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3 Kolorien

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„Eine Reise ist ein vortreffliches Heilmittel für verworrene Zustände.“

Franz Grillparzer, österreichischer Dichter und Dramatiker (1866-1944)

Vincent marschierte mit seinen Farben und seinem Malzubehör durch das von Pilobolus gemalte Tor und verlor augenblicklich das Gleichgewicht. Einen Moment lang kam es ihm vor, als schwebte er durch etwas, das ihn an Herbstnebel erinnerte, silbrig glänzte und ihn schützend wie einen Kokon umgab. Überall roch es nach frischer Farbe, Öl, Kreide und Buntstiften. Der junge Mann hatte keine Ahnung, wo er sich befand und wurde unversehens nach oben gehoben. Und das ziemlich schnell. Als sich der Nebel allmählich lichtete, schlug Vincent der Länge nach auf. Er wollte aufstehen, doch das erwies sich als schwierig, und nach mehreren kläglichen Versuchen war der Maler froh, dass ihm sein Malpinsel half.

„Danke“, lächelte er und ergriff dessen Hand.

„Willkommen in Kolorien!“, begrüßte ihn Pilobolus freundlich. Vincent sah sich neugierig um. Sein erster Blick fiel auf einen ins Sonnenlicht getauchten Teich, der sich sanft an die ihn umgebende Erde schmiegte. Der Maler befand sich am Fuße eines mächtigen Baumes, der wie eine Riesenqualle aussah und an dessen Wurzeln eine Quelle entsprang, die eigenwillig gewunden ihren Weg hinunter zu einem in Türkis schimmernden Bächlein gluckste und gurgelte. Bei genauerem Hinsehen entdeckte der Maler mehrere Weiher und Tümpel und der Boden um ihn herum war von einer bunt schillernden Kruste überzogen und funkelte, als wäre er in Diamantenstaub getaucht worden. Etwas Schöneres hatte Vincent in seinem ganzen Leben nicht gesehen. Und diese Farben. Diese Klarheit. Diese Leuchtkraft und Brillanz. Die Quellenlandschaft vor ihm wurde von sanft geformten Hügeln umrahmt und wirkte wie ein mystisches Bild, das von ungewöhnlich farbigem Licht durchflutet wurde, sich leicht unscharf vom silbernen Rand entlegener Berge abhob und abwechselnd ins Goldene, Orangerot oder Dunkelrot spielte und an die Farben einer untergehenden Sonne erinnerte, die sich nach einem langen Tag nach der Stille der Nacht sehnte.

Unvermittelt vernahm Vincent ein Blubbern neben sich wahr und wurde von Pilobolus schnell zur Seite gezogen. Keinen Moment zu früh, denn neben dem Maler schoss eine gigantische, königsblaue Farbfontäne in den Himmel. Einen Moment später wölbte sich ein goldener Farbenspiegel in unmittelbarer Nähe und schickte abermals einen mächtigen Strahl nach oben. Winterweiß, Zyklamenlila und Safrangelb folgten innerhalb weniger Sekunden. Der Maler beobachtete sprachlos das beeindruckende Schauspiel und traute seinen Augen nicht.

„So intensive Farben habe ich noch nie gesehen!“, rief er andächtig. „Das ist ... fantastisch!“

„Das ist es!“, bestätigte Pilobolus lächelnd. Unsere Springfarbenquellen sind einzigartig und gehören zu den wenigen Flecken in Kolorien, die von Monotonia und ihrer Bande noch nicht zerstört wurden. Leider gibt es nicht mehr viele davon, da das Land unter ihrer Herrschaft immer mehr dem Grau gleich gemacht wird. Wenn es nicht bald gelingt, ihr Einhalt zu gebieten, wird auch dieser Ort von ihren Verwüstungen nicht verschont bleiben. Die Quellen werden nach und nach versiegen, ihre Farben verblassen und schließlich von den Grauschatten aufgesaugt werden.“

„Klingt nicht gut!“, rief Vincent, dem Pilobolus‘ Niedergeschlagenheit nicht entging.

„Klingt schrecklich“, stimmte ihm Filomena traurig zu, „daher brauchen wir deine Hilfe, um Farbenfein so schnell wie möglich aus den Fängen der Grauen Hexe und ihrer Grauschatten zu befreien.“

„Was sind Grauschatten?“, erkundigte sich der Maler und sah seine Feder neugierig an.

„Grauschatten sind Grauen erregende Geschöpfe, die im oberen Teil Fledermäusen gleichen und im unteren Teil auf zwei Hühnerbeinen stehen. Sie sind blitzschnell, unersättlich und ernähren sich ausschließlich von Zeichnungen, denen sie jedes bisschen Farbe aussaugen.“

„Fledermäuse auf Hühnerbeinen?“, schmunzelte Vincent und schüttelte ungläubig seinen Kopf.

„Das hört sich vielleicht lustig an, ist es aber nicht!“, erwiderte Filomena traurig. „Grauschatten sind berüchtigt und gefürchtet, und in ihrer Unersättlichkeit werden sie nur von den Farbenfressern übertroffen, die etwas größer sind und schmuddeligen Zottelbären ähneln, mit dem Unterschied, dass sie auf Ochsenbeinen gehen. Wo immer sie auftauchen, entfärben sie jeden Flecken Farbe und hinterlassen alles, was sich ihnen in den Weg stellt, grau und trostlos.“

Die Vorstellung von verfilzten Zottelbären auf Ochsenbeinen ließ Vincent unwillkürlich frösteln und er biss sich auf seine Unterlippe, die in Kolorien etwas seltsam schmeckte. Fast gegen seinen Willen fragte er: „Wer ist Monotonia?“

„Ihre Gebieterin, der sie bedingungslos gehorchen“, wurde der Maler von seinem Zeichenblock aufgeklärt. „Wir wissen nicht viel über die graue Hexe, bis auf dass sie jede Art von Farbe abgrundtief hasst. Mit falscher Freundlichkeit und Heimtücke ist es ihr gelungen, sich das Vertrauen von Farbenfein zu erschleichen und mit Hilfe von der da oben“, Barock zeigte wütend in Richtung Sonne, „hat sie unsere Hüterin der Farben nach Tristesse gelockt und dort gefangen genommen.“

„Was hat Monotonia nun vor?“, wollte Vincent wissen, während sein Blick von seinem Block wieder zu seiner Feder wanderte.

„Monotonia hat unsere Sonne beschwatzt unterzugehen und ihr versprochen, sie beim nächsten Aufgang zum mächtigsten Stern aller Zeiten zu machen.“

Dass eine Sonne unterging, erschien Vincent nicht sonderlich bösartig, deshalb meinte er mit der Schulter zuckend: „Ein Sonnenuntergang ist nichts Ungewöhnliches. Sonnen gehen unter. Das ist ganz normal!“

„Bei uns nicht!“, rief Filomena und in ihren Augen standen Tränen der Verzweiflung.

„Bei euch nicht?“

„In Kolorien geht die Sonne niemals unter!“, ließ Filomena ihn wissen. Und wenn sie untergeht, geht ganz Kolorien mit ihr unter.“

„Aha“, warf Vincent seiner Feder einen leicht ratlosen Blick zu und ließ sich die Bedeutung ihrer Worte kurz durch den Kopf gehen. „Sofern ich richtig verstehe, will Monotonia Kolorien vernichten, indem sie die Sonne zum Untergehen bewegt.“

„So ist es“, erwiderte Filomena verbittert und sah zu ihm verzweifelt auf.

Vincent runzelte seine Stirn und schüttelte verständnislos den Kopf. Wie konnte jemand nur einen so wunderbaren Ort wie die Springfarbenquellen vernichten wollen?

„Deshalb sind wir hierher, um ihren Plan zu vereiteln“, gab sich Pilobolus kämpferisch. „Sie zerstört unsere Farben, unser Licht, unser Land und daher werden wir sie für alles Graue, das sie uns angetan hat, zur Rechenschaft ziehen.“

Vincent schwieg einen Moment. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte er ein paar Schritte auf den Teich vor ihm zu, um einen Blick hineinzuwerfen. Der junge Künstler sah auf die ruhige, grünlich schimmernde Wasseroberfläche unter ihm und betrachtete gedankenverloren sein Spiegelbild, mit dem irgendetwas nicht stimmte. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

„Ich bin eine Zeichnung!“, stellte er zu seinem maßlosen Entsetzen fest und wich einen Schritt zurück. Ich bin eine Zeichnung! UND NOCH DAZU EINE ZIEMLICH MIESE!“ Betroffen drehte er sich schnell um und suchte in Pilobolus’ Augen nach einer Erklärung für die Katastrophe, die von der Wasseroberfläche widerspiegelt wurde.

„Oh, oh, das habe ich dir leider vergessen zu sagen, dass du zu einer Zeichnung wirst, wenn du mit uns durch das Farbentor gehst?“, erwiderte sein Borstenpinsel scheinheilig.

„Mehr fällt dir nicht dazu ein!“, rief Vincent wütend und sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich augenblicklich. Ungläubig drehte er sich wieder um und machte einen Schritt nach vor, um nochmals einen skeptischen Blick auf sein Spiegelbild zu werfen, als könne er nicht glauben, was er da unter sich sah.

„Wieso sehe ich so schlecht aus?“, rief er empört.

„Du siehst dich so, wie du dich siehst!“, hörte er Barock neben ihm sagen.

„Möchte nur wissen, warum du so gut aussiehst“, gab Vincent grimmig von sich, während er seinen Zeichenblock neidisch im Teich betrachtete.

„Habe eben eine bessere Meinung von mir“, lächelte der Block entschuldigend und ignorierte seine düstere Miene.

„Eine bessere Meinung?“, erwiderte der junge Mann mit deutlichem Groll in der Stimme. „Und das muss ich mir von einem Zeichenblock sagen lassen!“

„Nimm’s nicht tragisch, Vince!“, versuchte Pilo ihn zu trösten, der mittlerweile auch neben dem jungen Mann stand. „Mag dir das Bild auch nicht gefallen, heißt das noch lange nicht, dass es so bleiben muss. Es liegt allein in deiner Macht, es zu ändern!“

Mit Unbehagen betrachtete der Maler sein Spiegelbild im Wasser. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er eine dermaßen stümperhafte Abbildung gesehen, und er suchte nach Gemeinsamkeiten mit dem sonderbaren Fremden, der ihm mit zusammengekniffenen Augen, abgespannten Gesichtszügen und verklebtem, strähnigem Haar entgegenstarrte. Was hatte er nur angestellt, um so ein Bild von sich zu haben? Vincent fand, dass er schrecklich aussah und zum ersten Mal seit seinem Gespräch mit Monika gestand er sich ein, dass es ihm nicht sonderlich gut ging. Langsam verstrichen die Augenblicke, und der Maler fühlte sich völlig fehl am Platz. Wie ein Fremder im eigenen Leben.

„Ich werde mir jetzt die Farbe aus meinem Gesicht und den Haaren wischen und dann von hier verschwinden“, nahm er sich vor, da er das Gefühl hatte, langsam den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er bückte sich, um mit einer Hand Wasser aus dem Teich zu schöpfen und fuhr einen Augenblick später erschrocken zurück.

„Habt ihr das gesehen?“, fragte Vincent fassungslos. „Die Pfütze hat nach mir geschnappt!“ Entsetzt wanderte sein Blick von Barock zu Pilobolus.

„Ja, die ist nicht ganz ungefährlich!“, pflichtete ihm der Pinsel bei. „Und für ihre Unersättlichkeit bekannt. Sieh dich bloß vor, denn sie hat eine Vorliebe für lausige Zeichnungen!“

„Find ich nicht witzig!“, ärgerte sich der junge Mann.

„Ist es auch nicht!“, erwiderte sein Block ernst. „Das hier ist kein Erholungsurlaub, Vince, sondern lebensgefährliche Wirklichkeit, und ich rate dir dringend zu mehr Vorsicht, da in Kolorien vieles anders ist als in deiner Welt.“

Der Maler glaubte sich verhört zu haben. Das fehlte ihm noch, dass ihm sein Zeichenblock auch noch unerbetene Ratschläge erteilte und damit völlig aus der Fassung brachte.

„Genau deswegen möchte ich wieder nach Hause!“, fuhr der junge Mann Barock wütend an. „SOFORT! Ich kann es nämlich nicht ausstehen, wenn wildfremde Weiher nach mir schnappen und im Übrigen würde ich gerne wieder so aussehen, wie ich aussehe! Wie ein Mensch aus Feisch und Blut. Und nicht wie ein Stück Papier für den Mülleimer.“

„Als Mensch siehst du auch nicht viel besser aus!“, nahm ihm Filomena jede Illusion, „und davon abgesehen kann dich nur Farbenfein in deine Welt zurück schicken.“

Die Bedeutung ihrer Worte ließ den Märchenmaler über seine Beine stolpern, und beinahe wäre er in den Teich gefallen, wenn ihn sein Block nicht in letzter Sekunde davor bewahrt hätte.

„Moment mal, Moment mal!“, stammelte Vincent wie betäubt und starrte Filomena ungläubig an. „Was … was soll das heißen?“

„Soll heißen“, begann der Zeichenblock, dem die Reaktion der kleinen Feder auf Vincents verärgerten Gesichtsausdruck nicht entgangen war, „dass dich nur Farbenfein wieder durch das Farbentor in deine Welt bringen kann.“

Der Maler schwieg einen Augenblick und senkte seinen Blick.

„Warum habt ihr mir das nicht gesagt, bevor ich mit euch hierher gekommen bin?“, sah der junge Mann Pinsel, Feder und Block vorwurfsvoll an.

„Weil du uns nicht gefragt hast!“, erwiderte Filomena. Sie konnte seinen Vorwurf nicht verstehen, da er ohnehin nichts an der Situation änderte. Vincent war froh, dass er von Barock noch gestützt wurde, denn auf sich alleine gestellt, hätten seine Beine bestimmt unter ihm nachgegeben und er wäre doch noch in den Teich gefallen. In seinem Inneren tobte ein Kampf. Enttäuschung, Ärger und Angst schienen ihn zu überwältigen, und er fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durch sein verklebtes Haar.

„Weil ich euch nicht gefragt habe“, schnaubte er, „oder weil ich sonst niemals hierher gekommen wäre?“

„Bist du böse?“, wollte Pilobolus wissen.

„Nein“, schüttelte Vincent seinen Kopf. „Ich bin fuchsteufelswild und fühle mich betrogen und hintergangen.

„Ich werde es mir merken und …“

„Und?“

„Und es kommt nie wieder vor!“, versprach der Malpinsel feierlich und warf Vincent einen reuevollen Blick zu.

„Was machen wir nun?“, warf Barock einen Blick in die Runde.

„Als erstes werde ich meine Haare und Kleidung säubern, weil ich nicht länger wie Struwwelpeters Abziehbild aussehen möchte!“, erklärte Vincent und deutete auf seinen Kopf, und das, was einmal sein Hemd gewesen war.

„Aber bitte nicht mit dem Wasser des Teiches!“, warnte Filomena.

„Das werde ich erledigen!“, kündigte der Borstenpinsel hilfsbereit an und sah sich schnell nach geeigneten Farben um.

„Nicht so schnell!“, hob Vincent schützend seine Hände über seinen verklecksten Haarschopf. „Hast du so etwas schon mal gemacht oder tust du es nur aus Selbstmitleid, um meinen Anblick nicht länger ertragen zu müssen?“, verengte er seine Augen.

„Kannst du dir aussuchen, Vince!“, meinte der kleine Borstenpinsel frech und fügte grinsend hinzu: „Ich dachte, nur Mädchen wären eitel!“

„Lass das Denken schön bleiben!“, riet Filomena.

„Was willst du damit sagen?“, zischelte Pilobolus verschnupft.

„Dass sich Denken und Pinsel ausschließen!“, wurde die Zeichenfeder deutlicher.

„Schluss jetzt damit“, fuhr der Zeichenblock dazwischen. „Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns über Eitelkeiten auszulassen!“

Wenigstens darüber waren sich die vier einig.

„Trotzdem möchte ich meine Haare und Kleidung säubern, bevor wir uns dem Wichtigen widmen“, sagte Vincent bestimmt, „und angesichts der Tatsache, dass ich nun eine Zeichnung bin, wäre es vielleicht keine schlechte Idee, wenn Pilobolus …“

„Sag’ ich doch!“, fiel ihm der Borstenpinsel ins Wort, betrachtete eingehend Vincents verkleckstes Haar und hob eine Strähne in die Luft.

„Wie hättest du es denn gerne? Einmal Kürbis schälen ohne Augen ausstechen oder doch lieber klassisch à la Prinz Eisenscherz?“

„Nicht komisch“, platzte es aus Vincent heraus, und er schob widerwillig Pilobolus’ Arm von sich. Was machst du da überhaupt?“

„Ich studiere dich!“, erwiderte Pilobolus und tänzelte um den Maler herum.

„Muss ich mir Sorgen machen?“

„Nein. Ich überlege mir gerade, welche Farbe dein Haar hat.“

„Da gibt es nichts zu überlegen“, gab Vincent zurück. „Es ist schwarz.“

„Hmm!“, machte Pilobolus und bedachte Vincent mit einem unschlüssigen Blick. „Ich muss dir als Maler hoffentlich nicht sagen, dass schwarz nicht gleich schwarz ist!“

„Und ich muss dir Besserwisser hoffentlich nicht sagen, dass es schwarz, schwärzer, am schwärzesten nicht gibt!“, konterte Vincent schnippisch. „Entweder etwas ist schwarz oder es ist nicht schwarz!“

„Mag schon sein, dass es schwärzer und am schwärzesten nicht gibt!“, räumte Pilo ein, „doch es gibt sehr wohl Blauschwarz, Braunschwarz, Grauschwarz, Kohlschwarz und nicht zu vergessen – Kohlrabenschwarz!“

„Hört auf, hört auf!“, schlug Barock beide Hände über seinem Kopf zusammen. „Wenn die Sonne untergeht und wir bis dahin Farbenfein nicht aus ihrem Gefängnis befreit haben, dann wird es für immer dunkel in Kolorien, und es ist völlig egal, ob kohlschwarz oder kohlrabenschwarz, weil wir dann alle ausgelöscht sein werden!“

Vincent konnte nicht verhindern, dass er bei diesen Worten eine Gänsehaut bekam und mit unversehens kam ihm das Geplänkel mit Pilobolus ziemlich kindisch vor.

„Barock hat Recht!“, warf er dem Pinsel einen einlenkenden Blick zu. „Schaffe Ordnung in meinem Haar und meiner Kleidung, wie auch immer du es für richtig hältst, und dann machen wir uns schleunigst auf den Weg, um Farbenfein zu finden!“

„Gut“, erwiderte der Pinsel. „Ich werde es versuchen.“ Pinselflink eilte Pilobolus davon, um Vincent von seinen Klecksen zu befreien, wobei ihm die springenden Farbquellen mehr als genug Auswahl boten.

„Sein Haar ist schwarz wie Ebenholz“, rief ihm Filomena nach. Damit war der Streit endgültig beigelegt.

„Wie findest du’s?“, erkundigte sich Pilobolus nach erfolgreicher Arbeit und warf Vincent einen mehr als zufriedenen Blick zu. Vincent trat vor den Teich und blickte ins Wasser. „Gefällt mir!“, nickte er anerkennend. „Obwohl du meine Haarlänge etwas gekürzt hast!“, stellte er kritisch fest. Der junge Künstler betrachtete sein Gesicht im Wasser. Klare Linien, meergrün leuchtende Augen und ein freches Grübchen im Kinn schimmerten ihm entgegen und wurden von dunklen, schulterlangen Haaren eingerahmt, die leicht im Wind flatterten. Zum ersten Mal seit seinem morgendlichen Gespräch mit Monika fühlte er sich besser.

„Du hast Talent!“, lächelte er dem Borstenpinsel anerkennend zu.

„Ich weiß!“, schmunzelte Pilo zurück.

„Danke!“, seufzte Vincent erleichtert und freute sich über sein neues altes Bild, das die Teichoberfläche ruhig widerspiegelte.

„Ich stehe in deiner Schuld!“, murmelte der junge Mann mit verhaltener Stimme, und es schien, als blieben ihm die Worte im Halse stecken.

„Das tust du!“, stimmte ihm der Borstenpinsel zu.

„Können wir nun beraten, wie wir Farbenfein aus Tristesse befreien?“, wandte sich Barock an seine Gefährten.

„Vielleicht kann uns die Riesenameise helfen?“, schlug Vincent vor, als er am Horizont einen dunklen Fleck entdeckte, der sich rasant auf sie zu bewegte.

„Riesenameise?“, echote Pilobolus und war augenblicklich auf seinen Borsten.

„Ich glaube, das ist mehr als eine!“, verbesserte sich Vincent, während sein Blick fest auf den dunklen Punkt geheftet blieb. „Das ist nicht nur eine! Das sind ….VIELE!“

„Das sind keine Ameisen!“, rief der Borstenpinsel sichtlich erschrocken, während die Worte in seinem Hals steckenblieben, als er die großen Schatten entdeckte, die sich aus allen Richtungen näherten.

„Das sind ... das sind ... Farbenfresser!“, stammelte Filomena und ihre Augen weiteten sich angsterfüllt. „Wir haben zu lange getrödelt, und das ist mittlerweile in Kolorien sehr gefährlich geworden!“

Ihre Worte versetzten Vincent einen leichten Stich in der Brust, da er sich dafür verantwortlich fühlte.

„Ich hätte nicht mit euch hierher kommen dürfen“, machte er sich Vorwürfe. „Wenn wir Ärger bekommen, ist es ganz allein meine Schuld!“

„Nur nützt deine späte Einsicht keinem mehr!“, grummelte Pilo.

„Sei nicht so streng mit dir, Vince!“, versuchte ihn Barock aufzurichten, der dem jungen Mann seine Gewissensbisse im Gesicht ansah.

„Ich wollte das nicht …!“, versuchte Vincent sich zu entschuldigen.

„Wissen wir!“, erwiderte Filomena leise und drehte sich schnell wieder um, da sie ihm ihre Angst nicht zeigen wollte.

„Vielleicht sollte ich mit ihnen reden?“, bot der Maler an.

„REDEN!“, wirbelte Pilobolus um seinen Eichenstiel und starrte den jungen Mann fassungslos an.

„Ja“, meinte Vincent. „Immerhin bin ich nicht von hier, ein Mensch und deshalb als Schiedsrichter geeignet.“

„Er will mit ihnen reden!“, verdrehte der Borstenpinsel ungläubig seine Augen.

„Mit denen kann man nicht reden!“, erwiderte der Zeichenblock leise. „Die kommen, um alles zu entfärben, was sich ihnen in den Weg stellt. Und auf die Farbquellen haben sie es schon lange abgesehen!“

„Obwohl ich nicht glaube, dass sie wegen der Farbquellen hier sind!“, warf Filomena verzweifelt ein.

„Ich auch nicht!“, pflichtete ihr der Zeichenblock bei und sah besorgt zu den Hügeln hinauf, die mit grauschwarzen Patzen bereits übersät waren. Einen Moment lang herrschte ratloses Schweigen, und die Hilflosigkeit stand allen vier ins Gesicht geschrieben.

Die Luft erfüllte sich mit unheilvollem Knurren und Gejaule. Grauschwarze Zottelbären auf dunklen, kräftigen Ochsenbeinen näherten sich ihnen mit unglaublicher Geschwindigkeit, und es war nur noch eine Frage von Minuten, bis die ersten von ihnen die Farbquellen erreicht haben würden. Von allen Seiten strömten sie brüllend heran und erstickten jede Hoffnung auf ein Entkommen. Als ob die Situation nicht schon schlimm genug gewesen wäre, machte Pilobolus eine weitere unheilvolle Entdeckung.

„Es gibt noch eine schlechtere Nachricht!“, rief er atemlos und wandte sich schnell zu seinen Freunden um.

„Unmöglich!“, jammerte Filomena und sah Pilo verzagt an.

„Leider doch“, schluckte der Pinsel seine Angst hinunter. „Ich habe Monotonia gesehen. „Sie kommt persönlich, um uns auszulöschen!“

„Wie aufmerksam von ihr!“, zischte Barock und in Filomenas Augen spiegelte sich blankes Entsetzen.

„Wo ist sie?“, wollte Vincent wissen.

„Sie befindet sich auf Anhöhe der Farbweiden“, entgegnete Pilobolus und die Blicke seiner Begleiter folgten ihm augenblicklich.

Der Zeichenblock und die zierliche Zeichenfeder schwiegen betroffen und auch Vincent gab keinen Mucks von sich. Alle Augen waren auf die Farbweiden gerichtet und obwohl Vincent Monotonia nicht sehen konnte, spürte er instinktiv die drohende Gefahr, die unmittelbar in der Luft lag.

„Was für ein Empfang!“, stammelte der Zeichenblock und wischte sich mit zittriger Hand winzige Schweißperlen von seiner Stirn. Er hatte Angst, war dagegen machtlos, und das zermürbte ihn.

„Du musst schon etwas Besonders sein“, meinte Pilobolus in Richtung Vincent, „wenn sich die Graue Hexe persönlich die Mühe macht, dich gleich bei deiner Ankunft auszuradieren!“

„Nach einem Empfang sieht mir das aber nicht aus!“, erwiderte Vincent zögernd, während sein Blick wieder und wieder die Hügel hinaufwanderte, wo immer mehr und mehr dunkle Flecken wie aus dem Nichts auftauchten und sich zu großen Schatten formierten.

„Was nun?“, flüsterte Filomena. „Hat jemand eine Idee?“

Doch sie erntete nur Schweigen. „Was?“ Niemand!“, rief sie entsetzt.

„Uns bleibt gerade noch soviel Zeit, um uns voneinander zu verabschieden!“, starrte Pilo auf die vielen Flecke, die die Hügel bereits erobert hatten. Und zu Vincent meinte er: „Damit ist die Farbensafari leider beendet. Gern hätten wir noch mehr gezeigt, doch das Programm fällt gerade gräulich abscheulich aus dem Rahmen.“

„Still!“, funkelte ihn Filomena an und zog energisch an Vincents inzwischen wieder weißem Ärmel. „Es ist nicht ratsam, hier Wurzeln zu schlagen!“

„Stimmt“, pflichtete ihr der Zeichenblock bei. „Wir sollten uns unter den großen Farbenbaum stellen. Die Fontänen werden uns eine Weile die Grauschatten von den Linien halten und dann werden wir …“

„Ich sehe Wolkenberge!“, wurde er unvermittelt von Vincent unterbrochen, der am Himmel mächtige weiße Wolken entdeckt hatte, die sich ihnen ebenfalls rasant näherten. „Ist das gut oder schlecht für uns?“

„Wolkenberge?“, wiederholte Pilobolus, richtete seinen Blick nach oben und begann zu strahlen.

„Das ist besser als gut! Das, was du siehst sind keine Wolkenberge, sondern Regenbogenpferde!“, jubelte der Malpinsel, worauf auch Filomena und Barock schnell ihre Augen nach oben richteten. So sehr sich Vincent auch anstrengte, konnte er keine Pferde entdecken. Nur Wolken. Doch dann glaubte er unvermittelt flüchtige Umrisse von Nüstern zwischen dem Weiß zu erkennen. Und was für Pferde das waren! Hoch aufgerichtet, mit eindrucksvollen, schimmernden Flügeln, und unheimlich schnell in ihren Bewegungen hielten sie direkt auf die Springquellen zu.

„Du Glückspilz, Vincent!“, rief der Borstenpinsel, „behältst womöglich deine Farben zwischen den Linien und wirst gleich eine weitere Sensation Koloriens erleben“, lächelte er in freudiger Erwartung, doch sein Lachen erstarb augenblicklich als er in Monotonias aschgraues Gesicht blickte.

„Das glaube ich weniger“, herrschte ihn die Hexe an, „da ich den Möchtegern-Patzer sowie euch drei Scherenschnitte gleich ausradieren werde“, kündigte sie hämisch an.

Vincent erstarrte, weil er die Stimme hinter ihm zu kennen glaubte. In seinem Kopf geriet alles durcheinander, und es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder fing und umdrehte.

„Monika!“, rief er überrascht und der Anblick seiner Freundin ließ ihn kurz zusammenfahren. Irgendwie sah sie verändert aus. Ihr elegantes Äußeres hatte unheimliche Konturen angenommen, was durch den Kapuzenmantel und die grauen Haare, die darunter strähnig hervorlugten, noch verstärkt wurde. Ihr Blick ruhte auf ihm wie der einer Python auf ihrer Beute, und Vincent wusste, dass er ihr mehr oder weniger hilflos ausgeliefert war, da das jämmerliche Bild von ihm unter ihrem grauen Blick nicht mehr seinem Willen gehorchte.

„Monika!“, rief Vincent abermals kläglich. So sehr er es auch gewollt hätte, konnte er ihr nicht feindlich begegnen und hoffte auf eine friedliche Beilegung des Konfliktes, der sich spürbar zwischen ihnen auftürmte.

„Ich bin nicht Monika!“, fuhr ihn die Hexe unbeherrscht an, wobei ihre Augen böse aufblitzten.

„Komm schon, Moni“, meinte Vincent und machte einen Schritt auf sie zu. „Nur weil ich nicht in der Bank deines Vaters arbeiten will, musst du ja nicht gleich …“

„Keinen Schritt weiter!“, warnte sie ihn. „Fern vom Leibe bleibe mir, farbgetränktes Menschentier, hast nichts verloren in diesem Land, darum erstarr’ durch meine Hand!“

Vincents Farbe gefror ihm augenblicklich in seinen Linien. Trotzdem unternahm er einen weiteren Versuch, sich ihr zu nähern.

„Musst du doch nicht gleich wütend werden!“, beendete er seinen Satz.

Einen Moment später flog er durch die Luft und wurde zu Boden geschleudert. „Oder beleidigt sein!“, stammelte er. Leicht benommen versuchte er aufzustehen, doch das ging nicht, weil seine Beine ihm nicht gehorchten. Der Märchenmaler mobilisierte alle seine Kräfte, doch so sehr er sich auch bemühte, war jede Anstrengung vergebens. Er kam aus eigener Kraft nicht mehr hoch.

„Kratzer!“, zischte Monotonia nun in Richtung ihres treu ergebenen Schwammes, der gleich hinter ihr stand. „An die Arbeit! Hol jede Farbe aus ihm raus und lösch’ das Menschengeschmiere für immer aus!“

„Zu Befehl, Eure Grauenhaftigkeit!“, erwiderte der Schwamm diensteifrig und bewegte sich wie ein gefährliches Raubtier auf Vincent zu. Heftige Übelkeit stieg dem jungen Mann auf. Doch er hätte nicht sagen können, ob dafür das zu einer hässlichen Fratze verzerrte Gesicht des Schwammes oder die Hexe dafür verantwortlich waren. Wie auch immer befand sich Vincent in einer schwierigen Situation, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Gerade als Monotonias farbenfresslustiger Spießgeselle ansetzte, Vincent die Farbe aus den Linien zu saugen, spürte der Künstler etwas Nasses auf seiner Nase, das sich wie ein Regentropfen anfühlte und dem Schwamm sogleich Einhalt gebot.

„Zurück graues Geschmeiß!“, donnerte eine gewaltige Stimme von oben, und Vincent entdeckte über ihm einen riesigen Pferdekopf mit schönen, goldbraunen Augen und lustigen, zueinander gebogenen Ohrspitzen. Das Tier war ungewöhnlich groß und hatte eine auffallend lange weiße Mähne sowie große, schneeweiße Flügel, die sich wogend im Wind wiegten. Sein imposanter, kräftiger Hals ging fließend in den Rücken mit dichtem Fellkleid über, das gleißend im Licht der Sonne in den Farben des Regenbogens schimmerte.

„Huf Farballa!“, hörte Vincent Monotonia wütend kreischen.

„Ich sehe, du erinnerst dich an mich!“, wieherte das Pferd erhobenen Hauptes und breitete seine mächtigen Schwingen aus. Einen Augenblick später vernahmen Vincent und seine Gefährten das fröhliche Klatschen von lustigen, bunten Tropfen, die in allen Farben des Regenbogens auf die Erde fielen und kunterbunt im Boden versickerten. Bald darauf goss es ihn Strömen Farbe vom Himmel. Sobald Vincent von den Farbtropfen getroffen wurde, löste sich seine Erstarrung wie im Nichts auf und er konnte sich wieder bewegen.

„Rückzug! Farbenregen!“, riefen die Grauschatten wild durcheinander, stoben in allen Richtungen davon und verschwanden noch schneller, als sie gekommen waren.

„Das wirst du mir büßen!“, geiferte Monotonia rasend vor Zorn, während sie wie ihr Gefolge die Flucht ergriff. „Wir sehen uns!“, fletschte sie vor ihrem Abgang die Zähne und warf Huf Farballa einen letzten, vernichtenden Blick zu.

„Wird sich nicht vermeiden lassen!“, rief ihr das Regenbogenpferd nach und genoss es sichtlich, die Hexe und ihre Grauschatten auf der Flucht vor dem Farbenregen zu beobachten. Wo auch immer die grauen Gesellen von den Farben getroffen wurden, lösten sie sich zischend vor seinen Augen auf und das gefiel ihm noch viel besser. Vincent war tief beeindruckt. Die farbenfrohen Lichter, die mit zunehmender Geschwindigkeit immer größer und schwerer vom Himmel fielen, leuchteten in der Sonne wie bunte Perlen und ihr Anblick war atemberaubend. Da zur selben Zeit die Sonne schien, wurden ihre Strahlen von den Farbtropfen sowohl gebrochen als auch reflektiert, und es entstand kurz darauf ein leuchtender Regenbogen, wie ihn Vincent noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Der Maler öffnete seinen Mund, um seiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen, doch er fand keine Worte für das Schauspiel, das sich ihm bot. Fasziniert stand er da und betrachtete den ungewöhnlichen Farbenzauber. Der Himmel begrüßte die Erde mit Rot, Orange, Gelb, Grün, Indigo und Violett und die Erde schickte ihm zum Dank mächtige Farbfontänen in denselben Farben hinauf, so dass ein Doppel-Regenbogen entstand, der sich kurz darauf vervierfachte. Der junge Mann betrachtete fasziniert, wie die Farben in bezaubernden Schattierungen und Nuancen am Himmel funkelten, und sie schienen ihm so nahe, als könnte man sie berühren. Der Anblick des farbenprächtigen Schauspiels entschädigte ihn für jede einzelne seiner ausgestandenen Ängste und seine Gesichtsmiene erhellte sich augenblicklich.

„Na, hab’ ich dir zuviel versprochen?“, strahlte Pilobolus.

„Nein“, lächelte Vincent. „Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich finde keine Worte für diese ... diese Pracht!“

„Du bist entschuldigt, weil du ein Maler und kein Dichter bist!“, zwinkerte ihm der Borstenpinsel zu. „Komm, ich will dir das berühmteste Regenbogenpferd aller Zeiten vorstellen!“, drehte sich Pilobolus um und hielt auf das stattliche Tier zu.

„He, Huf, altes Dampfross! Das nenn’ ich Timing!“, grinste er den Hengst vor ihm an und warf ihm einen dankbaren Blick zu.

„Wen sehen meine entzündeten Augen?“, schnaubte das imposante Tier, ließ seine Flügel sinken und stupste freundschaftlich mit seinem Kopf den Holzstiel des Pinsels. Pilobolus! Schwingst, wie ich sehe, auch noch immer deine Borsten!“

„Ja, dank deiner Hilfe“, lächelte der Pinsel breit und streichelte sanft über Hufs Nüstern. „Das war knapp. Ein paar Farbtröpfchen später und wir wären alle …“

„Pssssst!“, machte das Pferd. „Ich bin ja rechtzeitig gekommen, um deine Borsten zu retten. Leider sind wir nicht immer zur Stelle, wenn Monotonias Grauschatten in Kolorien einfallen“, senkte der weiße Hengst bekümmert seinen Kopf. „Doch wir tun, was wir können, um Kolorien seine Farben zu erhalten!“, fügte er hinzu. „Trotzdem wird es immer grauer im Land.“

„Dir macht niemand Vorwürfe“, versuchte der Borstenpinsel das Pferd zu trösten. „Ich weiß, dass du alles in deiner Macht Stehende tust, um Monotonia in die Schranken zu weisen.“

„Unglücklicherweise reichen die Kräfte meiner Herde nicht aus, ihr das Handwerk zu legen. Daher müssen wir so schnell wie möglich Farbenfein befreien. Nur sie kann Monotonia bezwingen und Kolorien für uns zurückgewinnen!“, entgegnete Huf und richtete sich zu seiner vollen, stattlichen Größe auf.

„Deswegen sind wir hier!“, erwiderte Pilobolus ernst. „Und er wird uns dabei helfen!“, warf er einen Seitenblick auf den jungen Maler und deutete ihm, näher zu kommen.

„Darf ich bekannt machen, Vince? Das ist Huf Farballa! Farbenfeins Luftgeneral und Kommandeur der Regenbogenpferde“, teilte der Borstenpinsel dem jungen Mann mit. „Und das ist …“

„Der Märchenmaler!“, wieherte das weiße Pferd. „Du brauchst ihn nicht vorzustellen, da ich ihn von Farbenfeins Bildern bereits kenne. Niemand malt so wunderbare Bilder wie Ihr, Meister Vincent“, lobte ihn das Regenbogenpferd erfreut, „und es ist mir eine große Ehre, Euch in Kolorien willkommen zu heißen. Die Hüterin der Farben hält große Stücke auf Euch und ich zähle auf Eure Unterstützung, sie zu befreien.“

Vincent schluckte. Die Bezeichnung Märchenmaler ließ seine Wangen freudig erröten und die grünen Augen leuchten. Doch seine Freude wurde von seinen Erinnerungen getrübt. Er wollte Huf nicht die Illusion seiner Meinung über ihn rauben und bezwang den Drang, dem Pferd die Wahrheit zu sagen, dass er Farbenfein bis jetzt nur bitter enttäuscht hatte. Verlegen senkte er seinen Blick. Am liebsten wäre er auf und davon gelaufen, da er sich für sein jämmerliches Benehmen in seinem Garten schämte. Doch dann – vielleicht lag es an der leisen Musik, die durch den Aufprall der letzten Farbentropfen auf den Boden erzeugt wurde oder am sanften Schimmern der Regenbögen über ihm – beschloss Vincent, keine Minute länger in Selbstmitleid zu zerfließen und sich mit Selbstvorwürfen weiterhin zu zerfleischen. Erhobenen Hauptes blickte er ihn die wachsamen Augen des Tieres vor ihm.

„Ich bin hier“, begann der junge Mann entschlossen, „um Farbenfein zu helfen, so gut ich kann.“

„Genau das wollte ich hören“, stupste das Pferd freundschaftlich Vincents Schulter.

„Wir werden dich dabei unterstützen!“, riefen Pilobolus, Filomena und Barock im Chor.

„Bevor wir jedoch aufbrechen, müssen wir eine Karte von Kolorien besorgen, um uns orientieren zu können“, teilte Vincent mit und erntete stummes Nicken.

„Solche Karten sind mittlerweile rar geworden“, schnaubte Huf, während eine große Sorgenfalte auf seiner Stirn erschien. „Davon abgesehen, verändert sich Kolorien auf Grund der vielen Angriffe der Farbenfresser und Grauschatten beinahe jeden Augenblick.“

„Aber von irgendwelchen Karten muss auch Monotonia ihre Informationen beziehen“, hielt ihm Filomena entgegen.

„Das steht außer Zweifel!“, meinte Pilobolus. „Leider wird uns die graue Hexe weder ihre Karten zur Verfügung stellen, noch uns die Quellen verraten, woher sie diese bezieht.“

„Sie vielleicht nicht, aber die Braf-Hörnchen mit „f“ ganz bestimmt“, entgegnete das Regenbogenpferd und schüttelte seine weiße Mähne.

„Braf-Hörnchen mit „f“?“, wiederholte der Maler verwundert.

„Die Braf-Hörnchen organisieren den Widerstand im Untergrund und beliefern das ganze Land heimlich mit Farbnüssen“, teilte ihm der weiße Hengst mit. „So gelingt es immer wieder, bereits graue Landstriche wieder bunt zu färben. Leider kennt niemand ihren Aufenthaltsort, doch es ist ein offenes Geheimnis, dass man mit ihnen bei den Blauen Erdhügeln Kontakt aufnehmen kann.“

„Blaue Erdhügel?“, rieb sich Vincent überrascht seine Nasenspitze. „Seit wann sind Erdhügel blau? Und warum werden die Brafhörnchen mit „f“ geschrieben?

„Die Braf-Hörnchen werden deshalb mit „f“ geschrieben, weil sie rückwärts gelesen Farb-Hörnchen sind. Seit Monotonias Machtübernahme in unserem Land bedienen sie sich nämlich einer Geheimsprache, die sie für ihre gefährliche Mission verwenden.“

„Was für eine Geheimsprache?“

„Trhekrev“, teilte ihm das Regenbogenpferd mit.

„Trhekrev?“, murmelte der junge Mann nervös, weil das Erlernen von Fremdsprachen nicht unbedingt zu seinen Stärken zählte.

„Klingt schwieriger als es ist“, sprach Huf überzeugt und warf ihm einen ermutigenden Blick zu.

„Ich war im Englisch-Unterricht immer eine Pfeife, und in Latein ein regelrechtes Alphorn“, gab Vincent kleinlaut zu.

„Um diese Sprache zu lernen, muss man kein Sprachengenie sein“, mischte sich Pilobolus in das Gespräch ein, „sondern lediglich verkehrt herum reden.“

„Verkehrt herum reden?“, echote der Maler entgeistert.

„Richtig, da Trhekrev das Spiegelbild der Sprache ist.“

„Spiegelbild der Sprache?“, runzelte Vincent seine Stirn. „Wie soll das gehen?“

„Ganz einfach“, wurde ihm erklärt. „Du hörst ein Wort, stellst es dir rückwärts gesprochen vor und kennst seine Bedeutung. So machen es zumindest die Braf-Hörnchen: „Wehren sich gegen Tyrannei und Knechtung und sprechen deshalb alles verkehrt rum. Verstehst du, Vincent?“

Der Maler nickte, obwohl er gar nichts verstand. Kurz schloss er seine Augen, stellte sich Farb-Hörnchen rückwärts gesprochen vor und kam nach mehreren Versuchen zu der Ansicht, das die Braf-Hörnchen mit „f“ eigentlich Nehcnröh-Braf heißen müssten, was er dem Borsteninsel auch prompt mitteilte.

„Weißt du, Vince“, lächelte Pilobolus daraufhin jovial und zupfte ihn leicht am Arm, „die Farbhörnchen sind nicht immer konsequent. In dieser Hinsicht ähneln sie euch Menschen!“, fügte er Augen zwinkernd hinzu. Damit war für ihn die Angelegenheit erledigt. Für Vincent jedoch nicht. Doch für einen weiteren Gedankenaustausch fehlte den beiden die Zeit, da Huf zum Aufbruch drängte, um einem weiteren Überfall der Hexe und ihrer Grauschatten zuvorzukommen. Der weiße Hengst bat den Märchenmaler aufzusitzen und wieherte kurz in Richtung Pilobolus, Filomena und Barock, die Vincent augenblicklich folgten. Obwohl der junge Mann noch nie in seinem Leben auf einem Pferd gesessen hatte, bereitete es ihm überhaupt keine Probleme, auf dem Rücken des beeindruckenden Tieres Platz zu nehmen.

Kurz darauf erklang Hufs mächtige Stimme und die Regenbogenpferde erhoben sich in fliegender Eile in die Luft, um Vincent und seine Begleiter umgehend zu den Blauen Erdhügeln zu fliegen.

„Muss ich das alles verstehen?“, zerbrach sich der Maler im Stillen seinen Kopf, während er sich an der weißen, fließenden Mähne des Regenbogenpferdes festhielt und grübelnd nach unten sah. „Nein, muss ich nicht!“, kam er zu dem Schluss. „Ich bin eine Zeichnung, und als solche muss nicht alles begreifen.“

So flog er mit den Pferden fort, an einen wundersamen Ort. Block, Feder und Pinsel kamen mit und folgten ihm auf seinem Himmelsritt.

Der Märchenmaler

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