn an. Der Mann schälte sich gerade umständlich aus seinem Raumanzug.

»Asche ist Metall?« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Locken. Der Mann hatte ordentlich einen auf den Schädel bekommen. Er nickte begeistert. Hatte der Kerl sie überhaupt verstanden? »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen Ihre Kajüte.«

Kroll hielt sich mit beiden Händen an einer Rückenlehne fest und machte keinerlei Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen. »Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen aus dem Shuttle.«

Der Wissenschaftler winkte ab. »Schwerelos. Nicht zum ersten … nicht zum ersten Mal.« Er runzelte die Stirn und schielte wieder. »Ich …«

Lena seufzte. In dem Zustand brauchte er einen Aufpasser, bis der Medisarg für den nächsten Einsatz bereitstand. Und das nahm einige Tage in Anspruch. Tote aufzuwecken gehörte zwar zur Routine, brauchte aber seine Zeit. Sie hätte Nance aufhalten sollen. Welches Problem den Wissenschaftler auch plagte, einige Stunden reichten sicher, um es zu beheben. Vorausgesetzt, er lebte. Solange konnte Glenn im Kühlbad warten.

Sie legte den Kopf in den Nacken. Wieso hatte sie das nicht gesagt? Wieso hatte sie sich von Tian aus dem Konzept bringen lassen? Dieses Kommandoding lag ihr nicht.

Kroll sah sich um. »Wo?«

»Sie befinden sich auf der Sonnenwind«, sagte sie betont ruhig und fasste ihn am Oberarm. »Kommen Sie mit ins Krankenzimmer. Sobald Dan mit Tian fertig ist, wird er sich mal Ihren Kopf anschauen.« Und sie konnte nach Glenns Zustand schauen.

»Kopf?«, fragte Kroll und schielte so hart, dass es schmerzhaft aussah. Sein linkes Augenlid zuckte.

Vorsichtig zog sie an seinem Arm, um ihn aus dem Shuttle und Richtung Krankenzimmer zu schieben. Doch er schlug um sich und traf sie mit dem Ellbogen im Gesicht. Der Schlag katapultierte sie zwei Meter in die Luft, bevor sie eine Lehne zu packen bekam und ihren Flug stoppte. Ihre Oberlippe erhitzte sich dort, wo er sie getroffen hatte. Unter ihr wand Kroll sich in einem Anfall. Seine Zunge hing aus seinem Mund und ein schmatzendes Geräusch erklang. Er drehte sich angetrieben von seiner Hampelei um die eigene Achse. Blutiger Schaum sammelte sich in einer größer werdenden Blase in seinem Mundwinkel. Seine Augen rollten unkontrolliert in alle Richtungen.

Lena stieß sich von der Decke ab und flog zu ihm runter. »Doktor Kroll! Hören Sie mich?«

Der Mann warf seinen Kopf hin und her. Er verfehlte sie nur um Zentimeter mit einer Kopfnuss. Sie zog sich ein Stück zurück und aktivierte das Kom mit einer Handbewegung.

»Nance?«, fragte sie. »Habt ihr Glenn schon in den Medisarg gesteckt?«

»Aye.« Die Programmiererin klang besorgt. »Wieso?«

»Schick mir Dan vorbei. Kroll hat einen Anfall. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Aye«, meldete sich der Funker. »Bin schon auf dem Weg.«

Doch sobald sie das Gespräch beendete, beruhigten sich Krolls Zuckungen. Seine Augen hörten auf, sich zu verdrehen. Er rotierte immer noch um seine eigene Achse, aber sonst bewegte sich nur die Blutschaumblase, die an seinem Mundwinkel waberte.

»Doktor Kroll?«, fragte sie und schüttelte den Mann an den Schultern. Ein Teil der Blase löste sich und flog wobbelnd davon. Sie tastete mit zittrigen Fingern seinen Hals ab. Kein Puls. Eine allumfassende Schwärze verschluckte die Welt vor ihren Augen.

»Nance?«, fragte sie mit dünner Stimme. »Wie lange braucht der Medisarg, um Glenn zu heilen?«

»Sieben Tage«, antwortete Nance. »Wieso?«

Lena schnappte nach Luft, als sei sie von einem Tauchgang an die Wasseroberfläche zurückgekehrt. Zu lange. Sie konnten Kroll selbst im Kühlbad nicht sieben Tage lang der Verwesung überlassen, bevor sie ihn in den Medisarg steckten. »Wir werden Kroll auf Eis legen.«

»Was?«, fragte Nance. »Das kannst du nicht machen. Wir können ihn hier nicht mehr auftauen.«

»Er ist tot. Vermutlich ein Schlaganfall«, sagte Lena. Sah so ein Schlaganfall aus? Sie hatte nie zuvor einen miterlebt. »Mir bleibt nichts anderes übrig.«

»Tot?«, fragte Nance. »Das heißt …«

»Das heißt, wir müssen ihn als Frostfleisch bei seinem Bruder abgeben«, beendete Lena den Satz. Und das würde dem Bruder mit Sicherheit nicht gefallen. Das Dröhnen in ihren Ohren übertönte alle anderen Geräusche. Zwei. Sie hatte heute zwei Leute umgebracht. Und der Medisarg konnte nur einem helfen.

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