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Übungsstunde

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»Gibt es so etwas, wie eine intrinsische Motivation? Oder entstammt alle Motivation der Umwelt?«

Aus dem Ordner: Erkenntnisse über das Selbst; Erinnerungen des Kollektivs

Der Trommler wartete bereits im Übungsraum auf Kara. Die Trommel mit dem Fellbezug stand zu seinen Füßen, wie ein vergessenes Gepäckstück. Sie kam pünktlich. Wieso sah er aus, als warte er schon seit Ewigkeiten auf sie?

»Bin ich zu spät?«, fragte sie zögerlich und kam sich in dem ansonsten leeren Raum verloren vor. Alles hier drin war grau. Der Boden, die Wände, sogar der Anzug des Trommlers. Seine dunklen Augen fixierten sie, doch sein blasses Gesicht blieb reglos.

»Ich muss mich noch aufwärmen«, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

Eine leichte Vibration verriet die Nähe zu einem der Maschinenräume, die das Habitat am Leben hielten. Sie zog ihre Laufschuhe aus, schlüpfte in die biegsamen Schläppchen und versuchte, den Mann, der sie wortlos beobachtete, zu ignorieren. Kam der sich nicht seltsam vor, so zu starren?

»Also«, begann sie, nur um die Stille zu brechen. »Ich kann die Choreografie noch einmal durchtanzen.«

»Die, bei der du gestürzt bist?«, fragte er weich.

Kara versteifte ein wenig. »Ja. Genau die. Soll ich den Sturz mit einbauen?«

Sie grinste über ihren eigenen Witz. Aber das Grinsen fiel ihr aus dem Gesicht, als er sie ohne Reaktion anstarrte. Keine blöden Witze mehr. Der Typ besaß nicht ein Quäntchen Humor.

»Tu, was du für richtig hältst«, sagte er und sie warf ihm einen überraschten Blick zu.

»Das war nicht ernst gemeint«, sagte sie. »Also das mit dem Sturz einbauen.«

»Ich weiß.« Er zeigte zum ersten Mal ein unterkühltes Lächeln. »In deinem Profil steht, du hast noch nie eine Anstellung als Tänzerin bekommen? Wie oft hast du schon irgendwo vorgetanzt?«

Kara wich seinem Blick aus. Solche Fragen gehörten in einem Vorstellungsgespräch dazu. Auch, wenn sie es nicht mochte, über ihre Unzulänglichkeit als Tänzerin zu sprechen. Und sie mochte es auch nicht, zuzugeben, dass sie genau wusste, wie oft sie bereits eine Ablehnung kassiert hatte.

»Schon einige Male.«

»Du weißt die Anzahl nicht?« Er sah überrascht aus. Als stelle ihn die Verarbeitung ihrer Worte vor Schwierigkeiten.

Warum hatte sie gelogen? Die Zahl stand mit Sicherheit im Profil.

»Achtundvierzig«, sagte sie und erntete einen abschätzenden Blick.

»Du bist keine besonders gute Tänzerin.«

Es schien eine Feststellung zu sein. Warum war sie hier? Damit er sich über sie lustig machen konnte? Heißes Blut stieg in ihren Wangen auf.

»Warum tust du nicht etwas anderes?«, fragte er.

»Was soll ich schon tun?« Sie schluckte. Wollte er ihr sagen, dass sie das Tanzen an den Nagel hängen und eine andere Beschäftigung suchen sollte? »Es ist das Einzige, was ich kann.«

»Ich denke, du kannst tun, was du willst. Du könntest sogar eine gute Tänzerin sein. Aber aus irgendeinem Grund hast du dich dagegen entschieden.« Er runzelte die Stirn. »Warum?«

»Warum ich mich dagegen entschieden habe, eine bessere Tänzerin zu sein?«, wiederholte sie. Der wollte sie veräppeln. Vermutlich hatte er sie nicht zum Tanzen, sondern zu seiner persönlichen Belustigung hierher bestellt. »Offensichtlich, weil ich es nicht besser kann. Ich übe jeden Tag. Ich strenge mich an. Ich versuche es. Mehr kann ich nicht tun.«

»Wieso? Was treibt dich dazu, es zu versuchen? Warum willst du Vortänzerin werden?«

»Ich möchte andere Leute mit meinem Tanz glücklich machen«, sagte sie und verschränkte die Hände vor ihrem Bauch. »Ich möchte sie zum Lächeln bringen und ihren Beifall hören.«

Der Trommler hob eine Augenbraue und schürzte die Lippen. Kara presste die Handflächen aufeinander. Hatte er eine andere Antwort erwartet? Die Erinnerung an den Sturz beim Vortanzen drängte sich ihr auf und trieb Hitze in ihre Wangen. Warum hatte er sie trotzdem ein zweites Mal sehen wollen? Weil sie getanzt hatte. Wirklich getanzt. Sie erinnerte sich an den Moment, in dem sie im Tanz aufgegangen war. In dem sie vergessen hatte, dass sie beobachtet wurde und nur für sich selbst getanzt hatte.

»Ich möchte tanzen«, sagte sie. »Weil es mich glücklich macht. Weil ich dabei nicht über die Zukunft oder die Vergangenheit nachdenke, sondern nur den Augenblick genieße. Ich möchte den perfekten Moment erleben, nicht den Moment der Perfektion.«

»Dann lass uns anfangen«, sagte er und nahm seine Trommel vom Boden. Mit keiner Regung ließ er durchblicken, was er von ihrer Antwort hielt. Kara zog mit beiden Händen ihren Pferdeschwanz fest, bis es ziepte.

Was sollte das? Zuerst machte er sich über sie lustig, weil sie nicht besser tanzte, und jetzt wollte er anfangen zu trommeln?

Aber sie fragte nicht. Irgendetwas sagte ihr, dass sie keine bessere Antwort bekommen würde. Fragen hörten die Tanzgruppen nicht gerne von Angestellten. Und erst recht nicht von Anwärtern. Ihre Aufgabe bestand darin, zu tun, was man ihr sagte und dabei ihr Bestes zu geben. Und vielleicht würde sie so endlich einen Stammplatz in einer Tanzgruppe finden.

Also stellte sie sich in Position. Und sobald er mit dem Trommeln begann, tanzte sie. Sie sprang so hoch, wie es ihre Muskeln hergaben. Sie streckte den Fuß durch, bis sie die Spannung in den Zehenspitzen als ziehenden Schmerz spürte. Mitten im Sprung verkrampfte ihre Wade. Sie kam aus dem Gleichgewicht und knallte wieder mit der Schulter voran auf den Boden. Heißer Schmerz durchfuhr sie und trieb ihr brennende Tränen in die Augen. Sie biss in ihre Unterlippe, um sie vom verräterischen Zittern abzuhalten.

Typisch. Absolut typisch. Das war’s. Diese Blamage gesellte sich zu anderen, in ihren Unterlagen. Ein weiterer Fehlschlag.

»Warum bist du gestürzt?«, fragte der Trommler.

Mit Mühe schluckte sie die Tränen runter, die ihre Worte verhinderten. »Wadenkrampf.«

Sie hasste die Schwäche ihres Körpers, der sich jetzt, da sie so nah dran war, ihr Ziel zu erreichen ihrem Willen verweigerte. Langsam raffte sie sich vom kalten Boden auf. Ihre Schulter fühlte sich seltsam taub an.

»Ich will es noch einmal versuchen.«

Der Trommler starrte sie an.

»Du hast den Verstand verloren.« Er brach lauthals in Gelächter aus. Seine Stimme hallte im Raum wider und stürzte auf sie ein. Jeder Ton echote in ihrer Magengegend. Er brauchte eine ganze Weile, um sich wieder zu beruhigen.

Kara blieb die ganze Zeit dort stehen und ließ es über sich ergehen. Aufgeben kam nicht infrage. Sie wollte zu den Leuten gehören, die sich durchbissen, bis sie ihre Träume verwirklichten. Sie wollte tanzen, sich selbst besiegen. Ihre Unzulänglichkeiten überkommen und über sich hinaus wachsen. Ihr Herz wollte für etwas brennen, entgegen allen Widrigkeiten. Allerdings würde sie das woanders tun müssen. Sie ging zu ihren Schuhen.

»Was tust du?«, fragte er und sie drehte sich überrascht um.

»Nach Hause gehen?«, fragte sie zaghaft. »Ich meine, das hier ist vorbei oder?«

»Wenn du das sagst.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Kommst du wieder?«

»Warum?«

»Ich dachte, du willst tanzen.«

»Und Sie nehmen mich? Trotz …« Sie machte eine Geste in Richtung Boden und verzog das Gesicht. Sie konnte nicht glauben, dass sie schon wieder hingefallen war.

»Wenn du willst«, sagte er und kräuselte die Lippen, als schmeckten seine Worte bitter.

»Wenn ich will?«

»Es ist deine Entscheidung«, erklärte er und diesmal erkannte sie das Gefühl hinter seiner Miene überdeutlich: Hass.

»Das wäre das erste Mal«, sagte sie. Sein Verhalten verwirrte sie. Woher kam der Hass? Er kannte sie gar nicht. Und dann, als ihr auffiel, dass sie anscheinend gerade ihre erste Tanzanstellung bekommen hatte, verneigte sie sich vor ihm. »Danke.«

Aber das Wort hinterließ einen schalen Geschmack in ihrem Mund. Wieso freute sie sich nicht? Weil sie es nicht verdient hatte. Sie hatte keine gute Vorstellung abgegeben. Keine, die es wert war, genommen zu werden.

»Sie sollten mich nicht anstellen«, rutschte es ihr raus.

»Wieso nicht?«

»Weil ich nicht gut war.«

»Komm wieder und tanze noch einmal vor, wenn du willst«, erklärte er und diesmal zeigte er keine Gefühle. Wie eine sprechende Statue.

»Morgen? Um dieselbe Zeit?«

»Wenn du willst.« Er starrte sie mit einer Intensität an, die sie schaudern ließ.

»Danke. Ich werde so gut tanzen, wie noch nie. Ich werde die beste Tänzerin Inuas werden. Versprochen. Ich gebe mein Bestes morgen«, bedankte sie sich artig.

Aber als sie den Raum verließ, nagte sie an ihrer Unterlippe. Etwas stimmte hier nicht.

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