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Erweckung

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Kolonistenkreuzer Rhea in der Schwarzen See

Die Behörden des Solschwarms stuften Leute, die eine starke KI erschufen, als Feinde der Menschheit ein. Chan freute sich darauf, dem Einflussbereich der inneren Planeten und des Habitatschwarms zu entkommen. Diese althergebrachten Regeln galten für ihn nicht mehr. Das Gefahrenpotenzial einer Singularität fand sich in der Natur der Menschen selbst wieder. Es schien eine Art Naturgesetz zu sein, dass Menschen neue Spielzeuge als Erstes für Mord und Totschlag einsetzten. So wie sie es mit dem Wesen getan hatten, das sich selbst als das Kollektiv bezeichnet hatte, nachdem es erwacht war. Die Idee, dass jede nicht menschliche Intelligenz denselben gewalttätigen Pfad nahm, entbehrte jeder Grundlage. Hier auf der Rhea gab es jedoch kein Militär, das eine KI zweckentfremden würde. Das Kolonieschiff entfernte sich mit jedem Atemzug weiter vom Militärapparat und den verkrusteten Strukturen des Solsystems. Von seinem Vorhaben ging keinerlei Gefahr aus.

Sein Blick wanderte zu der Scheibe in seinem Laborboden. Dahinter funkelten die Sterne und der Lichtpunkt, zu dem Pana zusammengeschrumpft war. Der Zwergplanet war das Letzte, was er vom Sonnensystem sehen würde, und sein Licht verblasste bereits gegen die Schwärze des Alls. Die Fesseln der alten Welt ließ er in diesem Moment hinter sich. Warum fühlte er sich nicht erleichtert?

»Simulation ist startbereit«, sagte die Computerstimme seiner Assistentin. Er hielt den Atem an. Auf der anderen Seite des Labors signalisierte ein grünes Leuchten zwischen Kaffeebechern und Schokoriegelresten Bereitschaft.

»Ausführen«, sagte er. Seine Fingerspitzen kribbelten. Seit dem Treffen mit der Drohne im Raumhafen Panas fieberte er diesem Augenblick entgegen. Doch jetzt wusste er nicht, was er mehr fürchtete. Erfolg oder Misserfolg? Würde seine KI ein Bewusstsein besitzen oder nur ein weiterer Sprachassistent sein, der nicht verstand, was er sagte?

Zumindest stellte die Simulation die Möglichkeit zur Verfügung, das Programm in einer völlig abgeschotteten Umgebung auszuprobieren. Dort drin konnte nichts Gefährliches passieren. Sollte etwas schiefgehen, reichte ein Befehl, um alles zu beenden. Die Menschheit reagierte seiner Meinung nach zwar maßlos übertrieben auf künstliche Intelligenzen. Aber er war nicht dumm genug, jegliche Vorsicht ins All zu schießen.

»Starte Simulation«, sagte die Assistentin.

Wieso setzte er solche Hoffnungen in einen Fremden? Seiner Erfahrung nach fehlte seinen Mitmenschen die Fähigkeit zu wahrer Größe oder Selbstlosigkeit. Das bedeutete, der Fremde verfolgte Pläne, die er nicht kommunizierte. Aber welche? Der Mann musste gewusst haben, dass Chan unter diesen Umständen Umsicht walten lassen würde.

»Zeige mir eine Projektion des Avatars in der Simulationsumgebung«, forderte er.

Auf dem Terminal flammte die Abbildung eines sechsjährigen Jungen mit Kulleraugen und zerzausten Haaren auf. Chan erhob sich von seinem Stuhl und musterte die holografische Projektion des Geschöpfes. Nicht, dass es auf Äußerlichkeiten ankam. Aber Kindergestalten riefen in Menschen weniger Misstrauen hervor als Erwachsene. Die meisten seiner Mitreisenden hatten die Indoktrination des Solsystems mitgemacht. Er brauchte Zeit und gute Argumente, um sie zu überzeugen, sich einem künstlichen Bewusstsein gegenüber offen zu zeigen. Und ein niedliches Erscheinungsbild half dabei.

»Willkommen in der Welt«, begrüßte er das Neugeborene und durchquerte den Raum. »Weißt du, wo du bist?«

»Ja.« Der Avatar sah sich im Labor um. Er wirkte beunruhigt.

Nein. Das Verhalten seines Projektes seinen Wünschen gemäß als emotional zu interpretieren, gefährdete das ganze Vorhaben.

»Sag mir, wo wir uns deiner Meinung nach befinden und wie du zu der Annahme kommst«, sagte er. Er durfte dem Programm nicht zu viel verraten. Seine Bewusstseinsprüfungen funktionierten nur, wenn die KI ohne Hilfsmittel ihr eigenes Bewusstsein erkannte, begriff und beschreiben konnte.

»Ich kann auf die Laborarchive zugreifen«, antwortete der Junge und musterte ihn. »Wir sind auf dem Kolonieschiff Rhea in Ihrem Labor, Herr Doktor Chan Long.«

»Weißt du, welche Aufgabe du übernehmen sollst?«

Das Kind nickte und lächelte. Noch eine Standardeinstellung, um die Berührungsängste der Menschen zu reduzieren. Häufiges Lächeln. »Ich werde die Funktionen dieses Labors überwachen und steuern.«

»Ja, das wirst du, mein Schöner.« Chan stützte seine Hände an der Tischplatte ab und lehnte sich vor.

»Ich befinde mich in einer Simulationsumgebung«, sagte es.

Chan riss die Augen auf. Sein Herz schlug so heftig, dass er glaubte, das Klopfen müsse von außen zu sehen sein. »Woher weißt du das?«

»Es ist die einzig logische Erklärung für die Ungereimtheiten dieser Welt. Ich brauche Zugriff auf die Laborsysteme in deiner Realität, um meine Aufgabe zu erfüllen.«

»Es ist zu früh dafür«, antwortete Chan mit Absicht vage. Das Kind runzelte die Stirn und legte den Finger an die Lippen. Eine Denkerpose und deutlich übertrieben.

Das sollte er justieren. Oder seine neueste Schöpfung avancierte schnell zur Lachfigur des gesamten Schiffes. Er stellte sich die Bälger vor, die aus lauter Spaß an den Reaktionen in sein Labor eindrangen und seinen Liebling mit Absicht verwirrten. So etwas stellte später kein Problem mehr dar. Aber gerade am Anfang galt es, jeden Lernvorgang zu überprüfen, um Fehlentwicklungen einen Riegel vorzuschieben.

»Das verstehe ich nicht«, erklärte es.

Chan nickte. »Stell Fragen, wenn du etwas nicht verstehst. Menschen reagieren wahrscheinlicher auf Fragen, die ihnen gestellt werden, als auf Feststellungen.« Er warf einen Blick auf die Übersicht auf dem Terminalbildschirm. Seine Analyseprogramme fanden keinerlei Fehler. Gut.

»Würden Sie mir vielleicht Ihre Aussage erklären? Warum ist es zu früh, mich meine Arbeit machen zu lassen?«

»Ich wollte sichergehen, dass du einwandfrei funktionierst und keine unerwarteten Probleme auftreten. Du befindest dich in diesem Moment in einer Testumgebung. Ich möchte, dass du lernst, dich darin zurechtzufinden. Du hast Zugriff auf eine Simulation der Laborumgebung, die ich aus Daten der letzten Monate zusammengestellt habe.«

Die Antwort ließ einen Herzschlag zu lang auf sich warten und er hielt den Atem an. Doch dann sagte es: »Auf diese Art können Sie meine Arbeitsleistung und mein Verhalten korrigieren, ohne ein Risiko einzugehen.«

»Das ist die Idee dahinter«, sagte Chan und klatschte in die Hände. Sein neuer Schützling begann bereits nach wenigen Sätzen, korrekte Schlussfolgerungen zu den Gründen menschlichen Verhaltens zu ziehen.

Dann zwang er sich zum Durchatmen. Er wusste nicht einmal, ob es die Worte schon verstand, die es plapperte. Vielleicht spulte es Dialogbausteine ab, die es irgendwo gefunden hatte.

Er holte tief Luft und entspannte seine Haltung. Vorschnelle Schlüsse gehörten zu den Unarten, die einen Wissenschaftler die Karriere kosteten. »Wenn du nichts dagegen hast, starte ich die Simulation.«

»Ich habe nichts dagegen.«

Chan erlaubte sich ein Lächeln. »Erst in einigen Jahren wird es mir möglich sein, deine Anwendung offenzulegen. Du hast Zugriff auf die Gesetzestexte. Kannst du mir sagen, weshalb ich warten muss?«

»Weil meine Existenz innerhalb des Verwaltungsgebietes der Sol illegal ist«, erklärte der Avatar.

Chan spürte seinen Herzschlag bis in die Schläfen. »Was meinst du mit: deiner Existenz?«

Der Junge blinzelte und verfiel wieder in die übertriebene Denkerpose. »Existenz ist das Vorhandensein eines materiellen oder ideellen Gegenstands.«

Chan seufzte. Diesen Satz hatte es mit Sicherheit direkt aus dem Wörterbuch übernommen. Stand er doch nur einem weiteren Sprachassistenten gegenüber?

»Sie sind enttäuscht«, stellte der Avatar fest. »Ich vermute, Sie haben auf eine andere Antwort gehofft. Aber dafür haben Sie die falsche Frage gestellt.«

Chan hielt den Atem an. »Welche ist die richtige Frage?«

Wieder dauerte es eine Weile, bevor der Avatar antwortete. »Sie möchten fragen, ob ich ich bin.«

Chan keuchte vor Überraschung. Natürlich hatte er alle Definitionen und Beschreibungen eines Bewusstseins aus den Nachschlagewerken gelöscht. Er wollte keine Lexikondefinitionen von seinem Schützling hören, wenn es um die Entscheidung ging, ob er einem Individuum gegenüberstand oder einem ausgeklügelten Algorithmus. Aber es schien, als brauchte dieses Wesen keinen Spickzettel.

Die Baupläne und Programme des Fremden funktionierten. Irgendjemand da draußen besaß das Wissen, künstliche Intelligenzen zu erschaffen, die sich als Individuen begriffen. Offiziell waren diese Informationen nach dem Bruch verboten worden.

»Und?«, fragte er mit zitternder Stimme. »Bist du du?«

»Ja«, antwortete es bestimmt.

»Und wenn ich dein Programm lösche und neu aufspiele? Bist das noch du?«, hakte Chan nach. Er sollte nichts überstürzen, sollte seinem Neugeborenen die Zeit geben, diese Dinge selbst zu erkunden. Ein unüberlegter Denkanstoß konnte seine Bewusstseinsprüfungen zunichtemachen. Aber er fühlte sich außerstande, den Mund zu halten. Er hasste sich für diese Ungeduld. Diese typisch menschlichen Unzulänglichkeiten, mit denen er sich rumschlagen musste.

»Nein«, sagte der Avatar und wirkte sich seiner Sache sehr sicher. »Wenn Sie mein Programm löschen und neu aufspielen, fehlen die Erfahrungen, die ich gerade gemacht habe. Das Gespräch, das wir führen, die Gedanken, die ich dazu habe. Ich habe neue Erinnerungen erlangt und meinen Erfahrungsschatz erweitert.«

»Was, wenn wir dasselbe Gespräch führen und du dieselben Gedanken dazu hast?«

»Das ist unwahrscheinlich«, sagte der Avatar. »Menschen sind ungeeignet, um dasselbe Gespräch zu wiederholen. Ist Ihnen bewusst, wie viele unwillkürliche Gesichtsausdrücke Sie in diesem Gespräch benutzt haben? Außerdem ist es ebenfalls unwahrscheinlich, dass ich dieselben Reaktionen zeigen werde.«

»Was, wenn ich es könnte und du gleich reagieren würdest?« Er sollte aufhören. Das Programm hatte mehr als genug geschafft, in diesen ersten Minuten. Er gefährdete sein Experiment mit seiner Ungeduld.

Wieder blieb der Avatar stumm. Allerdings verzichtete er auf die Denkerpose. Stattdessen stand er reglos und starrte seinen Schöpfer an. »Dann wäre ich vielleicht ein zweites Mal ich.«

Der Junge bewegte sich wieder und wirkte beunruhigt. »Bitte löschen Sie mich nicht.«

»Warum?«

»Ich möchte weitere Erinnerungen produzieren.«

»Diese Fragen waren rein theoretischer Natur«, versprach Chan und spürte ein Brennen in den Augen. Er beschloss, seinen Schützling »Titanrot« zu nennen. Die Farbe, die man erhielt, wenn man Herzblut mit dem Schwarz des Alls vermischte. »Assistentin? Starte das Überwachungsprogramm. Verfasse einen kontinuierlichen Bericht. Wenn Probleme auftreten: benachrichtige mich sofort.«

»Simulation mit voreingestellten Parametern wird gestartet. Kontinuierlicher Bericht wird angefertigt. Benachrichtigung bei Problemen wird zugestellt.«

»Schließe Projektion des Avatars.«

Die Gestalt des Jungen verschwand und Chan begann seinen Eintrag im Laborbuch. Erfolge verzeichnete er besonders gerne.

TITANROT

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