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2 Aufstand der Farben

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„Das schlimmste Übel, an dem die Welt leidet, ist nicht die Stärke der Bösen, sondern die Schwäche der Guten.“

Romain Rolland, französischer Schriftsteller und Nobelpreisträger (1866-1944)

Vincent saß auf seiner Gartenbank und seufzte leise, während ein frischer Wind verspielt seine Haare zauste. Für November war es noch ungewöhnlich warm. Der Himmel leuchtete in seinem schönsten Blau und lediglich ein paar Wölkchen, die wie duftige Schäfchen aussahen, zogen über ihm hinweg. Doch der junge Maler würdigte sie keines Blickes. Seine Augen brannten aufgrund des Schlafmangels der letzten Nächte und sein Kopf drohte vor Schmerz zu zerplatzen. Die aufschießenden Hochhäuser um ihn herum erschienen ihm wie verfaulte Zähne in einem riesigen Schlund, der danach trachtete, ihn gierig zu verschlingen. Zwischen den Betonriesen wirkte sein Haus mit den verspielten Zwiebeltürmchen und Erkern wie ein verwunschenes Schlösschen aus einem alten Märchen.

Einige Bilder aus Rapunzel, Hans im Glück und König Drosselbart zierten die Vorderfront des Hauses, welche Vincent ein Jahr vor dem Tod seiner Großmutter liebevoll mit Farbe aufgefrischt hatte, da sie von der Sonne schon ziemlich ausgebleicht waren.

„Das Leben ist das schönste Märchen“, stand in großen, geschnörkelten Buchstaben über der wuchtigen Eingangstür geschrieben, und der erste Eindruck, den das Haus vermittelte, war beinahe zu zauberhaft, um echt zu wirken. Unglücklicherweise war Vincent jedoch kein Prinz, sondern mehr ein Bettelknabe, der sich in argen finanziellen Nöten befand. Und diese Tatsache schnürte ihm die Kehle zu. Daran änderten auch die wärmenden Strahlen der Morgensonne und der würzige Duft bunter Blätter und warmer Erde nichts. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu seinem Gespräch mit Monika, und je mehr er darüber nachdachte, musste er ihr im Stillen Recht geben. Er war tatsächlich ein hoffnungsloser Träumer, der immer mehr Gefahr lief, alles zu verlieren, was ihm lieb und teuer war, wenn er nicht rechtzeitig dagegen steuerte.

„Verflixtes Geld!“, hörte er sich jammern und seine Stimme kam ihm irgendwie fremd vor.

„Na, was müssen meine alten Lauschläppchen hören?“, wurde er von seiner Haushälterin getadelt, die leise hinter ihn trat.

„Ach, Dora“, beklagte sich Vincent geknickt, „das Leben ist so, ist so ... ungerecht!“

Auch ohne in sein Gesicht zu sehen, wusste die ältere Frau, dass ihn materielle Sorgen quälten. Seine Gesichtszüge waren angespannt, und zwischen seinen Augenbrauen entdeckte sie eine tiefe Furche, ein eindeutiges Zeichen für seinen Kummer, als er sich zu ihr umdrehte.

„Möchtest du dich einen Moment zu mir setzen?“, fragte er leise.

Er wirkte müde und traurig, und sie fragte sich stumm, ob sein Frühstücksbesuch dafür verantwortlich war.

„Gern“, antwortete die ältere Frau und nahm neben ihm auf der Gartenbank Platz. „Willst du mir nicht erzählen, was dich so bedrückt?“

Vincents Haltung verspannte sich unmerklich und ein Muskel zuckte in seiner rechten Wange.

„Ich werde mit dem Malen aufhören und eine Stelle als Kassier in der Bank von Monikas Vater annehmen“, teilte er seiner Haushälterin freudlos mit und empfand dabei eine unglaubliche Leere.

Wie bitte?“, rief Dora erschrocken und bedachte ihn mit einem entsetzten Blick. Sie wusste, wie viel Vincent die Malerei bedeutete, wie sehr er an seinen Bildern hing, und die Seele tat ihr weh, mitansehen zu müssen, wie der Junge neben ihr litt. Deswegen nahm sie sich vor, ihn von seinem Vorhaben gleich wieder abzubringen, obwohl es sonst nicht ihre Art war, sich in seine Angelegenheiten einzumischen.

„Stammt dieser Schwachsinn von dir oder Miss Sparkasse?“, erkundigte sie sich scheinbar ruhig.

„Monika hat mir heute die Augen geöffnet“, erklärte Vincent deprimiert. „Und mir klar gemacht, dass ich mit dem Geld, das ich als Künstler verdiene, auf längere Sicht meinen Lebensunterhalt nicht verdienen kann. Ich werde alles verlieren, wenn nicht bald mehr Kröten hereinhüpfen, das Haus, den Garten, alles, … dich.“

„Nur keine falschen Hoffnungen“, versuchte sie zu beruhigen, „so schnell wirst du mich nicht los!“, lächelte sie liebenswürdig.

Die Äste und Zweige des Baumes über ihnen, die sich im Herbstwind sanft wiegten, warfen unruhige Schatten auf ihr vertrautes Gesicht, doch Vincent schenkte dem keine Beachtung.

„Noch hast du ja Butter auf dem Brot“, fuhr sie unbeirrt fort.

„Die Frage ist nur, wie lange noch!“, seufzte Vincent, während er das Gefühl hatte, einen Elefanten auf ihm sitzen zu spüren.

„Ich glaube zwar nicht, dass meine Meinung eine Rolle spielt, fände es aber trotzdem schade, wenn du mit dem Malen aufhören würdest“, versuchte die ältere Frau ihn umzustimmen.

„Ich will ja nicht aufhören, aber ich muss!“, seufzte er und ignorierte die sich in seinem Magen ausbreitende Übelkeit tapfer. Dabei wirkte der junge Mann neben ihr dermaßen geknickt, wie sie es noch nie erlebt hatte.

„Ich werde es überleben“, versuchte er zu lächeln. „Das Geld für deine Arbeit im Haus werde ich selbstverständlich pünktlich bezahlen, sobald ich die neue Stelle habe.“

„Ach, Jungelchen“, tätschelte Dora liebevoll seinen Arm, „mach dir doch deswegen keinen Kopf. Ich bin auf dein Geld nicht angewiesen, da ich mein eigenes habe. Wegen mir musst du die Märchenmalerei nicht aufgeben!“

„Aber wegen Oma!“, biss Vincent seine Zähne zusammen und kämpfte gegen das aufsteigende Gefühl seiner inneren Hoffnungslosigkeit. „Was würde sie wohl sagen, wenn ich ihr Häuschen verkaufen müsste, weil ich nicht imstande bin, die Rechnungen dafür zu bezahlen!“

„Weiß nicht!“, erwiderte die Haushälterin und sah ihn mit einem undeutbaren Blick an. „Was ich jedoch mit Sicherheit weiß, ist, dass sie dein Vorhaben, die Malerei aufzugeben, niemals gutgeheißen hätte!“

Vincent schluckte und starrte auf den Boden. Tatsächlich wäre seine Großmutter niemals damit einverstanden gewesen.

„Wann beabsichtigst du denn deine …“, Dora hielt kurz inne, „deine Stelle als Finanzgenie anzutreten?“

„Es gibt keinen festen Termin, weil ich Monika gesagt habe, ich müsste noch in aller Ruhe darüber nachdenken, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffe.“

„Hört sich vernünftig an“, erwiderte die ältere Frau und stand auf. „Ich muss wieder ins Haus, noch ein paar Dinge erledigen.“

„In Ordnung!“, murmelte Vincent und sah zu ihr auf.

Sie erwiderte seinen Blick und fand, dass sein Gesichtsausdruck nicht mehr ganz so verzweifelt wie am Anfang ihres Gespräches war.

„Danke, dass ich meinen Seelenschrott bei dir abladen durfte“, verzog Vincent seine Lippen und brachte den Anflug eines Lächelns zu Stande.

„Fällt unter erneuerbare Energien“, zwinkerte sie ihm zu, während ein gutmütiges Lächeln über ihre Gesichtszüge huschte.

Dann stand sie auf, um ins Haus zu gehen. Kurz sah er ihr hinterher und beglückwünschte sich im Stillen, in Dora eine so wertvolle Stütze nach dem Tod seiner Großmutter gefunden zu haben. Als ob sie seinen Gedanken erraten hätte, steckte sie nochmals kurz ihren Kopf heraus und richtete ihren Blick auf ihn.

„Was auch immer geschieht, Vince“, versuchte sie ihm erneut Mut zu machen, „lass dich von niemandem unter Druck setzen. Und sollte es ganz dick kommen, habe ich auch noch ein paar Scheinchen auf der hohen Kante liegen, um das Schlimmste zu verhindern.“

„Kommt überhaupt nicht in Frage“, entgegnete Vincent verlegen. Nicht, dass er undankbar für ihr Angebot sein wollte, doch er schuldete ihr bereits mehr als genug und wollte ihre Großzügigkeit nicht noch mehr ausnutzen. Wieder musste er Monika in Gedanken Recht geben. Es wurde höchste Zeit für ihn, erwachsen und mit seinen Problemen allein fertig zu werden.

Nachdem Dora wieder im Haus verschwunden war, beschloss Vincent ein wenig zu arbeiten. Er holte aus seinem Atelier Staffelei, Pinsel und Farben, um ein Bild von Herbstblumen zu malen. Die Chrysanthemen in seinem Garten boten ein wunderschönes Spektrum warmer Farben, und da er Gelb-, Orange- und Rottöne besonders gern mochte, war die Wahl seines Motivs schnell getroffen. Stolze Blumenköpfe, die strahlenförmig wuchsen und Vincent an kleine Sterne erinnerten, wurden von ihm gekonnt auf Papier eingefangen. Der junge Mann lächelte zufrieden, während sein Blick auf seinem Bild ruhte. Er mochte Blumen. Ihr Leuchten, ihren Duft, ihre Farben. Und er liebte den Herbst. Seine unglaubliche Energie und Kunstfertigkeit, den Sommer in seinen Farben erstarren zu lassen. Plötzlich hielt der Maler inne und staunte nicht schlecht, als er mitten im November einen bunten Boten des Frühlings entdeckte. Das war außergewöhnlich, obwohl es für die Jahreszeit noch ziemlich warm war.

Ein Schmetterling im Farbton der Chrysanthemen tänzelte verspielt durch Vincents Garten und fand das völlig normal. Der junge Mann streckte eine Hand nach ihm aus, und tatsächlich setzte sich das filigrane Tier unverhofft auf seinen Zeigefinger, um eine kleine Pause einzulegen. Fein und zart hoben und senkten sich seine Flügel in sanften Schwingungen. Und unversehens – mit derselben Leichtigkeit, mit der er gekommen war – erhob er sich plötzlich von Vincents Hand und flatterte davon. Der Maler sah ihm sehnsüchtig nach und wünschte, sich mit derselben Eleganz in die Lüfte zu erheben und davon treiben zu lassen. Irgendwohin, wo immer die Sonne schien, und es keine grauen Wolken gab, welche die Sicht auf den Himmel versperrten.

„Vince, du hast Besuch!“, wurde er von Doras Stimme aus seinen Gedanken gerissen, worauf er sich überrascht zu ihr umdrehte.

„Was will er und warum von mir?“, grummelte er, weil er niemanden sehen wollte.

„Frag sie das selbst!“, erwiderte die ältere Frau mit einem rätselhaften Lächeln auf den Lippen.

Sie?“, runzelte Vincent seine Stirn und sein Atem setzte kurz aus, da er befürchtete, Monika wäre zurückgekommen.

„Deine Freundin ist es nicht!“, zerstreute Dora schnell seine Befürchtungen.

„Sondern?“, fragte Vincent neugierig.

„Errätst du nie!“, machte es seine Haushälterin spannend.

„Wie viele Versuche hab’ ich?“

„Einen“, erwiderte Dora. „Aber nur, wenn du dich beeilst!“

„Okay“, rief Vincent ernst. „Ich tippe auf ... auf den Osterhasen, der die Weihnachtsgeschenke in diesem Jahr bereits im November bringt. “

„Der Osterhase bringt keine Weihnachtsgeschenke“, lächelte die ältere Frau Kopf schüttelnd.

„Vielleicht ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk?“, wollte Vincent wissen.

„Bekommst du auch nicht.“

„Was dann?“

„Wie wäre es mit einem Lächeln aus goldenen Augen?“, machte es Dora spannend.

„Ein Lächeln aus goldenen Augen?“, murmelte der junge Mann ratlos und blickte seiner Haushälterin wie vom Donner gerührt ins Gesicht, als ihm ein Licht aufging.

„Du meinst … du meinst doch nicht etwa das Mädchen vom Markt?“, stammelte er aufgeregt, während er aufmerksam Doras Miene im Auge behielt.

Sie und keine andere“, bestätigte die ältere Frau.

Vincent fühlte sich einen Augenblick lang wie gelähmt und blickte seine Haushälterin sprachlos an. Unzählige Male hatte er sich in Gedanken ein Treffen mit dem geheimnisvollen Mädchen ausgemalt und jetzt stand sie vor seiner Tür und wollte zu ihm.

„Brücke an Kirk!“, fuchtelte Dora mit ihren Händen vor seinem Gesicht. „Willst du weiter Löcher in die Luft starren oder soll ich die junge Dame hereinbitten, damit wir endlich erfahren, wer sie ist was sie von dir will?“

Die unverhohlene Neugier seiner Haushälterin entlockte dem Künstler ein kleines Schmunzeln.

„Kirk an Brücke!“, richtete sich der junge Mann auf. „Beam sie raus!“

„Mach ich!“, zupfte ein kleines Lächeln auch an Doras Lippen und sie verließ ohne weiteres Wort den Garten, um das Mädchen mit den goldenen Augen in Vincents Garten zu führen.

Ungeduldig fieberte Vincent seiner Begegnung mit dem Mädchen vom Markt entgegen, während sein Blick ruhelos über die Herbstzeitlosen glitt und seine Ungeduld ins Unermessliche wuchs. Als er kurz darauf Stimmen vernahm, wandte er sich abrupt von den Blumen ab. Lautlos trat seine Besucherin in den Garten hinaus, während er sich gleichzeitig zu ihr umdrehte. Vincent hielt einen Augenblick lang seinen Kopf gesenkt, als hätte er Angst davor, ihr ins Gesicht zu sehen, doch dann richtete er sich auf und blickte ihr direkt in ihre goldenen Augen.

Bewegungslos stand sie da und wirkte fast ein wenig verunsichert, so als fände sie ihn genauso überraschend wie er sie. Sie war ein wenig kleiner als er, zierlich und noch viel zauberhafter, als er sie in Erinnerung hatte. Und einen Moment lang hätte er schwören können, dass sich die Farben des Regenbogens im Gold ihrer Augen spiegelten.

„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn höflich.

Der Klang ihrer Stimme ließ sein Herz kurz höher schlagen und ihr Anblick machte ihn sprachlos. Andächtig hielt er jeden ihrer feinen Gesichtszüge in Gedanken fest und versuchte sich Linie für Linie genau einzuprägen. Auch sie betrachtete ihn eingehend und wartete darauf, dass er ihren Gruß erwiderte oder zumindest etwas sagte. Irgendetwas.

„Ich bin Vincent“, gab er schließlich zurück. „Der Idiot“, fügte er in Gedanken hinzu, da er sich über seine Unfähigkeit, ein Gespräch interessant zu beginnen, maßlos ärgerte.

„Ich weiß“, erwiderte sie.

„Natürlich weiß sie, wer du bist, sonst wäre sie ja nicht hier“, schalt sich der junge Mann und überlegte angestrengt, was er als nächstes sagen sollte.

„Möchtest du Platz nehmen?“, meinte er schließlich und zeigte auf ein paar Gartenstühle, die um ein zierliches weißes Holztischchen gruppiert waren. Das Mädchen nickte wortlos und der junge Mann rückte ihren Stuhl zurecht, um seine Unsicherheit zu überspielen. Nachdem sich beide Platz genommen hatten, bot ihr Vincent ein Glas Limonade an, doch die schöne Unbekannte lehnte dankend ab.

„Ich werde nicht lange bleiben!“, kündigte sie an und senkte ihren Blick.

„Schade“, murmelte Vincent. „Was führt dich zu mir, wenn die Frage erlaubt ist?“

Das Mädchen sah auf und bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte.

„Meister Vincent, ich …“, sprudelte es aus ihr heraus, doch dann hielt sie unvermittelt inne, so als suchte sie nach den richtigen Worten, die ihre Anwesenheit erklärten und ihren Besuch rechtfertigten.

„Vincent … wenn’s recht ist!“, erwiderte er kaum hörbar, während sein Blick neugierig auf ihr ruhte. Er hatte keine Ahnung, warum sie hier war, aber worum sie auch bat, würde er erfüllen, soweit es im Bereich seiner Möglichkeiten lag.

„Vincent“, begann sie mit gedämpfter Stimme, „es ist sonst nicht meine Art, unangemeldet in fremde Häuser zu platzen, aber meine Situation lässt mir keine andere Wahl. Ich …“

Ihre Stimme versagte abermals, und Tränen traten in ihre Augen. Vincent warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Seit er sie das erste Mal auf dem Marktplatz gesehen hatte, wusste er, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Und wieder entdeckte er in ihren Augen diese tiefe Traurigkeit, die ihm von Anfang an aufgefallen war.

„Ich bin hier, weil ich deine Hilfe benötige“, presste sie schließlich hervor.

Eine Sekunde lang glaubte er, dass sie zu weinen anfing. Doch sie bemühte sich erfolgreich, ihre Tränen zurückzuhalten. Vincent schaute kurz in die Sonne, worauf seine Augen sofort wieder zu brennen begannen. Trotzdem gelang es ihm eine vertrauenerweckende Miene aufzusetzen, die sie ermutigen sollte, ihr Anliegen vorzubringen.

„Wie kann ich helfen?“, meinte er zuvorkommend, worauf sich ein Anflug von einem Lächeln auf ihrem Gesicht zeigte.

„Du musst mich malen!“, kam es wie aus der Tube geflossen. „Ich brauche ein Bild von mir. Möglichst schnell!“

Vincents Kehle schnürte sich augenblicklich zusammen. Seit einer Woche tat er nichts anderes, als seine ganze künstlerische Kraft aufzubieten, um die vollkommenen Züge ihres Antlitzes auf die Leinwand zu bringen, und nun bat sie ihn ausgerechnet um etwas, das er trotz größter Anstrengungen nicht zustande brachte.

Der Blick des Mädchens war in atemloser Spannung auf ihn gerichtet, aber nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, hätte sie ihn darum besser nicht gebeten.

„Ich kann nicht!“, wandte er verlegen seinen Blick ab. Ein Kälteschauder zog durch seinen Körper. Ohne sie anzusehen, wusste er, dass sie maßlos enttäuscht war. Mit Widerwillen hob er seinen Kopf und sah ihr in die Augen. Unbeschreibliches Entsetzen und Furcht spiegelten sich dort wider.

„Aber … aber du bist doch Vincent, der Märchenmaler?“, stammelte sie und versuchte, die Verzweiflung in ihrer Stimme zu verbergen.

Der junge Mann erwiderte nichts. Er kämpfte gegen sein schlechtes Gewissen und sie glaubte förmlich zu spüren, wie er sich innerlich wand. In der Tat fühlte er sich miserabel. Da war etwas in ihrer Stimme, in ihren Augen, in der Art, wie sie ihn ansah, das seinen Atem zum Stocken brachte und sein Herz in Tausend Stücke riss, weil er ihren Wunsch nicht erfüllen konnte. Und das Schlimmste war, dass er sie ja malen wollte, da sie tief in seinem Inneren den sehnlichen Wunsch hervorrief, ein Bildnis von ihr zu schaffen, es aber nicht konnte, weil sein Talent dazu nicht ausreichte.

„Nein, ich bin Vincent, der seine Rechnungen nicht bezahlen kann!“, erwiderte er traurig, „und habe mit der Malerei … äh … aufgehört.“

Seine Worte entsetzten sie aufs Neue und einen Augenblick lang hätte er schwören können, dass seine bezaubernde Besucherin wie ein Fernsehbild aus den ersten Tagen flimmerte. Ungläubig rieb er seine geröteten Augen, und als er ihr abermals einen Blick zuwarf, war das Flimmern vorbei, wobei Vincent davon ausging, dass ihm seine übermüdeten Augen einen Streich gespielt hatten.

Das Mädchen fühlte sich wie in ein Fass Tinte getaucht. Der Schrecken saß ihm in allen Gliedern, und es starrte ihn an, als könne es nicht glauben, was er da von sich gab.

„Willst … willst du damit andeuten, dass du …?“, flüsterte die Unbekannte mit fast unhörbarer Stimme und brach ab, unfähig, ihren Satz zu Ende zu bringen.

„Tut mir leid“, brach es aus Vincent heraus, und er umfasste beide Stuhllehnen mit festem Griff, so als suche er Halt, für das, was er ihr gleich sagen würde. Er schluckte und suchte nach den richtigen Worten. „Das mit den Märchen ist Geschichte. Wie heißt es schön: Es war einmal …“

„Es war einmal, heißt nicht, dass es vorbei ist“, fiel sie ihm hastig ins Wort, „sondern dass es immer wieder von vorn beginnt. Was einmal war, hat für immer Gültigkeit!“ Sie beugte sie leicht nach vor und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Ich war der Meinung, du hättest das begriffen!“

„Und wie kommst du darauf?“, wollte Vincent wissen.

„Weil du tief in dir drinnen ein Kind geblieben bist. Die meisten Erwachsenen sind nur noch leblose Hüllen, die mechanisch im grauen Alltag untergehen. Es gibt keine Farbe mehr in ihrem Leben. Sie sind erstarrt. Zu Stein geworden. Kalt und tot. Aber dir Vincent ist das Kunststück geglückt, das Kind in dir zu bewahren. Mit zerzaustem Haar, falsch zugeknöpften Jacken und verschieden farbigen Socken ziehst du mit deinen Farbtöpfen und Pinseln durch die Welt, und dein Blick ist noch nicht verstellt … für das Wesentliche.“

„Das da wäre?“, hob Vincent fragend eine Augenbraue und einen Moment lang glaubte sie, den kleinen Jungen sehen zu können, der er einst gewesen war.

„Licht und Farbe“, erwiderte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen. „Und selbstverständlich Märchen“, fügte sie schnell hinzu.

„Für die sich niemand interessiert!“, erwiderte er niedergeschlagen.

Die Bitterkeit in seinen Augen tat ihr weh. Energisch schüttelte sie ihren Kopf.

„Das stimmt nicht!“, rief sie enttäuscht.

„Nein?“, erwiderte er und seine Gedanken wanderten unwillkürlich zu seinem Gespräch mit Monika. Vor seinem geistigen Auge entstand das Bild seiner Freundin, die ihm unaufhörlich einredete, dass Märchen lediglich Lügengeschichten wären.

„Nein!“, rief die unbekannte Schöne und hielt seinem Blick stand. „Märchen sind unvergänglich und zeitlos, da sie uns helfen, die Welt zu verstehen und unsere Abenteuer zu bestehen. “

„In meinem Leben gibt es keine Abenteuer“, wurde sie von Vincent unterbrochen. „Nur unbezahlte Rechnungen!“

„Das Leben ist immer ein Abenteuer, Vincent!“, erklärte sie ruhig. Auch wenn es derzeit nur aus unbezahlten Rechnungen besteht. Das Märchen führt uns das wieder und wieder vor Augen. Die größte Hürde, der sich jeder stellen muss, ist, sich selbst treu zu bleiben, trotz aller widrigen Umstände. Dieser Herausforderung zu begegnen, erfordert Mut und Vertrauen in sich selbst, um den größten Sieg zu erringen. Nämlich den über sich selbst!“

„Ich kann es mir aber nicht länger leisten, gegen mich zu kämpfen, da ich sonst alles verliere, was ich besitze!“, seufzte Vincent und senkte seinen Blick. Das Gespräch mit Monika hatte ihn verändert. Er war nicht länger der sorglose junge Mann, der unbeschwert in den Tag hineinmalte. Er war zu Vincent, dem Verantwortungsbewussten geworden, der eingesehen hatte, dass er sich beruflich verändern musste, wenn er sich seiner Zukunft stellen wollte.

„Wenn du mit dem Malen aufhörst, wirst du todunglücklich werden“, warnte sie eindringlich.

„Wenn nicht, werde ich verhungern!“, erwiderte er geknickt.

„Märchen sind dein Leben!“, versuchte sie ihn zu überzeugen.

„Von wegen, mein Leben!“, reagierte Vincent gereizt und warf ihr einen verbitterten Blick zu. Es ärgerte ihn, dass sie Recht hatte, ohne ihn wirklich zu kennen. Seinem Gefühl nach wusste er, dass es nicht richtig war, was er vorhatte. Aber sein Verstand befahl ihm, sich mit Monikas Angebot anzufreunden und neue Wege zu gehen. Daher meinte er verstockt: „Ich kann auch ohne Märchenbilder zu malen leben!“

„Kannst du nicht“, widersprach sie und konnte ihre Enttäuschung nicht länger vor ihm verbergen. „Hör doch in dich hinein, Vince! Märchen sind der Schlüssel zu deinem Glück. Sie sind die Sprache deines Herzens und die Nahrung deines Verstandes!“

„Davon kann mein Magen nicht satt werden!“

„Dein Magen vielleicht nicht, aber deine Seele“, erwiderte sie unnachgiebig. „Dort bleiben die Märchen kleben und bereichern dein Leben!“

„Pah, erleichtern mein Leben!“, verzog der junge Mann skeptisch sein Gesicht. „Und wieso merk’ ich nichts davon?“

„Weil du blind und nicht mehr Herr deiner selbst bist!“, erwiderte sie traurig.

„Genau deshalb habe ich beschlossen, wieder mein eigener Herr zu werden und meine Abenteuer als Künstler aufzugeben, um mich nach etwas“, er hielt kurz inne, „Einträglicherem umzusehen.“

„Mehr Geld führt nicht automatisch zu mehr Zufriedenheit, Vincent!“, versuchte sie ihm klar zu machen, egal wie sinnlos der Versuch auch sein mochte. „Das ständige Streben nach mehr macht dich auf die Dauer nicht glücklich, sondern lässt dich innerlich verkümmern und höhlt dich mit der Zeit nur aus. Ein Mensch ohne Ideale und Werte verliert den Boden unter seinen Füßen und ertrinkt im Sumpf der Sinnlosigkeit.“

Die Hartnäckigkeit und das Feuer, mit der das Mädchen argumentierte, gefielen ihm. Und noch mehr ihre Augen, die in der milden Herbstsonne wie zwei goldene Sterne leuchteten. Daher widerstrebte es ihm zutiefst, ihre Ideale mit dem Schwert der Realität zerstören zu müssen. Und einen Moment lang fühlte er sich wie jemand, der gleich ein wunderschönes, kostbares Bild vernichteten würde. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste ihr sagen, dass er sie nicht malen konnte, da seine Fähigkeiten als Künstler zu stümperhaft waren. Er holte tief Luft, die Worte lagen bereits auf seiner Zunge und – er konnte es nicht. Weil er ein Feigling war und davon abgesehen sein Stolz ein solches Eingeständnis nicht zuließ. Anstatt dessen brummte er verdrossen: „Bevor ich nach mehr Geld strebe, muss ich erst mal welches besitzen. Leider hat die Märchenmalerei bis jetzt nicht viel davon eingebracht!“

Seine Besucherin nahm die unterschwellige Gereiztheit in seiner Stimme wohl wahr, und wenn ihr auch nicht gefiel, was sie hörte, hätte sie doch besser auf die Worte achten sollen, die er nicht gesagt hatte.

„Sie hat dir sehr viel eingebracht“, widersprach sie ihm sanft. „Du willst es nur nicht sehen!“

„Ich will schon!“, sprang Vincent ärgerlich auf, aber da gibt es nichts zu sehen, weil Märchen Kinderkram, Lügengespinste und Schonräume für lebensfremde Träumer sind“, hörte er sich sagen und die Tatsache, dass er wie Monika klang, machte ihn beinahe krank.

„Das glaubst du genauso wenig wie ich!“, erhob sich seine Besucherin ebenfalls. „Märchen sind keine Schonräume für lebensfremde Träumer“, fügte sie überzeugt hinzu und ihre Miene drückte helle Empörung aus. Einen endlosen Augenblick lang standen der Maler und das Mädchen einander gegenüber und keiner wich dem lodernden Blick des anderen aus.

„Sie umgehen weder Schwierigkeiten noch Konflikte“, begann sie energisch. „Vielmehr zeigen sie, wie man mit Mut und Ausdauer, Hilfsbereitschaft und Rücksicht, Herz und Hirn seine Ziele erreicht und sein Leben zu einem … besseren macht. Der Mensch braucht Wegweiser, die ihm helfen, einen Sinn in seinem Tun zu finden, und Pfeiler, die ihn unterstützen, im Chaos seiner Gedanken und Gefühle Ordnung zu schaffen.“

„Als ob Märchen dazu in der Lage wären!“, meinte der Maler trotzig, und sein abweisender Blick ließ sie verstummen. Es entstand wieder ein drückendes Schweigen und er sah, wie abermals Tränen in ihren Augen schimmerten.

„Aber das sind sie!“, flüsterte sie verzweifelt. „Weil es dort und nur dort eine klare Trennung zwischen gut und böse, gerecht und ungerecht, richtig und falsch gibt. Das vermittelt Sicherheit und stärkt das Vertrauen in uns selbst und letztendlich auch ins Leben. Hör doch in dich hinein, Vincent, und vertrau auf deine Fähigkeiten!“

Wieder musste er ihr Recht geben, und das machte ihn nur noch wütender. Der Künstler wider Willen fühlte sich elend. Auf seinen Augenlidern schienen schwere Bleigewichte zu liegen, und er wünschte sich, an Ort und Stelle seinem Bedürfnis nach Schlaf nachgeben zu können, nur um gleich wieder zu erwachen und festzustellen, dass dies alles nur ein böser Traum war. Als er an sein Gespräch mit Monika dachte, wurde seine Gesichtsmiene noch finsterer. Was sie wohl dazu sagen würde, wenn er weiter der blieb, der er war? Vincent, der sympathische, aber leider erfolglose Maler von nebenan. Der junge Mann stieß hörbar die Luft aus. Er fühlte sich wie ein Tier in der Falle, ohne Hoffnung auf Entkommen. „Es ist zwecklos“, wisperte er und richtete wieder seine ganze Aufmerksamkeit auf das Mädchen. „Ich kann dich nicht malen, weil ich mit der Malerei aufgehört habe!“

Nun war es herausgewürgt und wie immer sie darauf reagieren mochte, würde er seine Meinung nicht ändern, egal wie hübsch sie war, egal wie flehentlich sie ihn bat. Das Mädchen rührte sich nicht. Wie zur Säule erstarrt, stand es da und ließ seinen Blick kurz in die Ferne schweifen. Doch was seine namenlose Besucherin sah, gefiel ihr nicht. Ihr Blick kehrte zu Vincent zurück. Sie wartete ein paar Augenblicke und hoffte, dass er seine Meinung ändern würde, doch Vincent tat ihr diesen Gefallen nicht. Beide sahen sich stumm an und schienen im Blick des anderen zu versteinern.

„Dann gehe ich jetzt wohl besser“, meinte sie nach außen hin gefasst, obwohl innerlich bereits die Tränen flossen. Mit einem Gefühl der totalen Niederlage senkte sie ihren Blick, da sie unbedingt verhindern wollte, dass er merkte, wie sehr sie seine Abweisung traf, doch dann schien sie es sich noch einmal zu überlegen und ihren Kopf schoss stolz nach oben.

„Märchen sind ein Geschenk, Vincent“, flüsterte sie kaum hörbar. Sie sind das größte Geschenk, das sich die Menschen gemacht haben; sie sind ihr Fenster zum Glück!“

Mit diesen Worten verließ sie ihn, und der junge Mann sah ihr mit hängenden Schultern nach. Er hatte weder eine Ahnung, in welch großer Gefahr sie sich befand noch welch furchtbaren Ängsten und Nöten sie ausgesetzt war.

„Märchen sind dein Leben!“, hallte ihre Stimme gespenstisch in seinem Kopf wider, während er krachend die Tür zu seinem Atelier ins Schloss fallen ließ. Er war müde und fühlte sich schlecht.

„Ich schulde ihr nichts!“, sprach er zu sich selbst. „Ich kenne sie nicht einmal!“ Doch bei dem Gedanken an das Mädchen mit den goldenen Augen zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen, da er ein schlechtes Gewissen hatte und nur zu gut wusste, dass er sich seiner Besucherin gegenüber nicht richtig verhalten hatte. Er hätte zumindest versuchen können, sie zu malen. Oder so tun können, als würde er es versuchen. Dann hätte sie bestimmt schnell eingesehen, dass er nicht der geniale Künstler war, für den sie ihn hielt. Als Vincent sein Atelier betrat, sah er sich geistesabwesend um, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Alles befand sich an seinem gewohnten Ort: seine Leinwände, Pinsel und Malkästen, die Staffeleien, Unmengen von Papier und Blöcken sowie viele verschiedene Arten von Farben in verschieden großen Tuben und Dosen. Alles war wie immer und doch ein wenig anders. Seltsamerweise fühlte er sich nicht willkommen in seinem Atelier, obwohl es auf der Welt keinen Ort gab, an dem er sich lieber aufhielt. Doch in diesem Moment war das nicht so. Konnte es sein, dass ihm in seinen eigenen vier Wänden eine feindliche Atmosphäre entgegenschlug? Vincent schüttelte den Kopf. „Du bist übermüdet!“, suchte er nach einer vernüftigen Erklärung für das mulmige Gefühl in seinem Bauch.

„Da ist er ja, der Lümmel!“, hörte er plötzlich jemanden sagen, obwohl sich außer ihm keiner im Raum befand. Vincent drehte sich rasch um, konnte jedoch niemanden entdecken.

„Ich halluziniere“, dachte er verstört, schloss schnell seine Augen, und hoffte, dass die Stimme wieder verschwand. Das tat sie auch. Aber zu seinem maßlosen Entsetzen vernahm er eine andere.

„Behandelt man so eine Dame in Not?“, wurde er scharf zurechtgewiesen. „Schäm dich!“

„Rüpel!“, ertönte es von weiter hinter. „Flegel!“, von der anderen Seite. „Taktloser Banause!“ aus der Mitte. Und jemand meinte sogar: „Dem müsste mal einer anständige Manieren beibringen!“

Plötzlich waren da hunderte von Stimmen. Vielleicht sogar tausende. Über Vincent brach ein regelrechtes Donnerwetter herein. Er brauchte einen Moment, um einen klaren Gedanken zu fassen. Doch je länger er überlegte, wurde dem jungen Mann klar, dass an einen vernünftigen Gedanken nicht zu denken war.

Ihr seid alle nicht echt!“, rief er den Stimmen im Raum zu, worauf es kurz still wurde.

„Nicht echt!“, brüllte die erste Stimme zurück.

Vincent wusste besser als jeder andere, dass diese Stimmen nur eine Folgeerscheinung seiner Übermüdung waren, da er sich ja ansonsten in einem ... Unfähig, den Gedanken zu Ende zu bringen, rief er: „Ihr seid nicht echt, sondern nur Einbildung meiner Fantasie!“

„So“, konterte der Tenor. „Einbildung meinst du. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise bist du hier der Eingebildete und wir die Wirklichkeit!“

Unsicher, was die Stimme ihm damit sagen wollte, erwiderte Vincent: „Dann zeig mir doch, wie wirklich du bist!“

„Nichts leichter als das, Vincent!“, kündigte der Angesprochene an. „Jungs! Ich glaube der Rohling hier hat eine Lektion verdient!“

„Ich bin kein Junge“, vernahm Vincent die feine Sopranstimme, die er schon gehört hatte.

„Ist ja nicht deine Schuld“, meinte der Tenor trocken, während er einen Blick nach hinten warf. „Also dann, Tuben und Dosen, zeigen wir dem neunmalklugen Grobian, wie echt wir wirklich sind!“

Flugs flogen unzählige Farbenkleckse durch die Luft, und es dauerte nicht lange, bis Vincent seiner Farbenpalette ernsthafte Konkurrenz machte. Zu seinem Entsetzen und zur Freude seiner Widersacher stand er mitten im Raum und bot eine ausgezeichnete Angriffsfläche für ihre Offensive. Rote, grüne, blaue, gelbe, orange, violette, braune und schwarze Farbpatzen flogen dem jungen Mann von allen Seiten entgegen und ein karmesinroter Klecks landete sogar – klatsch – auf seiner Nase, obwohl er die Hände schützend vor sein Gesicht hielt.

„Aufhören! Hört auf!“, flehte Vincent seine Farben an und zog schnell ein weißes Taschentuch aus seiner voll geklecksten Hose, um sich zu ergeben.

„Schon besser“, meinte die Tenorstimme gnädig, worauf der Klecksregen vorerst eingestellt wurde.

„Was … was wollt ihr von mir?“, fragte Vincent eingeschüchtert und fühlte zahllos unsichtbare Augen wie Rasierklingen in seinem Rücken.

Wir wollen gar nichts!“, erwiderte die erste Stimme. „Aber Farbenfein braucht deine Hilfe. Sofort!“

„Farbenfein?“, wiederholte der junge Maler verwundert und verstand gar nichts. „Wer soll das sein?“

„Na, das Mädchen, das heute bei dir war!“, wurde ihm zugerufen.

„Woher wisst ihr von ihm?“

„Das wissen sie von mir!“, teilte die erste Stimme mit und Vincent sah, wie ein Pinsel mit violettem Holzstiel, kurzer Quaste und weißen Naturborsten rasch sein linkes Hosenbein und Hemd hinaufkletterte, um es sich auf seiner rechten Schulter gemütlich zu machen.

„Von Pilobolus, deinem Lieblingspinsel.“

„Und von mir, Filomena, deiner Feder“, trällerte die weibliche Sopranstimme, die einer zierlichen, vergoldeten Zeichenfeder gehörte, welche schwungvoll auf Vincents Zeichenbrett hüpfte, wo sie elegant Platz nahm.

„Und mir“, brummte eine tiefe Bassstimme.

„Uuund duuu hast natürlich auch einen Namen“, stammelte Vincent und widerstand dem inneren Drang, das Atelier fluchtartig zu verlassen.

„Selbstverständlich, ich bin Barock, dein Zeichenblock.“

„Barock?“, wischte sich Vincent ungläubig mit dem Taschentuch über seine mit Farbklecksen übersäte Stirn. „Wie die Kunstepoche?“

„Genau!“

„Jetzt unterhalte ich mich doch tatsächlich mit meinem Zeichenblock“, stellte Vincent sichtlich schockiert fest und zwang sich ruhig zu bleiben. „Ich glaub’, mir fliegt gleich die Palette weg!“, dachte er vezweifelt und strich sich mit einer Hand durch das von den vielen Farbspritzern völlig verklebte Haar. Durch das Fenster fiel sanftes Herbstlicht auf sein Gesicht, doch der junge Mann bemerkte es nicht. Fieberhaft versuchte er zu verstehen, was um ihn herum vor sich ging, doch es gab dafür keine einleuchtende Erklärung, außer, dass er nun endgültig seinen Verstand verlor.

„Du bist nicht verrückt, Vince!“, schien Pilobolus seine Gedanken zu erraten und blickte zu dem verzweifelten Bild auf, das der junge Maler bot. Dunkle Ringe belagerten seine Augen und eine tiefe Falte grub sich unbarmherzig in seine Stirn.

„Wie beruhigend, das von meinem Malpinsel zu hören “, dachte Vincent sarkastisch und sah Pilobolus verstört an.

„Du hast nur ein wenig das Ziel aus den Augen verloren!“, fuhr Barock fort. „Daher haben wir beschlossen, dir ein wenig“, er räusperte sich kurz, „Entwicklungshilfe zu leisten!“

Obwohl der junge Maler sich ernsthaft bemühte, seinen aufkommenden Ärger zu unterdrücken, gelang es ihm nicht.

„Wie aufmerksam!“, fuhr er seinen Zeichenblock an. „Zum Glück bin ich auf eure … äh … Entwicklungshilfe nicht angewiesen, weil ich mir meine Richtung selber aussuche, und wenn wir nun alle wieder so tun könnten, als wärt ihr die Farben und ich der Maler, wäre ich euch zu großem Dank verpflichtet!“

„Geht nicht!“, erwiderte Pilo fransig und seine Stimme durchdrang Vincents Bewusstsein wie eine misslungene Zeichenlinie. Der junge Maler sah den Pinsel verständnislos an und sein Ärger verwandelte sich augenblicklich in hellen Zorn.

„Wieso nicht?“

„Weil Farbenfein in großer Gefahr ist!“, beantwortete Filomena seine Frage, und auch ihre spitzen Gesichtszüge waren mittlerweile vor Ärger dunkel gefärbt.

„Unsinn!“, hielt ihr Vincent entgegen. Die kleine Zeichenfeder schloss darauf kurz ihre Augen, als wollte sie Kraft sammeln, um Vincent gebührend zu antworten.

„Farbenfein wird in Tristesse gefangen gehalten“, teilte sie ihm so ruhig wie möglich mit. „Wenn es nicht bald gelingt, sie zu befreien, wird sie für immer verblassen. Und Kolorien mit ihr.“

„Das ist ja heiter!“, setzte Vincent an. „Dann erklär mir doch bitte, wie sie es heute in meinen Garten geschafft hat, wenn sie sich angeblich irgendwo in Gefangenschaft befindet!“

„Das, was du heute gesehen hast, war nicht sie!“, beantwortete Barock seine Frage. „Das war nur ein Bild von ihr. Eine Projektion, welche sie bestimmt unmenschliche Kräfte gekostet hat. Bedauerlicherweise umsonst!“

Vincent sah seinen Zeichenblock leicht verwirrt an. Seine Worte hatten ihn getroffen, obwohl er nicht genau hätte sagen können warum, und die Tatsache, dass er dem Mädchen seine Bitte abgeschlagen hatte, drückte wie eine Tonne auf ihn nieder. Der Maler holte tief Atem. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an.

„Ich kann euch nicht helfen, da ich mit meinen eigenen Problemen fertig werden muss“, gab er zerknirscht zu.

„Du kannst sie retten! Du musst sie retten!“, rief Pilobolus, „dann wird sie einen Weg finden, dir zu helfen!“

„Ich kann nicht!“, senkte Vincent seinen Blick und erinnerte sich mit schmerzlicher Deutlichkeit an ihre traurigen, goldenen Augen, denen er seine Hilfe verweigert hatte. „Leben heißt bezahlen, und daher habe ich mit dem Malen aufgehört, weil ich damit nicht meine Rechnungen bezahlen kann.“

„Was du dir vormachst, macht dir nicht so schnell einer nach!“, rief Pilobolus impulsiv. „Leben heißt in erster Linie glauben, Vincent, glauben an sich selbst! Hab’ Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten und komm mit uns!“

„Komm schon, Vincent!“, meldete sich wieder Filomena zu Wort. „Vergiss einen Moment lang, dass du ein Mensch bist und zeige Herz!“

„Gib dir einen Ruck!“, stimmte ihr der Zeichenblock zu. „Überwinde deine versteinerten Schichten egoistischer Selbstbezogenheit und komm mit nach Kolorien!“

„Kolorien?“, fragte Vincent leise nach. „Was soll das sein?“

„Kolorien ist das Land der Farben, das von Farbenfein behütet wird“, erklärte die Feder.

„Du meinst, sie ist so eine Art Königin?“, fragte Vincent nach.

„Nein, sie ist mehr eine Gleiche unter Gleichen“, erläuterte Barock.

„Nur viel strahlender als die anderen“, meinte Pilobolus schwärmerisch. „Es gibt kein bezaubernderes und leuchtenderes Geschöpf als sie“, schwärmte der Pinsel. „Sie vereinigt Licht und Farbe in unvergleichlicher Harmonie, und jeder, der sie sieht, muss sie einfach lieb haben. Doch der hinterhältigen Hexe Monotonia und ihren Grauschatten ist es gelungen, unsere Farbenfein mit List und Tücke gefangen zu nehmen und so die Herrschaft in Kolorien an sich zu reißen. Daher brauchen wir deine Unterstützung, Farbenfein aus ihren Fängen zu malen! Wirst du uns helfen, Vincent, oder die Hüterin der Farben ihrem Schicksal überlassen?“

Der junge Maler zögerte einen Moment lang mit seiner Antwort. Seit er die unbekannte Schöne auf dem Markt gesehen hatte, war sein Leben völlig aus den Fugen geraten, und sein Verstand schien keiner Logik mehr zu folgen. Er kratzte sich schnell am Hinterkopf und bemühte sich, seine innere Unsicherheit zu verbergen.

„Ich bin kein herzloses Ungeheuer, das einem Mädchen in Not seine Hilfe verweigert“, versuchte er sich zu verteidigen. „Gern würde ich eurer ... äh ... Farbenfein helfen, wenn ich es könnte. Aber ich kann es mir nicht leiste zu verreisen, da ich kein Geld habe.“

„Geld? Was ist denn das?“, wollte Filomena wissen.

„Das ist die Knete, mit der man die anderen weich bekommt!“, erhielt sie prompt zur Antwort.

„Aber Knetmasse hast du doch mehr als genug in deinem Atelier“, erwiderte die zierliche Zeichenfeder kopfschüttelnd, da sie nicht verstand, worauf der junge Mann anspielte. Dafür verstand sein Zeichenblock.

„Geld ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr!“, warnte ihn Barock. „Lass dich nicht von dem versklaven, was dich nicht glücklich macht, Vincent! Gib den Glauben an dich nicht auf! Du musst ein begabter Maler sein, sonst hätte Farbenfein dich niemals um Hilfe gebeten!“

„Von wegen begabt!“, stieß der junge Mann verächtlich hervor. „Warum verkaufe ich dann keines meiner Bilder, hm, wenn ich ein so großes Genie bin? Vielleicht, weil ich nur ein hoffnungsloser Fanatst bin, der einem Traum hinterher jagt, ohne die geringste Chance, ihn jemals einzuholen!“

„Es gibt kein großes Genie, ohne einen Schuss Verrücktheit!“, warf Pilobolus ein. „Das ist übrigens nicht auf meinen Borsten gewachsen, sondern stammt aus Aristoteles’ Feder.“

„Mag ja sein, dass ich ein wenig überdreht bin!“, räumte Vincent mit einer Spur von Bitterkeit in seiner Stimme ein. „Aber noch lange nicht so manoli, dass ich ein Paar Dosen, Pinsel und Tuben in ein Land folge, das nur in meiner Einbildung existiert. Ich kämpfe nicht um meine Fantasie!“

„Wer um seine Fantasie nicht kämpft, der verdient sie nicht!“, widersprach der Borstenpinsel bestimmt. „Und damit wir uns richtig verstehen: Jeder begreift Fantasie so, wie er sie verdient!“

„Wie er sie verdient?“, wiederholte Vincent und sah seinen Pinsel fassungslos an. „Wie kannst du es wagen, mir so etwas an den Kopf zu werfen!“, brach es aus ihm heraus, und er trommelte mit seinen Fingern aufgeregt gegen seinen Oberschenkel.

„Wie kannst du es wagen, deine künstlerischen Fähigkeiten zu verleugnen und Farbenfein zu erzählen, du hättest mit der Malerei aufgehört!“, konterte Pilobolus nicht minder aufgebracht.

„Aber das habe ich!“, rief Vincent außer sich.

„Hast du nicht“, wurde der Pinsel auch laut. „Es wird höchste Zeit, dass du das endlich einsiehst.“

„Ich kann eurer Farbenfein nicht helfen!“, gab Vincent mit entschlossen nach vor geschobenem Kinn zurück. Seine Weigerung schien den Pinsel jedoch nur noch mehr anzustacheln.

„Doch du kannst!“, erwiderte er entschieden. „Du musst es nur wollen. Wir sind deine letzte Chance, Farbenfein zu retten! Komm mit uns!“

„Wohin?“

„Nach Kolorien!“

„Nach Kolorien?“, wisperte Vincent unsicher.

„Nach Kolorien!“, lockte Filomena mit sanfter Stimme.

„Wie komme ich dorthin?“, erkundigte sich der Künstler und erschauderte allein bei dem Gedanken daran.

„Nichts leichter als das“, meinte der Borstenpinsel und sprang auf. Einen Augenblick später kletterte er flink Vincents Hosenbein hinunter und hüpfte auf Barock zu.

„Blatt, bitte“, forderte er im Vorbeiflitzen den Zeichenblock auf und gab zwei Töpfen mit hellbrauner Acrylfarbe ein Zeichen, ihm zu folgen. Eine Sekunde später malte er in Windeseile eine Türe auf das Zeichenblatt, die zu Vincents maßloser Überraschung immer größer wurde und sich vor seinen Augen öffnete.

„Auf nach Kolorien!“, forderte der Borstenpinsel alle Anwesenden auf. Nach diesem Aufruf verließen sämtliche Stifte und Farben, Tuben und Dosen, Federn und Federhalter, Pinsel und Pinseletuis, Staffeleien und Zeichenbretter, Keilrahmen und Malplatten, kurzum, alles was nicht niet- und nagelfest war, in Reih und Glied Vincents Atelier.

„Auf nach Kolorien!“, wurde dem Pinsel wieder und wieder geantwortet, und es erhob sich ein tosender Gesang, den Vincent Zeit seines Lebens nicht mehr vergessen sollte:

„Auf nach Kolorien, Farbenfein befreien!

Auf nach Kolorien, Grauschatten vertreiben!

Wir stellen uns dem Schattentanz,

verteidigen Leuchtkraft und Brillanz,

erobern unser Land zurück,

Teil für Teil und Stück für Stück.

„Niemand wird das Licht bezwingen“,

hörte man die Farben singen.

„Auf nach Kolorien, Grundfarben nach vor!

Auf nach Kolorien, folgt ihnen durchs Tor!

Wir steigen auf die Barrikaden!

Trotzen allem Grau und Faden!

Werden geschlossen protestieren

und gegen Monotonia rebellieren.

Die Hexe hält das Farbenlicht geknechtet.

Deshalb wird sie von uns entrechtet.

Auf nach Kolorien! Farbenfein befreien!

Auf nach Kolorien! Grauschatten vertreiben!“

So sangen sie und zogen fort,

an einen kunterbunten Ort,

den nie zuvor ein Mensch geseh’n,

nur Vincent durfte mit ihnen geh’n.

Der Märchenmaler

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