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5 Im Banne der Schatten

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„Wer im Dunkeln sitzt, zündet sich einen Traum an“

Nelly Sachs (1891-1979), deutsche Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin

Trübselig thronten träge Wolken am blassen Himmel und wechselten ihre Farbe von düsterem Grau in beklemmendes Schwarz. Unter ihnen erhob sich ein dunkles Gemäuer, dessen Wände stumpf wie Leichensteine eines längst vergessenen Totenackers in die Höhe ragten und sich zu einer uneinnehmbaren grauen Masse türmten, die unheilvoll in die Bewegungen undurchdringlicher Nebel getaucht war. Wie Schleier aus Blei verhinderten die unheimlichen Dunstschwaden, dass auch nur der geringste Lichtstrahl in das Innere der Festung drang, in der sich Grauen erregende Gestalten tummelten, auf die keinesfalls das Licht des Tages fallen sollte.

Diese Nebel verflüchtigten sich nie, egal wie viel Zeit auch verging. Sie veränderten weder Farbton noch Dichte und schwebten über der Festung wie ein monströser Oktopode, der die Mauern unter sich zu begraben schien. Und das Ungeheuer wuchs, streckte seine Tentakel gierig nach allen Richtungen aus und saugte Farben und Licht rings um sich herum auf.

Tristesse, einst ein farbenprächtiger Palast voller Leben und Freude, war unter Monotonias Herrschaft mehr und mehr zu einem trostlosen Ort der Eintönigkeit verkommen, der wie ein Schwarzes Loch jeden Flecken Farbe absorbierte und allmählich das ganze Land in Grau zu ersticken drohte. Die wenigen Fenster, die noch nicht zugemauert waren, glichen unheimlichen Augenhöhlen, die ihre Umgebung ständig zu bespitzeln schienen.

Seit es der Grauen Hexe mit Hilfe der Sonne gelungen war, die Hüterin der Farben in ihre Schattenburg zu locken und dort gefangen zu nehmen, dehnte sich ihre Macht im ganzen Land aus, obwohl ihr vielerorts erbitterter Widerstand geleistet wurde. Vor allem die Regenbogenpferde und Farbhörnchen lieferten der Farbenknechterin und ihren Anhängern immer wieder bunte Gefechte und füllten mit vereinten Kräften bereits graue Landstriche wieder mit Farbe auf. Dadurch zogen sie sich wieder und wieder den Unwillen der Hexe zu, die an allen Ecken und Enden wutschäumend nach ihnen suchen ließ und hohe Belohnungen auf ihre Ergreifung ausgesetzt hatte.

Regungslos stand die düstere Megäre auf den Zinnen ihrer Festung und blickte starr in die Ferne. Von drei Seiten erhoben sich bizarre, schiefergraue Berge um ihr graues Bollwerk, die teilweise mit dunklem Gestrüpp überzogen waren. Lediglich vom Südosten aus hatte sie eine Sicht ins ebene Land und konnte sogar bei klarer Sicht die leuchtenden Palasttürme Belle Couleurs an einem blausilbrig schimmernden Gewässer erkennen.

Winde zerrten an Monotonias Kapuzenmantel und lösten ein paar ihrer grauen Strähnen, die ihr wirr ins wächserne Gesicht hingen. In ihren Augen brannte das Feuer nach Vergeltung, während dunkle Flecken auf ihren blassen Wangen glommen. Eine tiefe, quälende Unruhe hatte die Hexe erfasst, deren erlittene Schmach bei den Farbquellen ihren Zorn weit über das Erträgliche hinaus trieb. Die Tatsache, von Huf Farballa und seinen Pferden wie eine streunende Hündin davon gejagt worden zu sein, war an sich schlimm genug, noch mehr schmerzte jedoch der Umstand, dass es ihr nicht gelungen war, den Märchenmaler gleich bei seiner Ankunft in Kolorien auszuradieren, da der junge Mann für ihre Pläne eine durchaus Ernst zu nehmende Gefahr darstellte. Wenn es ihm gelang, vor Sonnenuntergang ein Bildnis von Farbenfein zu schaffen, war ihr Vorhaben, im Farbenland für immer die Herrschaft zu übernehmen, zum Scheitern verurteilt, was sie mit allen Mitteln zu verhindern trachtete. Hasserfüllt starrte sie auf die grauen Berge und versuchte, die Bilder ihrer vor den Wolkenpferden flüchtenden Grauschatten und Farbenfresser zu verdrängen. Allein der Gedanke an Huf Farballa und seine Herde entfachte in ihr erneut eine Welle des Zornes, der sich tief in ihr Innerstes fraß. Während Monotonia schwor, sich bitter an dem Regenpferd zu rächen, näherte sich ihr im Hintergrund eine Gestalt mit auffallend großen Poren im Gesicht.

„Eure Grauenhaftigkeit, ich habe eine Nachricht für Euch“, holte der Schwamm seine Gebieterin aus ihren düsteren Gedanken, worauf ihre stahlgrauen Augen schnell der Richtung folgten, aus der seine Stimme gekommen war. Kühl blieb ihr Blick an Kratzer hängen.

„Lass hören!“, erwiderte sie mit metallener Stimme.

„Selbstverständlich!“, blieb der Schwamm auf Distanz, da seine Gebieterin für ihre unkontrollierten Wutausbrüche berüchtigt war.

„Schwatz nicht, sondern rede endlich!“, hallte ihre Stimme düster von den Zinnen, während dem Schwamm augenblicklich der Angstschweiß aus den Poren trat.

„Die Koloritkarte, die Euer Antimago einem der Farbhörnchen abgenommen hat, ist leider abhanden gekommen!“, stammelte der Schwamm kleinlaut, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Abstand zwischen ihm und der Hexe ausreichend groß war, um sich rasch vor ihr in Sicherheit zu bringen.

„Wie? Abhanden gekommen?“, fuhr ihn Monotonia wütend an und glaubte, sich im ersten Moment verhört zu haben. Zuerst schlüpfte ihr der Märchenmaler buchstäblich vor ihren Augen durch die Klauen, und nun verschwand auch noch eine Koloritkarte, die in Zeiten wie diesen von unschätzbarem Wert war.

„Wie konnte so etwas nur passieren und wer, in Dreiteufelsnamen, zeichnet dafür verantwortlich?“, zischte sie und verengte ihre Augen zu zwei schmalen Schlitzen.

Der Schwamm trat schnell einen Schritt zurück und sah seine Herrin ängstlich an. „Ein Federmännchen hat sie eingesackt, Eure Abscheulichkeit“, beeilte er sich zu antworten. „Ge… gewissermaßen im Vorbeihüpfen.“

„Eingesackt? Im Vorbeihüpfen!“, keifte die graue Hexe außer sich. „Ein Federmännchen? Ich war der Ansicht, dass dieser Bodensatz längst ausgerottet ist. Muss ich denn wirklich alles selbst erledigen! Wozu habe ich euch eigentlich, unfähiges Pack, wenn ihr es noch nicht einmal schafft, ein paar Springer aus dem Feld zu schlagen. Es muss ein Ende finden, dieses Gehüpfe in diesem Land, hörst du!“, schnaubte sie wütend.

Der Schwamm reagierte auf ihre harschen Worte mit einem unterwürfigen Beugen seines Kopfes. „Wie Ihr befe...!“

„Erspar mir dein Gewinsel und mach dich sofort auf die Suche nach dem Springer und der Karte“, fuhr sie ihn barsch an, während sie ihn mit kalten, grauen Augen fixierte.

„Verzeiht Eure Gnadenlosigkeit, aber es gibt da noch eine Klitzekleinigkeit, die Euch unbedingt zur Kenntnis gebracht werden muss!“, ächzte er ergeben, während er sich bemühte, den Abstand zwischen ihm und der Hexe zu vergrößern.

„Was denn noch?“, herrschte sie ihn an und versuchte ihren mittlerweile zu loderndem Feuer gewachsenen Zorn unter Kontrolle zu halten.

„Die Herrin von Kolorien ist bei den Blauen Erdhügeln gesehen worden.“

Wer?“, kreischte Monotonia wutverzerrt.

„Farbenfein!“

„Farbenfein ist nicht die Herrin von Kolorien“, explodierte die Hexe und verlor endgültig die Kontrolle.

„Sie ist eine Gefangene, meine Gefangene, und wird schon bald sterben, genau wie du, wenn du es noch einmal wagst, sie in meiner Gegenwart als Herrin von Kolorien zu bezeichnen!“ Blitzschnell bewegte sich Monotonia auf den Schwamm zu, der augenblicklich einen spitzen Schrei ausstieß, da er vor Angst schlotternd glaubte, dass sein letztes Sekündlein gekommen sei. Als er spürte, wie sie ihn am Hals packte, hatte er mit seinem Leben bereits abgeschlossen.

„Bitte um kurzen Prozess!“, stammelte er und streckte seine Hände abwehrend von sich, um das Unausweichliche noch ein wenig hinauszuschieben. Monotonia verzog keine Miene. Ihr schmales, graues Gesicht mit den tief liegenden grauen Augen regte sich nicht. Dann bewegte sie unmerklich ihre Lippen und allein die Art, wie sie ihr Gesicht zu einer abscheulichen Fratze verzog, ließ die Luft um ihn herum auf antarktische Temperaturen sinken.

„Mach dich nicht lächerlicher als du ohnedies bist!“, schrie sie ungehalten und stieß den Schwamm von sich. „Dieses Mal lasse ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen, aber das nächste Mal hast du nicht so viel Glück!“, ließ sie ihn wissen und schubste ihn von sich. Der Schwamm konnte sein Glück kaum fassen und versuchte, den Saum ihres Kapuzenumhanges zu küssen, doch sie schien seinen Gedanken zu erahnen und zog den Stoff angewidert zur Seite.

„Danke … danke, zuviel der Gnade“, murmelte Kratzer und hielt seinen Blick ängstlich gesenkt. Ohne zu antworten, rauschte die Hexe an ihm vorbei, hielt jedoch unvermittelt inne und drehte sich zu ihm um.

„War meine Gefangene allein, als sie gesehen wurde?“, erkundigte sie sich schroff und warf ihm einen geringschätzigen Blick zu.

„Nein“, antwortete der Schwamm atemlos. „Sie wurde mit dem Märchenmaler, einem Pinsel, einer Zeichenfeder, einem Block und drei Farbhörnchen beobachtet.

„Mit dem Märchenmaler?“, verfinsterte sich die Miene der Hexe augenblicklich, wobei ihr der Schock buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand und sie noch um zwei Nuancen grauer wurde. Der Schwamm zuckte kurz zusammen und senkte seinen Blick schnell zu Boden.

„Ja, aber nur kurz“, teilte er mit.

„Das muss künftig unter allen Umständen unterbunden werden!“, fauchte sie und zog ihren Diener unvermittelt an seinen großen Ohren. Der Schwamm biss sich schnell auf seine Unterlippe, um nicht laut vor Schmerz aufzuschreien. Schließlich hielt er es keinen Augenblick länger aus und begann leise zu wimmern. Monotonia, die keine große Lust hatte, sich sein Gejammer anzuhören, ließ sein Ohr wieder los und würdigte ihn keines Blickes. „Zum Teufel mit dem Märchenmaler“, fluchte sie laut. „Zum Teufel mit den Regenbogenpferden und allen, die sich meinem Vorhaben, Kolorien zu entfärben, widersetzen!“ Erneut wurde sie von einer Welle des Zorns erfasst, während der Schwamm leise vor sich her winselte.

Allmählich ließ der Schock nach und sie schien sich wieder zu fangen. „War nicht sie es, die noch immer einen Weg gefunden hatte, wenn sich schier unlösbare Probleme vor ihr auftürmten?“, versuchte sich die Hexe zu beruhigen. „War nicht sie es gewesen, die es nach endlosen Diskussionen geschafft hatte, die Sonne zum Untergehen zu bewegen? Dennoch wäre es töricht“, befand sie „einfach zuzusehen, wenn Gefahr im Verzug war, ohne entsprechende Gegenmaßnahmen zu treffen.“ Langsam ließ ihren Blick über das traurige Häufchen Elend vor ihr auf dem Boden gleiten und versetzte ihm einen leichten Tritt.

„Erheb dich, Faulpelz, es gibt Arbeit!“, fuhr sie Kratzer an.

Der Schwamm beeilte sich, auf seine Beine zu kommen, hielt jedoch seinen Kopf demutsvoll gesenkt.

„Soll ich mich auf die Fersen des Federmännchens heften?“, erkundigte er sich diensteifrig, während der Wind schaurig durch die Zinnen pfiff und dunkle Schatten über die kahlen Wände der Festung jagte.

„Nein“, schüttelte die Hexe ihren Kopf. Das soll Rubber übernehmen. Der ist schneller und hat weniger Löcher im Kopf als du“, fügte sie verächtlich hinzu.

„Da sich meine Arrestantin offensichtlich nach Gesellschaft sehnt“, fuhr sie fort, wobei ihre Augen boshaft funkelten, „werden wir ihr diesen Wunsch erfüllen. Sofort!“, befahl sie hart und setzte sogleich rachsüchtig einen Fuß nach dem anderen die Treppen zu Farbenfeins Gefängnis hoch. Niemals würde sie zulassen, dass ihre verhasste Gegnerin entkam, und wenn es das letzte war, was sie ihn ihrem Leben verhinderte.

Farbenfein fühlte die nahende Gefahr, noch bevor sie sie sehen konnte. Verängstigt drückte sie sich gegen die Wand, als wolle sie mit den kalten Steinen hinter ihrem Rücken verschmelzen, nur um einer Konfrontation mit der Grauen Hexe zu entgehen. Doch aus dem Turmzimmer, in das sie eingesperrt war, gab es kein Entrinnen und die zermürbende Dunkelheit um sie herum hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Trotz ständiger Tatenlosigkeit fühlte sie sich ausgelaugt und leer. Die Einsamkeit zehrte an ihrem Wesen und allein die Liebe zu ihrem Land und der Traum von Freiheit hielt sie am Leben, beseelt von dem innigen Wunsch, die Hexe und ihre Handlanger zu überlisten und ihrer Gefangenschaft zu entkommen. Irgendwie. Obwohl sie jeden Gedanken an Befreiung verdrängte, um nicht vor Verzweiflung den Verstand zu verlieren, trieb das zarte Pflänzchen der Hoffnung in ihr emsig Wurzeln, genährt von der Kunde, dass es dem Märchenmaler gelungen war, einen Weg in ihre Welt zu finden. Allein sein Bild in ihren Gedanken ließ Freude und Hoffnung wie eine quirlige Farbenquelle in ihr sprudeln, die alle Sorgen und Ängste mit sich fort trug.

„Vincent“, flüsterte Farbenfein in die Dunkelheit hinein, während ihr flüchtiges Lächeln im Raum wie ein kleines Licht schwebte, das ihr kaltes Gefängnis mit ein wenig Wärme erfüllte. Beinahe glaubte sie, ihn vor sich stehen zu sehen, hoch gewachsen, ein wenig schlaksig und mit einnehmenden Gesichtszügen, die sie auf Anhieb mochte.

Seine hohe Stirn ruhte über einer ebenmäßig, geraden Nase, die sich auf einen fein gezeichneten Mund senkte und mit einem ausgeprägten Grübchen im Kinn den perfekten Abschluss fand. Seine Augen schimmerten unter dichten dunklen Brauen im Dunkeln wie zwei seltene Jadesteine, während ihm sein dunkles, schulterlanges Haar verwegen ins Gesicht fiel. „Ich male dich hier raus“, versprach sein Bild in ihrer Fantasie, während ein Anflug von einem siegesbewussten Lächeln auf seinen Lippen ruhte.

„Vincent“, flüsterte Farbenfein ein zweites Mal leise in die Dunkelheit. Doch der Märchenmaler konnte sie nicht hören, da er viel zu weit von ihr entfernt war.

Dafür vernahm sie andere, die sie weder hören noch sehen wollte, worauf das Bild des Malers vor ihrem geistigen Auge zerbrach und von den Geräuschen auf der Treppe endgültig verwischt wurde.

Farbenfein horchte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Im Laufe ihrer Gefangenschaft hatte sie gelernt, ihre Peiniger an den Schritten zu erkennen und wusste, dass Monotonia zu ihr hoch eilte. Und sie kam nicht allein. Obwohl das Mädchen sich bemühte, ruhig zu bleiben, begann sein Herz laut zu klopfen, als die Schritte immer lauter wurden, um völlig zu verstummen. Dann wurde die Türe knarrend aufgerissen und zwei dunkle Gestalten erschienen im Türrahmen, worauf sich die Dunkelheit im Gefängnis jäh änderte. Der flackernde Widerschein eines kalten Feuers, aus grauen Schatten geboren, erfüllte unheilvoll den Raum.

Die Hüterin der Farben spürte sogleich die Gegenwart der Hexe und auch den glühenden Hass, von dem sie angetrieben wurde. Sie war davon überzeugt, auch den Grund für Monotonias schwelenden Zorn zu kennen. Dieser stand mit Sicherheit in engem Zusammenhang mit einer gewissen Koloritkarte, die ein gewitztes Federmännchen einem ihrer Antimagos vor der Nase weggehüpft hatte.

„Steh auf!“, wurde Farbenfein von Monotonia angeschrien, und der üble Geruch der Feindseligkeit, den jede Pore ihres Körpers ausdünstete, verursachte ihr Übelkeit. Doch die Hüterin der Farben war nicht gewillt, ihrem Befehl nachzukommen und blieb regungslos im Schatten der Dunkelheit sitzen.

„Das war nicht als Bitte gemeint!“, kam der Schwamm seiner Herrin zu Hilfe, trat nach vor und riss Farbenfein ruckartig vom Boden hoch, bis sich ihre Knie erhoben. Monotonias Augen hefteten sich schnell auf ihre Gefangene und musterten ihre zierliche Gestalt. Zufrieden stemmte die Hexe ihre Arme in die Hüften und stellte fest, dass die ständige Dunkelheit dem Mädchen ordentlich zusetzte und ihre Gegnerin sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Farbenfein rang nach Atem. Das graue Licht, welches den Raum nun gänzlich durchdrang, schmerzte in ihren Augen und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Zwar konnte sie Monotonias Gesicht nicht sehen, da die Kapuze der Hexe ihr weit ins Gesicht hing, doch glaubte sie, zwei hasserfüllte Augen zu erkennen, die in der Dunkelheit wie zwei brennende Kohlestückchen glommen.

„Wie furchtbar, dich so leiden zu sehen!“, prasselten die Worte der Hexe wie Hagelkörner auf Farbenfein ein, wobei der Hohn in ihrer Stimme jedes einzelne ihrer Worte Lügen strafte.

„Schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, herrschte sie die Hexe an, worauf das Mädchen zögernd seinen Kopf hob und direkt in Monotonias echsenhafte, grauen Augen blickte. Die Hexe musterte ihre Gefangene mit verächtlicher Miene, während sich ihr Gesicht dem von Farbenfein gefährlich näherte.

„Hör’ auf, gegen mich zu opponieren und schließ dich mir an, dann schenke ich dir deine Freiheit!“, wisperte sie dem Mädchen verlockend zu. „Mit deinen Fähigkeiten und meinen Zauberkräften machen wir uns Kolorien gemeinsam untertan und regieren mit uneingeschränkter Macht!“

„Du wirst dieses Land nie regieren“, erwiderte Farbenfein, während sie ihre Angst hinter vorgetäuschter Gelassenheit verbarg.

„Nein?“, zeigte sich Monotonia betont ruhig und wusste nicht, worüber sie sich mehr ärgern sollte, über die an sie gerichteten Worte oder das unverschämte Lächeln im Gesicht ihrer Gefangenen.

„Vincent ist hier“, entgegnete Farbenfein ihrer Kerkermeisterin triumphierend und beobachtete, wie das Gesicht der Hexe allein bei der Erwähnung seines Namens erstarrte. Zornig funkelte Monotonia sie an, doch Farbenfein wich ihrem Blick nicht aus.

„Nun fühlst du dich stark, was, weil dein edler Ritter gekommen ist, um dich vor der bösen Hexe zu retten!“, verhöhnte sie das Mädchen. „Leider wird er nicht lange genug am Leben bleiben, um dir zu helfen, da er ein Mensch ist und die Sonne bald untergehen wird. Dann wird es finster in Kolorien und dein Möchtegern-Kleckser wird sterben, genau wie du, wenn du deinen dummen Stolz nicht vor mir beugst!“

Farbenfein atmete tief durch, um ihre Furcht nicht zu zeigen, welche die Worte der Hexe in ihr ausgelöst hatten. Stumme Angst schnürte ihr die Kehle zu, und das weniger um sich selbst als um den Märchenmaler, was ihr nur allzu schmerzlich bewusst war. Einen kleinen Trost fand sie lediglich im Gedanken, dass Vincent nicht allein auf sich gestellt war, und mit Pilobolus, Filomena und Barock erfahrene und kluge Köpfe an seiner Seite hatte.

„Vincent wird nicht sterben!“, erwiderte Farbenfein bestimmt. „Er wird mich hier rausmalen und Eurer Tyrannei ein Ende setzen.“

Die Hexe fixierte ihre Gefangene aus wutblitzenden Augen, während ihre ohnedies abscheuliche Miene noch eine Spur abstoßender wurde.

„Doch, er wird sterben, wenn du nicht augenblicklich auf meine Seite wechselst und mir zu Diensten bist“, kreischte sie fuchsteufelswild, worauf sich Fabenfein augenblicklich beide Ohren zuhielt und zu singen begann:

„Du kann vielleicht diesen Körper knechten, aber niemals meinen Willen brechen!“

Die Bedeutung der Worte sowie die hohen Töne, die das Mädchen jäh ausstieß, trieben der Hexe Schweißperlen auf die Stirn und sie begann, unkontrollierte graue Blitze auf Farbenfein zu schleudern, die schnell einen leuchtend bunten Schutzschild in Form einer Seifenblase um sich aktivierte, um sich vor dem Angriff der Hexe zu schützen. Obwohl die Farben des Schildes die todbringenden Strahlen erfolgreich abwehrten, bereitete ihr graues Licht der Hüterin der Farben unsägliche Qualen, die sie allmählich an einen Punkt brachten, wo sie ihr Augenlicht gegeben hätte, nur um den durch den Blitzhagel der Hexe verursachten Schmerzen zu entgehen. Im Bewusstsein ihres nahenden Zusammenbruchs, mobilisierte das Mädchen seine letzten Kräfte und stieß derart hohe und spitze Töne aus, dass Monotonia glaubte, ihr Trömmelfell würde platzen und deshalb gezwungen war, den Blitzhagel einzustellen und die Kammer ihrer Gefangenen sofort zu verlassen, da sie die Laute keinen Moment länger ertragen konnte.

„Sei still!“, befahl die Hexe geifernd.

„Gib auf, du kannst nicht gewinnen!“, hörte Farbenfein die Stimme des Schwammes rufen, doch tief in ihrem Inneren gab es etwas, das nicht aufgeben konnte, nicht aufgeben durfte. Das sie dazu brachte, die schrecklichen Qualen zu erdulden und stolz ihren Kopf zu heben. Solange in ihr auch nur ein Funken Leben steckte, würde sie der grauen Tyrannin Widerstand leisten, und jeder Atemzug Zeit, den sie Monotonia dabei abrang, würde die Boshaftigkeit der Hexe von ihrem geliebten Kolorien ablenken. Dieses Wissen gab ihr die Kraft durchzuhalten. Kurz vor dem nahenden Zusammenbruch wuchs Farbenfein noch einmal über sich hinaus und ihre Stimme hallte klar und wie Musik klingend durch den Raum:

Wer nicht für sich selbst denkt

und sein Geschick selbst lenkt,

wer nicht zu sich selbst steht

und seine Farben selbst wählt,

wer sich der Mehrheit beugt

und sich am Grauen freut,

wer auf seinen Knien kriecht

und am Boden siecht,

ist nicht in diesem Land geboren

und hat bei uns hier nichts verloren.

Ein Hoch auf unser Kolorien –

Heimat der Farben und Harmonie,

ein Hoch auf unser Kolorien –

dieses Land regierst du nie!

Bei diesen Worten erstarrte die Hexe und ihre Wut wich bezwingender Furcht. „Aufhör’n! Sofort aufhör’n!“, schrie sie wie von Sinnen und hielt sich nun ihrerseits die Ohren zu, während es ihr kalt über den Rücken lief. Doch Farbenfein hörte nicht auf und wiederholte wieder und wieder die für die Hexe qualvollen Worte, sodass diese sich brüllend umdrehte und aus dem Raum floh, gefolgt von Kratzer der unbeholfen hinter ihr die Treppe hinunter stolperte. Nachdem die Tür wieder ins Schloss gefallen war, folgte absolute Stille. Im Raum wurde es wieder stockfinster, während sich in Farbenfeins Kopf einen Moment lang alles drehte und sie ernsthaft glaubte, der Fußboden käme auf sie zu. Doch er blieb, wo er war. Regungslos saß das Mädchen im Schatten der Dunkelheit und rang nach Atem. Die Auseinandersetzung mit der Hexe hatte Farbenfein große Anstrengung gekostet und fast alle Reserven ihrer Lebensenergie aufgebraucht. Obwohl jede Stelle ihres Körpers noch immer von dem Blitzhagel schmerzte und es ihr ziemlich schwer fiel, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, bewegte sie sich auf die südliche Wand zu, die sie vorsichtig abtastete und gegen ein paar der Steine drückte.

Tatsächlich lockerte sich einer von ihnen und ein seidenfadendünner Sonnenstrahl bohrte sich augenblicklich seinen Weg durch die dicke Nebelwand und tauchte das völlig erschöpfte Mädchen in sanftes, goldenes Licht.

Obwohl Monotonia der Sonne unter Androhung schlimmster Bestrafungen untersagt hatte, auch nur einen einzigen Strahl in ihre Schattenburg zu schicken, war es ihrem winzigsten Sonnenstrahl gelungen, ohne Wissen der Sonne in Farbenfeins Gefängnis vorzudringen. So oft sich eine günstige Gelegenheit bot, stahl sich der kleine Strahlemann in die Dunkelkammer, um Hüterin der Farben mit seinem Licht zu wärmen und ihr Kraft zu geben, die Gefangenschaft zu ertragen. Und weil die Winzigkleinen im Leben von den Großen und Mächtigen gern übersehen werden, fiel dies auch nicht weiter auf. Nur Monotonia wunderte sich von Zeit zu Zeit, woher Farbenfein die Kräfte nahm, ihren Blitzangriffen zu trotzen und sich sogar an verschiedene Stellen des Landes projizierte, obwohl sie vermeintlich lediglich von Dunkelheit umgeben war.

„Sunny!“, hauchte das Mädchen völlig am Ende und wusste im ersten Moment nicht, ob es weinen oder lachen sollte.

„Hallo, Farbigste!“, strahlte sie der kleine Sonnenschein an und streichelte ihr liebevoll über ihr honigblondes Haar. „Ich dachte du könntest ein wenig Licht gebrauchen. Wie fühlst du dich?“

„Miserabel“, wisperte das Mädchen und öffnete die Augen. „Die Hexe war gerade hier und ich dachte, diesmal wäre es endgültig aus mit mir!“ Ihre schnellen Atemzüge und das Flattern ihrer Augenlider verrieten, dass sie noch immer unter dem durch den Blitzhagel der Grauen Hexe ausgelösten Schock litt.

„Hat sie dich wieder mit ihren Blitzen gefoltert?“, erkundigte sich Sunny mitfühlend und erhielt ein schmerzerfülltes Nicken als Antwort.

„Oh, diese …!“

„Psst“, raunte Farbenfein kaum hörbar und versuchte sich aufzurichten, sank aber mit einem leisen Wimmern zurück und ließ sich erschöpft auf dem Boden nieder. Sie war müde und fühlte sich elend, am Ende ihrer Kräfte.

„Verzeih’ meine Schwäche“, versuchte sie sich zu entschuldigen.

„Du hast alles Recht Koloriens, Schwäche zu zeigen und dein Leid hinauszuschreien!“, erwiderte Sunny und als sie ihm eine Antwort schuldig blieb, fügte er hinzu: „Irgendwann, Farbigste, wird Monotonia für ihre Gräueltaten bezahlen!“

„Hoffentlich bald“, seufzte Farbenfein und hob ihre Lider. Verzweiflung verdunkelte ihre Augen, als sie sich in ihrem von Sunny sanft erhellte Gefängnis umsah.

Das Turmzimmer war kalt und leer. Es gab dort nichts außer kalten Mauern und klammen Boden. Keine Wärme. Keine Farbe. Kein Licht. Nur Finsternis. Einsamkeit. Und Leere. Es war zum Aus-der-Haut-fahren. Sie hätte es bestimmt auch längst getan, wenn sie nicht – dank Sunnys spärlichen Besuchen und ihren besonderen Fähigkeiten – ab und zu ihrem Gefängnis hätte entfliehen können. Aber ihre geistigen Ausflüge dauerten meist nicht sehr lange und kosteten viel Energie, die sie dringend für ihren Widerstand gegen die Graue Hexe benötigte. Abermals schloss die Hüterin der Farben ihre Augen. Sie erinnerte sich an ein Leben in Freiheit, an idyllische Fleckchen ihrer unvergleichlichen Heimat und deren magischen Farbenzauber, und bei dem Gedanken an ihr geliebtes Kolorien durchströmte sie eine Welle der Freude, die ihre Niedergeschlagenheit langsam verblassen ließ. Das Licht des kleinen Sonnenstrahls erweckte neue Lebensgeister in ihr und sie versuchte aufzustehen.

„Vorsicht!“, mahnte Sunny, als er sah, wie sie taumelte, doch Farbenfein schien ihr Gleichgewicht schnell wieder zu finden und blickte ihm dankbar in die Augen.

„Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen!“, versicherte sie ihm, während sie beide Hände nach ihm ausstreckte und tief einatmete, so als wolle sie sein Licht in sich aufsaugen.

„Das hör’ ich gern“, erwiderte der Kleine freundlich und setzte sich auf ihre Schulter. „Ich wünschte nur, ich könnte mehr für dich tun“, ließ er traurig seinen Kopf hängen.

„Du tust mehr als genug“, erwiderte Farbenfein, „und riskierst dabei dein Licht für mich!“

„Wenn ich dich nur malen könnte“, seufzte Sunny, „wärst du längst frei!“

„Keine Sorge, ich lass mich von Monotonia nicht unterkriegen“, spielte die Hüterin ihre Hoffnungslosigkeit hinunter. „Und nun berichte mir von draußen. Gibt es Neuigkeiten?“

Erstaunt neigte sich Sunny ein wenig zur Seite und betrachtete Farbenfein eingehend. War das wirklich das Mädchen, das gerade noch vorhin auf dem Boden lag und glaubte, sein Ende wäre gekommen? Sein Licht tat der Hüterin Koloriens mehr als gut und sie erholte sich sichtlich von Quäntchen zu Quäntchen.

Farbenfein spürte seinen eindringlichen Blick und neigte nun ihrerseits ihren Kopf.

„Ich fühle mich besser“, ließ sie ihn wissen, wobei sich ihr Lächeln vertiefte.

„Ich seh’s“, stellte der kleine Sonnenstrahl erleichtert fest. „Ich bin mir meiner Wirkung durchaus bewusst“, zwinkerte er ihr zu, „allerdings war mir eine derart überwältigende Ausstrahlung bis jetzt unbekannt.“

„Deine Ausstrahlung in Ehren, Sunny“, gab das Mädchen mit einem Funken Heiterkeit in der Stimme zurück, „aber meine Regeneration geht nicht ausschließlich auf dein Licht zurück.“

„Sondern?“, sah sie der kleine Strahlemann neugierig an.

„Der Märchenmaler ist hier“, teilte sie ihm mit.

„Hab’ ich gehört“, erwiderte Sunny. „Die Farben sprudeln es aus allen Tuben und Dosen. „Und dass er Monotonia bei den Farbquellen entwischt ist, auch. Glücklicherweise war Huf zu Stelle, als es brenzlig wurde.“

„Ja, Huf ist ein echter Glücksgriff“, stimmte ihm Farbenfein zu.

„Und ein Phänomen“, fuhr Sunny fort. „Er scheint bereits im Voraus zu ahnen, wann und wo die Graue Hexe zuschlägt. Das letzte Mal als sie in Belle Couleur …“ Schnell brach er ab.

„Als sie was?“, hakte Farbenfein nach und verspürte eine innere Unruhe, die nichts mit ihrer Gefangenschaft zu tun hatte.

Nach einem kurzen Blick auf das Mädchen meinte Sunny verlegen: „Wir sollten vielleicht über etwas anderes sprechen, um dich zu schonen!“

„Ich möchte nicht geschont werden“, protestierte die Hüterin der Farben und hielt kurz inne, da sie glaubte, ein Geräusch vor der Türe zu vernehmen. Panik stieg in ihr hoch. Kalt und trostlos wie die Mauern, die sie umgaben. Wenn Monotonia zurückkehrte und ihr kleines sonniges Geheimnis entdeckte, dann war alles aus.

„Warum hältst du an?“, fragte Pilobolus das Federmännchen erstaunt, das abrupt nach einem großen Sprung innehielt und aufmerksam die Gegend absuchte. Der Maler, der gegen eine kleine Pause nichts einzuwenden hatte, da das Springen anstrengender als angenommen war, tat es Zappel gleich und ließ seinen Blick über die Sumpflandschaft streifen, die sie bereits seit geraumer Zeit durchhüpften. Aber so sehr er sich auch bemühte, konnte er nichts anderes entdecken als dunstige Niederungen, bewachsen mit scharfkantigem Gras, das jede Menge Tümpel verdeckte, und von baumhohen Pflanzen, die Vincent ein wenig an Farne erinnerten, durchzogen wurde.

„Du willst es mir also nicht sagen“, bohrte Pilo weiter und warf dem Federmännchen einen ungeduldigen Blick zu.

„Still!“, erwiderte Zappel, während sein Blick fieberhaft den Himmel absuchte. „Dort!“, rief das Federmännchen aufgeregt und zeigte hinauf zu den Wolken. Vincents Herz fing an zu hämmern, als er große, längliche Schatten am Himmel entdeckte, die keine Regenbogenpferde waren.

„Krokodögel!“, stieß Filomena erschrocken hervor und blickte ebenfalls nach oben.

„Sind das …. sind das etwa Krokodile?“, betrachtete Vincent die Tiere über ihm.

„Nein, Krokodögel!“

„Sehen aber aus wie Krokodile.“

„Fliegen aber wie Vögel“, wurde der Maler von seinem Block belehrt.

„Bist du dir sicher?“

„Jap!“

Vincent bog schnell seinen Kopf noch ein bisschen weiter nach hinten, um nach den Flügeln der Krokodile Ausschau zu halten und bemerkte gleichzeitig, dass die seltsamen Tiere immer niedriger flogen.

„Sssscchhht!“, deutete Zappel den beiden zu schweigen.

Vincent, der noch nie zuvor in seinem Leben fliegende Krokodile gesehen hatte, betrachtete fasziniert und abgestoßen zugleich die beschuppten Ungeheuer mit schnabelartigen, langen, flachen, vorn stumpf abgerundete Schnauzen, die in konzentrischen Bahnen am Himmel kreisten.

„Die suchen nach etwas!“, murmelte Barock.

„Was hast du gesagt?“, flüsterte Pilobolus.

„Die suchen nach etwas!“, wiederholte der Zeichenblock leise, aber so, dass ihn alle verstehen konnten.

„Ratet mal was oder besser wen!“, fiel ihm Zappel ins Wort.

„Uns“, schluckte Filomena.

„Noch haben sie dich nicht“, beruhigte der Borstenpinsel.

„Solange ihr tut, was ich euch sage, finden sie euch auch nicht“, versicherte Zappel den vier Gefährten.

Der Märchenmaler hörte nur mit halbem Ohr hin, da er seinen Blick von den dunklen Flugechsen am Himmel nicht losreißen konnte. Es war ein schaurig schönes Bild, das ihm die gefährlichen Bestien boten. Dunkel hoben sich ihre Schatten vom Grau des Himmels ab und wirkten wir flüssiger Stahl in einer düsteren Landschaft. Der ungewöhnliche Anblick weckte in ihm ein vertrautes Verlangen, nämlich zu malen und sich mit Pinsel und Farben auszutoben.

„Das Faszinierende am Grauenhaften ist seine Perfektion. Lass dich nicht in seinen Bann ziehen, Vincent!“, warnte das Federmännchen, und seine eindringlichen Worte ließen den Maler bis in die letzte Linie erstarren. Einen Augenblick lang verschlug es ihm die Sprache, da es wirklich Faszination war, die seine Aufmerksamkeit gefangen hielt, doch dann wandte er seinen Blick ab und antwortete mit gedämpfter Stimme: „Keine Sorge. Ich versuche mir nur ein Bild von einer Welt zu machen, die nicht meine ist.“

Das Federmännchen fing seinen Blick auf und erwiderte niedergeschlagen: „Glaub mir, Vince, meine Welt ist das auch nicht. Trotzdem muss ich mich damit abfinden!“, deutete er mit der Hand nach oben.

„Musst du nicht!“, rief Pilobolus. „Was meinst du, warum wir mit dir durch das halbe Land hopsen, häh? Ganz bestimmt nicht, um uns mit fliegenden Panzerechsen anzufreunden. Und weil wir gerade beim Thema sind: Gibt es vielleicht einen Grund, warum wir uns durch diesen Sumpf quälen, während wir zum Bleistift auf der Magentastraße schon längst bei den Farbfällen sein könnten?“

Zappel hob seinen Kopf und schenkte dem Borstenpinsel ein mitleidiges Lächeln. „Ich kann dir gleich mehrere Gründe nennen, warum ich diese Route gewählt habe!“, ließ er Pilo flüsternd wissen.

„Ich bitte darum“, raunte der Pinsel zurück.

„Erstens, weil die Magentastraße zum Großteil nicht mehr frei passierbar ist, da sie von Monotonias Grauschatten kontrolliert wird, und zweitens der klägliche Rest, der noch benutzbar ist, von Monotonias Krokodögeln aus der Luft überwacht wird“, fügte er trocken hinzu.

„Warum haben wir dann nicht die Gelbe Straße genommen? Ist zwar ein Umweg, aber …

„Weil auch diese Straße nicht mehr sicher ist“, wurde ihm von Zappel das Wort abgeschnitten.

„Wir hätten auch über Sideth …“

„Nein, hätten wir nicht“, fiel ihm Barock ins Wort. „Die Singenden Säulen hält niemand aus!“ Auch Filomena schien von diesem Vorschlag wenig angetan zu sein, was ihrer Gesichtsmiene deutlich abzulesen war.

„Ihr habt ja recht“, lenkte Pilo kleinlaut ein, aber dieser Sumpf hier scheint mir auch nicht viel besser zu sein als der Weg über Sideth“, fügte er hinzu und ging davon aus, dass sie von oben ungesehen nicht weiterhüpfen konnten.

„Jeder Weg ist besser als über Sideth!“, brummte Barock, was von Filomena Kopf nickend bestätigt wurde.

„Was ist denn so schlimm an Sideth?“, erkundigte sich Vincent.

„Die Singenden Säulen“, ließ ihn Filomena wissen.

Der Märchenmaler, der noch nie in seinem Leben Säulen singen gehört hatte, musste kurz lächeln.

„Klingt doch schön, wenn Säulen singen!“

„Die Säulen von Sideth singen nicht schön“, schüttelte Pilobolus energisch seinen Kopf. „Sie verfügen über viele Fähigkeiten, aber Singen gehört bestimmt nicht dazu“, erklärte er. „Das Dumme ist nur, dass sie das selbst nicht so sehen und mit ihrem Gejohle jeden Gehörgang in Kolorien beleidigen. Und selbst das ist noch eine ohrensträubende Untertreibung!“

„Da hat das Borstenbüschel ausnahmsweise recht“, stimmte Barock Kopf nickend zu, was nicht allzu oft vorkam. „Bei den Tönen, die sie anschlagen, pustet es dir glatt den Karton weg!“

„Stimmt“, pflichtete ihm Filomena bei. „Die Singenden Säulen machen mit Abstand die beste schlechteste Musik, die in diesem Land je zu hören war. Ihr Gekreische ist mindestens genauso berüchtigt wie unerträglich, weshalb sich niemand freiwilling nach Sideth verirrt“, ließ sie den Märchenmaler wissen.

„Sogar Monotonias Bande macht einen weiten Bogen um diese Ohrenstrapazierer“, wusste Zappel, „deshalb ist es ratsam, es ihnen gleich zu tun! Obwohl diese Farbenvernichter sonst kein Vorbild sind!“, fügte er schnell hinzu.

Vincent runzelte die Stirn. Er ließ seinen Blick über die schier endlos hinziehenden Gräser wandern und fragte sich ernsthaft, ob er nun endgültig seinen Verstand verlor. Er befand sich in einem Sumpf, unterhielt sich mit einem Pinsel, einer Feder, einem Zeichenblock und Hampelmann, die sich allen Ernstes über singende Säulen beschwerten, während über ihm in der Luft Krokodile mit Flügeln kreisten. Unwillkürlich flogen seine Gedanken zu seinem letzten Gespräch mit Monika. „Ich werde mein Leben nicht an jemanden verschwenden, der weltfremd in seinem Luftschloss sitzt und seinen hoffnungslosen Tagträumen nachhängt“, hatte sie zu ihm gesagt und ihn mit diesen Worten sehr gekränkt, was er sorgsam hinter den schützenden Panzer seines Verstandes verborgen hielt. Aber eben dieser Verstand schien ihm nun langsam abhanden zu kommen, und der Maler glaubte einen Augenblick lang, dass sein Hals anschwellen und er daran ersticken müsste. Was war nur los mit ihm? War diese grüne, eintönige, geisttötende Landschaft tatsächlich nur ein Tagtraum? Und wenn er schon am helllichten Tag träumte, warum um Himmels willen von einem Sumpf, und nicht von der Karibik? Vincent strich sich mit leicht zittriger Hand ein paar Haare aus der Stirn und sagte sich, dass er endlich aufhören musste, über sich selbst den Kopf zu zerbrechen, da jeder Tagtraum, egal wie trostlos er auch sein mochte, immer noch besser war, als tagein, tagaus an einem Schalter zu stehen und Geld zu zählen, das noch nicht einmal ihm gehörte.

Der junge Mann war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er völlig überhörte, wie Filomena an seine Seite trat und ihn beim Namen rief.

„Vincent? … Vincent?“ Doch er rührte sich nicht, sondern starrte verloren ins Gras. Erst als sie ihn vorsichtig am Arm zupfte, nahm er ihre Gegenwart wahr.

„Alles in Ordnung?“, wollte die kleine Zeichenfeder wissen. Vincent reagierte nicht sofort auf ihre Frage, da er sich über seine Antwort nicht im Klaren war. „Ja, ja … es geht schon wieder“, erwiderte er schließlich gedämpft.

„Quält dich etwas?“, wollte Barock wissen.

„Nichts von Bedeutung“, beeilte sich Vincent zu antworten.

„Willst du darüber reden?“, bot Pilo seine Hilfe an.

„Nein, lieber nicht!“, entgegnete der Märchenmaler verlegen. „Ist … ist etwas Persönliches und hat nichts mit euch zu tun.“

Das war zwar ein bisschen gemogelt, aber Vincent wollte seine Grübeleien für sich behalten. Seine Lippen wurden schmal und sein Blick wanderte einmal mehr gedankenverloren über die Gräser und Wasserstellen.

„Schneellllll!“, drängte Farbenfein den kleinen Sonnenstrahl, presste ihren Rücken mit aller Kraft gegen die kalte Wand und versuchte so, den gelockerten Stein wieder in die Mauer zurück zu schieben. Dabei wurde Sunny unsanft aus dem Verlies gedrängt, was ihm nicht sonderlich gefiel. Keine Sekunde zu früh, denn abermals wurde die Türe aufgerissen und wieder strömte graues Licht in den Raum. Farbenfein sammelte alle ihre Kräfte, obgleich sie wusste, dass sie einer weiteren Auseinandersetzung mit der Grauen Hexe nicht gewachsen war. Ein leichter Schwächeanfall machte sich in ihren Gliedern breit und sie grub ihre Zähne tief in die Unterlippe, während sie um Haltung bemüht war. Kurz darauf erschien Monotonia, die abermals ihren Blick scharf durch die Kammer schweifen ließ.

„Habe ich hier etwa Stimmen gehört?“, fuhr sie Farbenfein an, während ihr Blick unheilvoll auf das Mädchen geheftet blieb, das sich um Gelassenheit bemühte, damit ihr kleines Geheimnis nicht aufflog.

„Antworte gefälligst oder hat es dir plötzlich die Sprache verschlagen?“, fuhr die Hexe ihre Gefangene an, die sich von ihrem Erscheinen offenbar nicht aus der Ruhe bringen ließ.

Trotz der demütigenden Umstände und der Gefahr, in der sie steckte, hob Farbenfein ihren Kopf und teilte ihrer Peinigerin ruhig mit: „Ich nehme von Euch keine Befehle entgegen!“

„Ich werde dich lehren … !“, schnappte Monotonia nach Luft und eilte auf das Mädchen zu, wobei Farbenfein das Gefühl hatte, ihre donnernden Schritte würden sogar den Säulenboden von Sideth zum Erzittern bringen. Die Hexe baute sich Furcht einflößend vor dem Mädchen auf und betrachtete ihre Gefangene aus zusammengekniffenen Augen. Irgendetwas störte Monotonia maßlos, aber sie konnte nicht genau sagen, was es war. Dafür hätte es Farbenfein gekonnt, hütete sich jedoch, ihren sonnigen, kleinen Freund zu verraten. Monotonia spürte die Schwingungen von Sunnys geschmuggeltem Licht, konnte sich aber nicht erklären, wie sie in den Raum kamen.

„Kann es sein, dass hier ein Quäntchen Licht sein Unwesen treibt?“, zischte die Hexe und musterte das Mädchen argwöhnisch.

„Wohl kaum, bei Euren engen Beziehungen zur Sonne“, lächelte Farbenfein der Grauen Hexe liebenswürdig ins Gesicht, da sie genau wusste, dass sie dies am allerwenigsten ausstehen konnte.

„Wo ist es?“, fauchte die Hexe wütend und wage ja nicht, mich zu anzulügen, sonst …“ Sie schickte sich an, weitere Blitze auf Farbenfein regnen zu lassen, als plötzlich der Schwamm in der Türschwelle erschien.

„Was ist wo?“, erkundigte sich Kratzer.

„Das Licht!“, brüllte Monotonia so unerwartet, dass sich ihr Diener versehentlich auf den eigenen Fuß trat und das Gesicht schmerzhaft verzog.

„Ihr werdet nie eine Antwort bekommen, wenn sie ihren Farbenschild um sich zieht“, zeigte sich der Schwamm überzeugt, während Farbenfein bereits mit neuen Blitzen rechnete.

„Die Frage ist, woher sie die Kraft nimmt, diesen Schutzschild zu schaffen!“, krächzte die Hexe und drehte sich zu Kratzer um. „Ich hätte schwören können, dass ich eklige Sonnenstrahlen gespürt habe, als ich diesen Raum betrat. Widerliches Licht, das sich hier irgendwo zwischen engen Steinritzen versteckt und vermutlich nur auf eine Gelegenheit lauert, um dieser Ausgeburt an Farbe zur Hilfe zu eilen!“

„Unmöglich, Euer Grauenhaftigkeit!“, versuchte der Schwamm seine Herrin zu beschwichtigen. „Eure undurchdringlichen Nebenschwaden halten die Mauern hermetisch abgeriegelt und lassen kein Sonnenlicht durch.“

„Und dennoch …“

„Ganz ausgeschlossen“, schüttelte der Schwamm seinen Kopf.

„Was meinst du dazu?“, beugte sich die Hexe zu Farbenfein hinunter und packte ihr Handgelenk, worauf das Mädchen entsetzt zurückwich und sich gegen die kalte Wand presste.

Das Schweigen, das kurz darauf entstand, senkte sich unheilvoll über die Kammer.

„Ich habe dich etwas gefragt!“, knallten die Worte der Hexe wie Hiebe auf Farbenfein hinunter.

„Ihr habt doch selbst gehört, was der Schwamm gesagt hat“, bemühte sich die Hüterin der Farben um Haltung und versuchte die Hexe so wenig wie möglich zu reizen. „Es ist völlig unmöglich, dass durch diese Mauern Licht kommt.“

„Dann habe ich mich wohl geirrt?“, geiferte die Hexe und ließ die Hand des Mädchens wieder los.

„Scheint so“, erwiderte Farbenfein mit einem kleinen Lächeln auf ihren Lippen.

Einen Augenblick lang betrachtete die Hexe ihre Gefangene eingehend und wandte sich dann langsam um. Bevor sie jedoch das Turmzimmer verließ, meinte sie in Richtung Farbenfein: „Du kannst nicht gewinnen, weil ich dich im Auge behalten werde. Und lass dir eines gesagt sein: Nur die Dunkelheit ist echt, Täubchen, das Licht scheint nur so!“

Mit diesen Worten verließ Monotonia den Raum und die Tür fiel abermals krachend ins Schloss. Im Turmzimmer wurde es wieder stockfinster und das Mädchen hörte, wie die Graue Hexe von dem Schwamm noch ein paar Anweisungen gab, deren Wortlaut sie nicht mehr genau verstand.

Froh, wieder allein zu sein und erleichtert darüber, dass ihr kleines Geheimnis noch eines war, hörte Farbenfein still in die Finsternis hinein, während sie sich vorsichtig nach vor beugte.

„Alle Dunkelheit der Welt kann das Licht eines einzigen Sonnenstrahles nicht auslöschen“, flüsterte sie in die Schwärze hinein, und die Gewissheit, dass irgendwo draußen der Märchenmaler gemeinsam mit seinen Gefährten nach einem Weg suchte, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, zauberte erneut ein kleines Lächeln auf ihre Lippen.

Der Märchenmaler

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