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4 Die Brafhörnchen mit „f“

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«Wer nicht zu sich selbst steht, verliert sich am Beispiel anderer.»

Ernst Moritz Arndt, deutschter Denker und Dichter (1769-1860)

Huf Farballa flog schnell wie der Wind mit Vincent und seinen Freunden auf dem Rücken durch die Luft. Zielstrebig suchte das Regenbogenpferd an der Spitze seiner Herde den kürzesten Weg zu den Blauen Erdhügeln, da es besser als jeder andere in Kolorien wusste, dass die Zeit drängte. Viel zu lange befand sich Farbenfein bereits in Gefangenschaft der Grauen Hexe und das Tier glaubte fast die Ängste und Qualen seiner Herrin am eigenen Leib zu verspüren. Während das Regenbogenpferd wie von einem großen Magneten angezogen durch die Lüfte jagte, genoss der Märchenmaler die herrliche Aussicht von oben, die von Pilobolus kommentiert wurde.

„Sieh’ doch, Vince!“, rief der Borstenpinsel und deutete nach rechts. „Direkt unter uns befindet sich der Blühende Berg. Hier zeigt sich Kolorien von seiner schönsten Seite!“

Der Künstler beugte sich leicht nach vor, und sein Blick folgte neugierig dem des Malpinsels nach unten. Aus tiefer Ebene erhob sich eine imposante Anhöhe, die bei genauerem Hinsehen aus unzähligen Terrassen bestand. Jede davon schimmerte in einer anderen Farbe, die ihre Leuchtkraft einer Unzahl von duftigen Blüten verdankte, welche sich von einer Ebene zur nächsten rankten und auf diese Weise das farbenprächtige Bild eines Blumenberges schufen, der zu hängen und zu schweben schien.

„Dieser Berg ist zu fantastisch, um wahr zu sein!“, rief Vincent begeistert, während er die außergewöhnliche Blütenfülle unter ihm bewunderte.

Unterdessen hielt Huf Farballa unbeirrt auf die Blauen Erdhügel zu, die sich im Südwesten des Landes befanden. Das Regenbogenpferd flog eilends über breite Waldstreifen, hinter denen sich grüne Felder und Blumenmeere in den schillerndsten Farben erstreckten. Harmonisch in die Landschaft unter ihnen eingebettet, verliefen zwei breite Bahnen, die durch einen Mittelstreifen, der aus zu kunstvollen Skulpturen und seltsamen Tieren geschnittenen Hecken und kleinen Bäumen bestand, voneinander getrennt waren. Parallel dazu wiegten sich sanft die leisen Wellen eines malerischen Flüsschens, das wie die Straße cyanblau im Sonnenlicht schimmerte. Vincent war von der lieblichen Landschaft mehr als angetan und verspürte augenblicklich den Wunsch, sich ein wenig die Beine zu vertreten, um die pittoreske Idylle aus nächster Nähe betrachten zu können.

„Ich würde gern auf der Straße dort unten ein bisschen spazieren gehen. Ab liebsten vom Anfang bis zu ihrem Ende“, teilte er seinem Zeichenblock hinter ihm mit.

„Glaube ich nicht“, lächelte Barock wissend, „da es mehrere Jahre dauert, um sie abzulaufen. Sei froh, dass du das nicht zu Fuß tun musst, sondern ein Regenbogenpferd unter dir hast. Die Cyanstraße ist übrigens eine der neun Hauptstraßen, die den Süden mit dem Norden des Landes verbinden, und gehört zu den wenigen, die sich noch in einem halbwegs guten Zustand befinden.“

„Wohin führt diese Straße?“, erkundigte sich der Maler neugierig.

„Nach Belle Couleur, unserer Hauptstadt“, antwortete Barock und zeigte nach Süden.

„Belle Couleur“, flüsterte der junge Mann und stellte sich eine farbenprächtig Stadt mit kunstvollen Häusern und Türmen, malerischen Gassen und Bogengängen vor. „Klingt schön!“

„Belle Couleur ist schön. Wunderschön“, erwiderte der Zeichenblock mit einem verträumten Blick. „Obwohl auch unsere Hauptstadt unter Monotonias ständigen Angriffen zu leiden hat“, fügte er verbittert hinzu. „Immer wieder versuchen ihre Grauschatten und Farbenfresser, Belle Couleur unter ihre Kontrolle zu bringen, doch bisher ist es Oborona immer geglückt, ihre Attacken abzuwehren und eine feindliche Übernahme zu verhindern.“

„Dieser Oborona ist bestimmt ein sehr tüchtiger und tapferer Mann“, erwiderte Vincent, worauf der Zeichenblock seinen Kopf schüttelte. „Oborona ist eine Frau, sehr energisch und entschieden“, klärte Barock den Maler auf. „Sie ist Statthalterin von Belle Couleur und lässt sich eher in einem Fass Farbe ertränken, als Koloriens Hauptstadt der Grauen Hexe und ihrer Sippe zu überlassen.“

„Verstehe!“, erwiderte der junge Mann.

„Wir sind gleich da!“, unterbrach Huf Farballa Vincents Gespräch mit Barock. „Vor uns liegen die Blauen Erdhügel“, worauf die Köpfe seiner Fluggäste beinahe automatisch nach vorn gedreht wurden, um einen Blick auf die berühmten Erdbuckel zu erhaschen. Tatsächlich entdeckte der Maler dreizehn große, gleich hohe Hügel am Boden, die durch niedrige Wälle miteinander verbunden waren und an das Bild eines schlafenden Riesen mit ausgebreiteten Armen erinnerten. Die Erdlagen, welche die Hügel bildeten, schimmerten in verschiedenen Blauschattierungen von blassblau über hell-, kobalt- und mitternachtsblau bis hin zu bläulich-lila und wurden von sonnenblumenartigen Pflanzen umrahmt, deren gelbe Blütenköpfe einen reizvollen Kontrast zum Blau der Erdhügel bildeten. Ein paar Augeblicke später setzte Huf routiniert zur Landung an. Nachdem das Regenbogenpferd Vincent und seinen Gefährten signalisiert hatte abzusitzen, glitt der junge Mann schnell von dessen Rücken und spürte augenblicklich eine magische Anziehungskraft, die von den Aufschüttungen ausging und greifbar in der Luft lag. Allzu gerne hätte er ein Blatt Papier in die Hand genommen und die märchenhafte Atmosphäre um ihn herum mit Pinsel und Farbe eingefangen. Anstatt dessen bückte er sich, nahm ein wenig Erde in die Hand und ließ sie langsam durch seine Finger gleiten.

„Echt blau“, flüsterte er ungläubig und starrte mit offenem Mund auf seine Hand.

„Blau steht für die Treue, mit der Kolorien zur Hüterin der Farben steht“, teilte Huf dem Märchenmaler mit. „Es gibt eine Weissagung, die besagt, dass sich der Blaue Riese erheben wird, wenn Farbenfeins Leben in Gefahr ist.“

„Der blaue Riese hat sich bereits erhoben!“, hörte Vincent plötzlich hinter sich eine Stimme. Doch als er sich umdrehte, konnte er niemanden entdecken. Er spürte lediglich einen Luftzug, offenbar von jemandem erzeugt, der sich gerade in Luft aufgelöst hatte.

„Was war das?“, sah Vincent ängstlich in die Gesichter seiner Freunde.

„Ein Federmännchen, kein Grund zur Sorge“, wurde er von Pilobolus beruhigt. „Sie sind harmlos. Trotzdem rate ich dir, mir dicht auf den Borsten bleiben, da man nie so genau weiß, was einem im nächsten Augenblick erwartet.“

„Dafür weiß ich es und zwar zwei hinter deinen Stiel!“, kündigte eine erboste Sonnenblume an, „wenn du deine Fransen nicht sofort von meinen Wurzeln herunterbewegst und mir aus der Sonne gehst!“

„Sind wir heute aber empfindlich!“, trat der Malpinsel schnell zur Seite.

„Wieso habe ich das Federmännchen nichtgesehen?“, wollte der Maler wissen, nachdem er kurz einen verwunderten Blick auf die sprechende Blume geworfen hatte.

„Weil diese Dinger schneller durch die Gegend hüpfen, als du schauen kannst!“, schmunzelte Pilobolus. „Leider gibt es nicht mehr viele von ihnen in Kolorien und das verdanken wir ausschließlich der Grauen Hexe.“

Vincent musste unwillkürlich an Farbenfein denken und senkte, von Schuldgefühlen geplagt, seinen Blick. Nur ein paar Pinselstriche hätte es gebraucht, um sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, doch anstatt sie zu malen, hatte er sie fortgeschickt und ihrem Schicksal überlassen. Das war unverzeihlich, worauf seine Schultern augenblicklich nach unten sanken.

„Bekümmert dich etwas, Vincent?“, hörte der Märchenmaler das Huf Farballa fragen, doch der junge Mann gab keine Antwort, denn das Gewicht seiner Schuld lastete erdrückend auf ihm. Zögernd versuchte er sich aufzurichten, als unvermittelt die Erde unter ihm nachließ und er blitzartig im Boden versank. In aufkommender Panik bot Vincent seine ganze Kraft auf, um sich an irgendetwas festzuhalten. Leider umsonst. Er vernahm noch einen schrillen Warnschrei seiner Zeichenfeder, dann verschwand er vor den entsetzten Augen seiner Gefährten. Der junge Mann sank tief und tiefer, ohne zu wissen, wohin. Als er schließlich wieder festen Boden unter seinen Füßen verspürte, war es um ihn herum dunkel. Und still. Unheimlich still. Ein langer Augenblick verstrich, und Vincent konnte nur sein Herz vor Angst pochen hören. Doch für den Moment blieb ihm nichts anderes übrig als abzuwarten. Offensichtlich befand er sich in einem unterirdischen Gang, stand mit dem Rücken zur Wand und holte erst einmal Luft. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er glaubte Umrisse zu erkennen.

„?ad nned riw nebah new, aN“, vernahm er eine Stimme.

„?nessiw sad chi llos rehoW“, gab eine andere zurück.

Vincent drehte seinen Kopf zur Seite und suchte in der Dunkelheit nach den Besitzern der Stimmen. Erschrocken entdeckte er in seiner unmittelbaren Nähe zwei dunkle Silhouetten und blickte in zwei behaarte Gesichter mit funkelnden Augen.

„!ollaH“, wurde er von einem grünen Farbhörnchen begrüßt.

„Spanier?“, erkundigte sich Vincent vorsichtig.

„nieN“, entgegnete das Hörnchen.

„Holländer?“, wagte der Märchenmaler einen zweiten Versuch.

„!schlaf redeiw nohcS“

Da Vincent eine solche Sprache nie zuvor in seinem Leben gehört hatte, fiel es ihm schwer, sie einem Land zuzuordnen. Davon abgesehen, hatte er noch nie jemanden mit Schnauze im Gesicht reden hören. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

„Ihr seid die Braf-Hörnchen mit «f», erhellte sich seine Miene, und er gewahrte im Halbdunkel, wie die beiden Tierchen ihre Köpfe zusammensteckten.

„?sad re ßeiw oseiW“, hörte Vincent das grüne Hörnchen flüstern.

„?chod nhi garF“, murmelte das gelbe.

„!chod nhi ud garF!“, brummte ersteres.

„!elhefeB eniek rim tslietre uD“, ereiferte sich das andere und auch ohne ihre Sprache zu verstehen, begriff Vincent, dass sich die beiden in den Haaren lagen. Oder im Fell. Die angespannte Situation veranlasste den jungen Mann sich in das Gespräch einzuschalten. Dass er dabei Threkrev sprechen musste, verunsicherte ihn ein wenig. Nichtsdestotrotz war er gewillt, im Streit der beiden Hörnchen zu vermitteln. Während er sich einredete, dass es nicht allzu schwer sein konnte, die eigene Sprache verkehrt herum zu sprechen, gerieten die beiden Farbhörnchen immer mehr aneinander und wurden immer lauter.

„Allo, chi ibn tencinV“, versuchte sich der Maler vorzustellen und fand, dass dies vielleicht doch keine so gute Idee war, obwohl die beiden Hörnchen sofort verstummten.

„rednälsuA nie, ejO!“, verdrehte das erste seine Augen und das zweite meinte boshaft: „Was soll denn Vnicnet für ein Name sein?“

Vincents Gesicht wurde feuerrot. Ein Muskel zuckte in seinem Gesicht und verriet, dass ihm die Situation peinlich war.

„Ich heiße Vincent!“, erwiderte er verlegen und suchte im Dunkeln nach seinen Füßen.

„Was machst du hier, Vincent?“, erkundigte sich das gelbe Hörnchen.

„Das frage ich mich auch“, stammelte der junge Mann und hob seinen Kopf.

Vier dunkle Augen ruhten argwöhnisch auf ihm und schienen ihn regelrecht zu durchbohren.

Vincent stockte der Atem. Verflixt, in welchen Schlamassel war er nun wieder geraten? Er runzelte seine Stirn, während sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengrube breit machte. Sein Herzschlag hatte sich immer noch nicht beruhigt, und sein Blick suchte im Dunkeln nach den beiden Tieren, die ihn scharf beäugten. Da keines der beiden Anstalten machen, das Wort an ihn zu richten, ergriff er die Initiative: „So wie es aussieht, habe ich mit verirrt. Muss aber wieder nach oben, da meine Freunde auf mich warten!“, deutete er mit dem Zeigefinger hinauf. „Kann mir vielleicht jemand sagen, wo hier der Ausgang ist?“

„!tsi re ow, neffirgeb tchin chon tah re, ebualg chI“, meinte schließlich das grüne Hörnchen und schüttelte seinen Kopf, während ihn das andere immer noch misstrauisch anglotzte. Doch was auch immer ihre Absicht sein mochte, war der Maler nicht gewillt, sich von ihnen Angst einjagen zu lassen, obwohl sie beide ein gutes Stück größer waren als er.

„Könnt ihr mir bitte sagen, wo ich mich befinde?“, fragte er ungeduldig, da ihm die Zeit davonlief.

„Du befindest dich in einem unserer Geheimgänge, in denen Farbe geschmuggelt wird“, erklarte ihm das grüne Hörnchen. „Da auf Farbschmuggel in Kolorien der Tod steht, wirst du sicherlich Verständnis dafür haben, dass wir dich nicht einfach davon spazieren lassen können, damit du uns womöglich an die Farbgestörte verrätst.“

„An wen?“

„An Monotonia“, erwiderte das Tierchen mit grollender Stimme.

Vincent schluckte und ein furchtsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er versuchte die Gänsehaut zu ignorieren, die seine Linien erfasst hatte, während allmählich in sein Bewusstsein drang, dass ihm in seiner Sprache geantwortet wurde.

„Ihr sprecht ja so wie hci ... äh ich!“, stellte er fest, während er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

„Bleibt uns nichts anderes übrig, da dein Trhekrev noch schlechter ist als jenes der Farbenfresser“, erhielt er spöttisch zur Antwort.

„?sol reih tsi saW“, vernahm Vincent plötzlich ein weiteres Hörnchen und beobachtete erstaunt, wie alle drei aneinander ihre Nasen rieben und die Köpfe zusammensteckten.

„!nennök uz nelhetsgew hcis ,nun tbualg dnu nehcorbegnie Metsys resun ni tsi rugifztiW enei os dengrI“, wurde ihm geantwortet.

„?nemaN nenie rutakiraK eid taH“, wollte der Neuankömmling wissen, der offenbar ein ranghöheres Farbhörnchen war, was die gebeugten Köpfe und gesenkten Stimmen der beiden kleineren Tiere signalisierten.

„Die Karikatur heißt Vincent!“, rief der Maler, der den Großteil der Frage verstanden und sich den Rest zusammengereimt hatte. „Und sie muss sofort nach oben, da Farbenfeins Leben und Koloriens Existenz auf dem Spiel stehen!“

„!tnecniV“, stieß das dritte Hörnchen ungläubig hervor und wurde um sein Schnäuzchen ganz blass. „Vincent, der Märchenmaler?“

„Richtig!“, antwortete der junge Mann und wunderte sich, warum er schon wieder als Märchenmaler bezeichnet wurde, während die drei Farbhörnchen abermals ihre Köpfe zusammensteckten.

„!enefureB red tsi rE“, hörte er das dritte Hörnchen flüstern, worauf ihm die anderen beiden sogleich ehrfurchtsvolle Blicke zuwarfen. Auf einmal wurde es im Gang schlagartig heller und der junge Mann sah drei schön gezeichnete Farbhörnchen in den Farben grün, gelb und rot mit schwarzen Längsstreifen, weißen Bauchseiten und buschigen Schwänzen.

„Warum sagst du das nicht gleich!“, rief das rote Hörnchen und reichte Vincent seine Pfote. „Willkommen im Untergrund. Darf ich mich vorstellen? 111. Fremden-Polizei. Immer zur Stelle – für den Fall der Fälle. Wie kann ich behilflich sein?“

Vincents Anspannung löste sich bei diesen Worten in Luft auf. „Ich muss nach oben zu meinen Freunden. Schnell.“

„Wer sind deine Freunde?“, wollte das gelbe Hörnchen wissen.

„Pilobolus, der Pinsel, Filomena, die Feder und Barock, der Zeichenblock!“

„Sind alle drei bekannt, steckbrieflich gesucht im ganzen Land“, lächelte 111 matt und bellte den beiden anderen kurze Befehle zu, worauf diese mit ihren scharfen Krallen sogleich einen Gang nach oben zu graben begannen.

„Wir bringen dich zu deinen Freunden“, versprach das rote Farbhörnchen, setzte sich aufrecht auf seine Hinterbeine und beobachtete, wie die beiden anderen einen Ausgang nach oben wühlten. Schließlich hob 111 sein Pfötchen und deutete Vincent, ihm zu folgen.

Pilobolus schaufelte wie verrückt und hoffte inständig, dass Vincent ausreichend Luft bekam. Seine Finger waren bereits durchsichtig und sein Blick fest auf die blaue Erde unter ihm gerichtet. Filomena unterdrückte den Drang, in Tröpfchen auszubrechen und hob, so schnell sie konnte, Erde aus einer bescheidenen Vertiefung, während Barock mit seinen Fäusten zornig auf die Erde einschlug, und damit noch weniger erreichte als die Zeichenfeder.

„So wird das nichts“, wieherte Huf und warf einen Blick auf die bescheidenen Grabversuche seiner Freunde. „Das geht viel zu langsam!“

„Ich bin ja auch kein Maulwurf, sondern eine Feder!“, beschwerte sich Filomena. Sie war müde, erschöpft und glaubte, bei der geringsten Berührung zerbröckeln zu müssen. Dennoch grub sie weiter und schaufelte mit ihren bloßen Händen blaue Erde aus dem Boden.

„Soll ich auch helfen zu graben?“, fragte plötzlich eine bekannte Stimme hinter ihr.

„Sollst du“, antwortete die Zeichenfeder mechanisch und deutete auf den freien Platz neben ihr. „Schnell, wir müssen Vincent retten, falls er noch zu retten ist!“ Plötzlich hielt sie mitten in ihrer Bewegung inne und drehte sich um: „VINCENT?“

„Du kannst aufhören, mich zu retten, Filomena“, lächelte der Maler und sah ihr ins gerötete Gesichtchen. „Vincent!“, rief sie erleichtert und fiel ihm um den Hals. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Du hättest tot sein können!“

„Ist er auch gleich, wenn er mir noch einmal so einen Schrecken einjagt!“, kündigte Pilobolus an und betrachtete verärgert seine vom Graben geschundenen Hände. „Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?“, meinte er in die Richtung des Malers verstimmt.

„Ich wollte euch nicht ängstigen!“, entschuldigte sich Vincent, während er sich behutsam aus Filomenas Umarmung löste.

„Das tust du aber, wenn du vor unseren Augen im Boden verschwindest“, brummte Barock und zupfte an seinen Blättern, um sich zu beruhigen.

Vincent wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Natürlich war ihm klar, dass sich seine Freunde Sorgen machten, dennoch fühlte er sich nicht wirklich schuldig.“

„!rüfad sthcin nnak rE“, ertönte es neben dem Maler aus der Erde, und kurz darauf steckte 111 seinen roten Schopf heraus. „ !tsi nellafegnie egnäG reresnu renie aD“

„Sagittarius“, wieherte Huf Farballa, während sein Blick hoch erfreut auf dem Farbhörnchen ruhte. „Was für eine Überraschung!“ Auch das Hörnchen freute sich sichtlich, das Regenbogenpferd zu sehen, da es augenblicklich von einem Ohr zum anderen strahlte. Kaum jemand in Kolorien erinnerte sich an die Namen der Farbhörnchen, da sie seit Monotonias Machtübernahme aus Sicherheitsgründen nur Zahlenkombinationen als Namen benutzten. Doch das Regenbogenpferd, das seit jeher gute Kontakte zu den possierlichen Tierchen pflegte, kannte viele von ihnen beim Namen aus friedlichen Tagen.

„Zur Abwechslung mal eine angenehme!“, gab 111 zurück, während er dem Pferd freundschaftlich zunickte und gleich darauf aufmerksam seinen Blick über das Sonnenblumenfeld gleiten ließ.

„!ollaH“, wurde Sagittarius nun auch von Filomena, Pilobolus und Barock herzlich begrüßt. 111 schaute zu ihnen auf und erwiderte ihren Gruß, während sein Blick an Pilobolus’ Borsten hängenblieb, die vom Graben ziemlich zerzaust waren. „Siehst ein bisschen mitgenommen aus, Pilo!“, stellte das Hörnchen fest. „Da sieht sogar dein Steckbrief besser aus als du!“

„Ich bin ja auch ein Pinsel und keine Schaufel“, konterte der Angesprochene und warf dem Hörnchen einen verdrossenen Blick zu. „Vielleicht solltet ihr eure Tunnel so anlegen, dass sich Normalstrichlierte nicht den Hals brechen, wenn sie zufällig darüber stolpern.“

Der freundliche Gesichtsausdruck des Erdhörnchens verschwand sogleich, und es zwang sich zu einem ausdruckslosen Lächeln. „Du bist aber nicht hierher gekommen, um dich in die Bauweise unserer Gänge einzumischen“, funkelte das Hörnchen den Pinsel an.

„Nein, ich bin hier, weil ich eine Karte brauche!“, kam Pilobolus gleich zur Sache und sah erwartungsvoll auf das Farbhörnchen hinunter.

„Was denn für eine Karte?“, gab 111 vor, keine Ahnung zu haben.

„Dreimal darfst du raten!“

„Was willst du denn mit einer Ansichtskarte?“, erkundigte sich das Hörnchen fadenscheinig. „Der Hexe nette Grüße von den Blauen Erdhügeln schicken?“, fügte es spöttisch hinzu. Pilobolus seufzte und ärgerte sich über sich selbst, mit der Erde in die Grube gefallen zu sein. Es wäre taktisch viel besser gewesen, Huf um die Karte bitten zu lassen, da er einen besseren Draht zu den Farbhörnchen hatte und zudem wusste, dass allein wie eine Bitte vorgetragen wurde, bei diesen Tieren viel wichtiger war, als die Bitte selbst. Der Borstenpinsel warf dem Regenbogenpferd schnell einen Hilfe suchenden Blick zu und Huf verstand augenblicklich.

„Wir brauchen keine Ansichtskarte, sondern eine Landkarte von Kolorien und das möglichst schnell“, beantwortete er anstelle des Pinsels Sagittarius’ Frage.

„?thcin eis thcuarb reW“, schenkte das Hörnchen dem Pferd ein dünnes Lächeln, und an seiner Miene war deutlich abzulesen, dass es nicht gewillt war, ihm eine solche Karte zu überlassen. Huf Farballa enthielt sich einer Antwort, denn der Blick, den 111 dem Pferd zuwarf, machte klar, dass seine Entscheidung bereits getroffen war. Huf kannte Sagittarius gut genug, um zu wissen, dass die Schlacht, noch bevor sie begonnen hatte, verloren war und er unter keinen Umständen die gewünschte Karte erhalten würde. Enttäuscht blies er durch seine großen Nüstern. Pilobolus fing den resignierten Blick des Regenbogenpferdes auf und ärgerte sich, obwohl er sich äußerlich große Mühe gab, dies nicht zu zeigen. Nun versuchten Filomena und Barock eindringlich Sagittarius umzustimmen, doch das Farbhörnchen behauptete störrisch, keine Karte von Kolorien zu besitzen. „Selbst wenn ich eine hätte“, fügte es entschieden hinzu, „wäre es hier viel zu gefährlich, sie an euch weiterzugeben!“

Vincent, der Sagittarius zu großem Dank verpflichtet war, da er ihn zu seinen Freunden gebracht hatte, sah das Farbhörnchen unzufrieden an. Der Maler wusste, dass eine Karte sehr wichtig war, um sich in Kolorien zurechtzufinden. Wenn sie nun keine erhielten, dann ... Augenblicklich krampfte sich sein Magen zusammen und sein Kopf weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu führen.

„Du hast recht“, meinte er schließlich in Richtung 111, „eine solche Karte ist viel zu kostbar, um sie aus den Händen zu geben.“

„Oder aus den Pfoten“, lächelte das rote Farbhörnchen glatt. Vincent registrierte erfreut, wie die Miene des Tiers wieder etwas weicher wurde. Der Maler sagte darauf nichts und eine Ewigkeit schien zu verstreichen.

„So ein Unsinn“, zerbrach Pilobolus und die Stille. „Jeder in Kolorien weiß, dass du dich im Besitz einer solchen Karte befindest“, schrie er Sagittarius an, „und wenn du sie nicht auf der Stelle rausrückst, stöpsel ich dir sämtliche Ein- und Ausgänge mit Schwabbelschleim zu!“, drohte er dem Farbhörnchen, dessen Blick sich augenblicklich wieder verdüsterte.

„!meilschlebbawscH, häW“, riefen das grüne und gelbe Hörnchen entsetzt, die mittlerweile auch ihre Köpfe aus dem Boden gesteckt hatten.

„!meilhcslebbbawhcS tßieh saD“, wurden sie von Sagittarius belehrt. „!negirtseggiwE ned ieb run rebA!“, erwiderte das grüne Hörnchen vorlaut, worauf beide sofort ihre Köpfe in der blauen Erde verschwinden ließen.

„Worum geht’s?“, erkundigte sich Vincent, der das untrügliche Gefühl hatte, irgendetwas verpasst zu haben.

„Sie liegen sich gerade wegen des alten Graphem-Phonemdisputs in den Haaren“, wurde ihm von Barock erklärt. „Die Farbhörnchen streiten sich immer wieder um die Aussprache von Reibelauten wie „sch“ oder „ch“. Traditionell wird „sch“ als „hcs“ und „ch“ als „hc“ ausgesprochen, was einige der Hörnchen jedoch unmöglich finden und deshalb „sch“ und „ch“ als Phonem auslegen und dieses beim Rückwärtssprechen auch als „sch“ bzw. „ch“ aussprechen. Doch die Konservativen unter den Hörnchen missbilligen eine solche Aussprache und betrachten sie als Verunglimpfung von Trhekrev, weshalb auch immer wieder hitzige Debatten geführt werden, wobei sich die Phasen strikter Ablehnung mit Zeichen von Gesprächsbereitschaft unter den Hörnchen kontinuierlich abwechseln.“

„Klingt irgendwie vertraut“, lächelte Vincent und musste an die durch die Schlechtschreibreform ausgelösten, hitzigen Diskussionen zu Hause denken. „Wir diskutieren auch regelmäßig bezüglich der Regeln unserer Sprache, wobei die Rechtschreibung ab und zu mit halbherzigen Reförmchen modernisiert wird, sodass sich bei dem ganzen Wirrwarr an Änderungen am Ende niemand mehr auskennt.“

„Ist euer Problem! Weil ich schon genug mit der Verunglimpfung unserer Geheimsprache am Hals habe!“, hörte Vincent das rote Hörnchen sich ereifern.

„Das war jetzt aber kein Zeichen von Gesprächsbereitschaft“, stellte Vincent fest.

„Weil Farbhörnchen dieses Wort auch nur vom Hörensagen kennen!“, mischte sich Pilobolus ein.

„Das ist nicht wahr!“, verteidigte sich 111 und warf dem Borstenpinsel einen gekränkten Blick zu.

„Ist es doch!“, entgegnete der Malpinsel und hielt dem beleidigten Blick des Hörnchens stand. „Oder kannst du mir vielleicht erklären, warum in der Bilderschrift Koloriens das Zeichen für Streit ein Erdhügel und zwei Farbhörnchen sind?“

Sagittarius enthielt sich einer Antwort, und es war ihm deutlich anzusehen, dass er verstimmt war. „Nur zu deiner Information. Wir sind viel besser als unser Ruf!“, gab er pikiert zurück.

„Dann beweise es doch, und verschaffe uns eine Karte!“, forderte ihn Pilobolus heraus. Das Farbhörnchen schien kurz zu überlegen, doch seiner Miene war nicht abzulesen, was es dachte.

„Wozu braucht ihr denn diese Karte?“, fragte es und sah den Malpinsel aus schmalen Augen an.

„Wozu wohl?“, schnaubte Pilobolus und gestikulierte wild mit seinen Armen. „Zum Löcher in die Erde graben bestimmt nicht!“

„Könntest du wohl einen Moment lang aufhören, dich wie ein Klobesen aufzuführen“, unternahm Filomena einen vergeblichen Versuch, den Pinsel zur Vernunft zu bringen. Doch Pilobolus bedachte sie nur mit einem finsteren Blick.

„Vielleicht bin ich ja wirklich verrückt, meine Zeit mit einem Q zu vergeuden, während Kolorien buchstäblich die Farbe runter geht!“

„Pilobolus!“, riefen Filomena und Barock entrüstet auf und auch Huf Farballa zeigte sich von der Wortwahl seines Freundes sichtlich schockiert. Nur Vincent verstand die Aufregung nicht, da er die Empörung seiner Freunde nicht nachvollziehen konnte.

„Ihr tut ja alle so, als wäre ein Q etwas Unanständiges“, runzelte er seine Stirn und warf einen verwunderten Blick in die Runde.

„Als Q bezeichnet zu werden, ist mehr als unanständig!“, stellte Filomena klar. „Ein Q ist ein ganz gemeines Schimpfwort, eine unerhörte Beleidigung und bedeutet soviel wie Null mit Schwänzchen“, erklärte Filomena bestürzt, während sie reglos neben dem Maler stand und Pilobolus entsetzt anstarrte. Nun waren alle Chancen, eine Koloritkarte zu erhalten, vertan, und diese Tatsache erzürnte sie sehr.

„Ihr scheint mir hier alle ein wenig unverträglich zu sein“, stellte Vincent fest.

„Das war nicht immer so“, versuchte sich Filomena zu entschuldigen. „Kolorien war lange Zeit ein Paradies der Farben und Harmonie. Streit und Zwietracht kannten wir lediglich aus Büchern. Doch seit Monotonia uns ihre Herrschaft aufgezwungen hat, ist es grau und kalt bei uns geworden, leider auch in den Herzen der Bewohner. Der Hass zieht auf und mit ihm Hader und Zwietracht, und wo immer sie auftreten, zerstören sie unser Land.“

Filomena drehte schnell ihren Kopf zur Seite, damit Vincent nicht sah, wie sie zu tropfen begann. Es entging ihm dennoch nicht, weshalb er ihr schnell sein Taschentuch reichte und sah, wie sie ihr Näschen säuberte.

„Geht’s wieder?“, fragte er mitfühlend, während sie sich schnell ein paar Tröpfchen aus dem Gesichtchen wischte.

„Mhm“, versicherte sie ihm, obwohl ihre geröteten Augen sie Lügen straften.

„Sie hat leider recht“, seufzte das Erdhörnchen. „Wir liegen uns tatsächlich viel zu oft im Pelz und das wegen jeder Kleinigkeit, obwohl wir unsere Zeit viel sinnvoller nützen sollten.“

„Hört, hört!“, sah Huf Farballa auf und warf dem Hörnchen einen hoffnungsvollen Blick zu.

„Deswegen werde ich dem Einfaltspinsel da drüben auch das Q nachsehen, da wir trotz allem auf derselben Seite stehen.“

„Ich stehe mit niemandem auf derselben Seite, der mich einen Einfaltspinsel nennt“, brauste Pilo auf, „du ...“, doch bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, wurde ihm von Filomena die Hand vor seinem Mund gehalten. „Du nachsichtigstes aller Farbhörnchen“, schmeichelte sie dem Tier und trat dem Pinsel in die Borsten.

„Aua!“, beschwerte sich dieser und warf der Zeichenfeder einen schmerzerfüllten Blick zu. „Steckst du mit dem da unter einer Tube?“, raunte er so leise, dass nur sie es hören konnte.

„Wieso, weil er dich einen Einfaltspinsel genannt hat?“, lächelte die Zeichenfeder verschmitzt. „Dafür muss ich mich mit niemandem in einer Tube stecken, sondern dir einfach ein paar Minuten zuhören!“

„Frechheit!“, schnaubte der Pinsel, während er nach einer gebührenden Antwort suchte.

„Reg dich ab“, zwinkerte sie ihm zu. „Hab’s nicht so gemeint.“

„Hast du doch!“, seufzte Pilo gekränkt.

„Lässt ihr uns an eurem Schwätzchen teilhaben oder ist das eine Party für zwei?“, mischte sich Barock in das Geflüster der beiden ein.

„Nein, ist es nicht!“, erwiderte die Feder, während alle Blicke neugierig auf ihr ruhten. „Wir ...“

„Wir haben uns lediglich gefragt, ob es wohl möglich wäre, einen Blick auf eine Karte zu werfen, die 111 gar nicht besitzt“, fiel ihr der Malpinsel schnell ins Wort, und erhielt von Filomena prompt einen weiteren Stoß in seine Seite. Nun wanderten alle Blicke zum Farbhörnchen und ein jeder der Anwesenden wartete gespannt, wie es wohl reagieren würde.

„Einen Blick kannst du darauf werfen“, bot das rote Tier zu seinem maßlosen Erstaunen an. „Aber mehr nicht. Da diese Karte viel zu kostbar ist. Und keine faulen Tricks. So schlau wie ihr Borstenpinsel sind wir Brafhörnchen schon lange!“

Pilobolus starrte das Hörnchen einen Augenblick lang mit offenem Mund an, da er sein Glück kaum fassen konnte. Auch Huf Farballa glaubte, sich verhört zu haben. Dann ertönte unvermittelt ein schriller Pfeifton, worauf die beiden anderen Hörnchen ebenfalls ihre drolligen Schnäuzchen aus dem Boden steckten.

„!etraktiroloK eid tloh ettiB“, trug Sagittarius den beiden Hörnchen auf, während sein Auge wachsam die Umgebung absuchte. Das grüne Farbhörnchen sah 111 verdutzt an und auch sein Freund schüttelte ungläubig seinen Kopf. „?nerolrev dnatsreV nenies gitlügdne tztej Etor red taH?, fragte es das grüne Hörnchen außer sich.

„!thcin re taH“, erwiderte Sagittarius leicht verärgert, worauf die Köpfe sofort in der Erde verschwanden, um ein paar Sekunden später wieder mit einer geheimnisvoll schimmernden Rolle aufzutauchen. Abermals ertönte ein kurzes Pfeifen, worauf die Karte durch die Luft flog und wie von einem Magneten angezogen geradewegs in Sagittarius Pfote landete.

Alle Blicke ruhten nun gespannt auf der Karte, die Vincents Meinung nach Ähnlichkeit mit Papyrus hatte, jedoch irgendwie seltsam leuchtete.

„Bitte sehr – ein Blick und nicht mehr!“, raunte Sagittarius und rollte das ungewöhnlich schimmernde Stück in seiner Pfote auf, worauf sich ein ehrfürchtiges Staunen in den Gesichtern der Freunde abzeichnete.

„Ich werd’ verrückt!“, rief Barock wie vom Donner gerührt und ignorierte den Anflug von Nervosität, die seine Blätter erfasst hatte.

„Mir fliegen gleich die Borsten weg!“, stammelte Pilobolus und starrte wie vom Blitz getroffen auf die Karte vor ihm. Auch das Regenbogenpferd war dermaßen von den Hufen, dass es keinen Wieher hervorbrachte. Genau wie Filomena, der beim Anblick der Karte leicht schwindelte. Selbst Vincents Herz hörte einen Moment auf zu schlagen, so dass ihm das Atmen ein wenig schwer fiel, obwohl er nicht hätte sagen können, warum.

„Diese Karte wurde aus Kolorit gefertigt“, meinte der Zeichenblock ehrfurchtsvoll und sah Sagittarius völlig aus dem Häuschen an. „Ich dachte, solche Karten gäbe es gar nicht mehr und sie wären lediglich ein Mythos.“

„Das ganze Land ist ein Mythos“, lächelte das rote Farbhörnchen, doch es lag eine gewisse Traurigkeit darin.

„Was ist Kolorit?“, runzelte Vincent seine Stirn und kam sich wie das berühmte fünfte Rad am Wagen vorkam.

„Kolorit ist etwas ganz Besonderes!“, geriet Barock in Verzückung. „Es ist Licht gewordene Farbe“, schwärmte Filomena. „Und Farbe gewordenes Licht!“, lächelte Pilobolus verklärt und verneigte sich verspielt vor der Zeichenfeder, worauf sie ihm sanft ihre Hand auf seinen Arm legte und sich mit einer kühnen Halbwärtsdrehung in seine Arme ziehen ließ. Dann begannen sich die beiden zu drehen und ein Lied zu singen, in das auch Huf und Sagittarius freudig einstimmten:

Kolorit, Kolorit,

ist bei uns ein großer Hit,

sorgt für Stimmung, pure Wonne,

gleißt viel heller als die Sonne

und hält jede Zeichnung fit.

Kolorit, Kolorit,

gänzt und glitzert, lässt dich schweben,

freudig zittern und erbeben,

ist wie Farbendynamit

Kolorit, Kolorit, Kolorit.

Nagen an dir Sorgen

und die Zukunftsangst von morgen

weißt du vor Kummer nicht mehr ein

und nicht mehr aus.

Quälen dich gar fürchterliche Schmerzen,

brennt die Schmach tief drin in deinem Herzen,

darfst du am Leide nicht verzagen,

denn es ist alles zu ertragen,

mit Kolorit, Kolorit, Kolorit.

Kolorit, Kolorit

ist bei uns der große Hit,

vertreibt den Kummer

und die Sorgen

macht auf’s Leben Appetit

Kolorit, Kolorit

lässt dich fliegen, ohne Flügel

auf ’ner Wolke, über Hügel

ist der reinste Farbentrip

ein Fleckchen hier, ein Kleckschen da,

gleich fühlst du dich wunderbar.

Und das Leben wird erträglich,

Glück erfasst dich – schier unsäglich

dank Kolorit, Kolorit, Kolorit.

„Danke, das reicht!“, wurden sie von Barock unterbrochen, der noch nie ein guter Sänger war und dem beim Tanzen allein vom Zusehen schlecht wurde. Der Pinsel wirbelte die zierliche Zeichenfeder noch ein letztes Mal herum, bevor er außer Atem vor dem Zeichenblock innehielt.

„Na, wie war ich, Barock?“, wollte Pilo wissen und warf dem Block einen erwartungsvollen Blick zu.

„Wie eine Zahnbürste … beim Schornsteinfegen!“, nahm sich der Block kein Blatt vor den Mund, da ihm die Überheblichkeit des Borstenpinsels mächtig auf den Karton ging.

„Pah!“, schaubte Pilobolus verächtlich und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was versteht auch ein Zeichenblock von körperorientierter Ausdruckskraft?“

„Nichts“, konterte Barock, „und bin stolz drauf!“, fügte er bestimmt hinzu. „Dafür habe ich eine Ahnung von Karten, und deswegen sind wir hier, wenn ich Euer Tanzbein daran erinnern darf!“

„Spielverderber!“, rief der Malpinsel.

„Angeber!“

„Schluss jetzt damit? Wollt ihr euch weiterhin zanken oder einen Blick auf die Koloritkarte werfen?“, fragte Sagittarius und musterte die beiden kopfschüttelnd.

„Blick auf die Karte werfen“, waren sich Block und Pinsel einig.

„Also dann!“, teilte das Hörnchen den beiden mit, und deutete auch Filomena, Vincent und Huf näher zu kommen, die sich sogleich um 111 scharten, um einen Blick auf die geheimnisvolle Rarität zu werfen.

„Wir befinden uns hier“, zeigte das Farbhörnchen mit seinem Pfötchen auf eine blaue Stelle, doch Vincent schenkte seinen Worten kaum Beachtung. Erstaunt ruhte sein Blick auf der schönen Reliefkarte, die Städte, Straßen, Berge und Seen und viele andere Details dreidimensional darstellte. Was Vincent so verblüffte, war nicht das eigentümliche Leuchten der Farben oder die plastische Darstellung der geografischen Besonderheiten des Landes, sondern die Tatsache, dass sich die Karte veränderte. Und das beinahe augenblicklich. Ausgehend vom Westen her, dehnte sich eine Ansammlung grauer Flecken kontinuierlich aus und versuchte, möglichst viele bunte Flächen zu verschlingen. „Wir werden den Sieg erringen“, schien ihre eindeutige Absicht zu sein, doch die bunten Flecken ließen sich diesen nicht so leicht aufzwingen, stellten sich mutig den grauen Flächen und drängten diese zurück, wo immer sie auf sie trafen. Ungeachtet aller Widrigkeiten bahnten sich die farbigen Felder ihren Weg in die grauen Zonen, bis sie ihrerseits wieder auf Widerstand stießen und von diesen verschluckt wurden. Die Konfrontation forderte den bunten Feldern einiges ab; viele verloren an Farbe, wurden beinahe durchsichtig oder verschwanden zur Gänze. Doch nur um an anderer Stelle wieder aufzutauchen, farbiger, schöner und leuchtender als je zuvor.

„Das sieht lustig aus!“, fand Vincent und beobachtete, wie ein grauer Fleck von zwei roten, drei violetten und einem blauen regelrecht umzingelt wurde und kurz darauf von der Kartenoberfläche verschwand.

„Ist es aber nicht“, erwiderte Sagittarius ernst. „Es herrscht Krieg in unserem Land, und Krieg ist niemals lustig!“

„Das weiß ich“, erwiderte der Maler mit gedämpfter. Einmal mehr war er voll ins Fettnäpfchen getreten und kam sich wie ein Idiot vor.

„Was er jedoch nicht weiß“, warf Pilobolus ein, „ist, dass er in diesem Krieg unsere Geheimwaffe ist. Mit seiner Hilfe werden wir Monotonia die Stirn bieten und sie für immer aus Kolorien hinausmalen!“ Der Maler, der sich sehr über Pilobolus’ Vertrauen in ihn freute, hob ein wenig seinen Kopf und schenkte dem Pinsel ein halbes Lächeln.

„Ich hoffe nur, dass der Märchenmaler deiner hohen Meinung gerecht wird und das möglichst bald, da gerade die Hauptstadt von Monotonias Schergen angegriffen wird“, lehnte sich das Farbhörnchen nach vor und zeigte auf Belle Couleur, das tatsächlich von einem Ring grauer Flecken belagert wurde.

„Ich muss sofort aufbrechen“, wieherte Huf aufgebracht. „Oborona braucht meine Hilfe“. Und schon erhob er sich in die Luft, worauf ihm die übrigen Regenbogenpferde, die sich in der Zwischenzeit in der Nähe ein wenig ausgeruht hatten, folgten.

„Was … was hat das zu bedeuten?“, wollte Vincent wissen und sah den Tieren besorgt nach.

111 reckte überrascht sein Stupsnäschen nach vor. „Du verstehst wohl immer noch nicht, Märchenmaler?“

Vincent schob eine Augenbraue in die Höhe und runzelte seine Stirn. „Was soll ich nicht verstehen?“, sah er das Tier verwundert an. „Die Karte spiegelt wider, was im Land vor sich geht und zeigt jeden Fleck bzw. jede Änderung an.“

„Nein, das kann nicht sein“, schüttelte Vincent seinen Kopf. „Keine Karte kann das!“ Dann warf er abermals einen Blick nach unten und sah, wie immer mehr graue Flecken Belle Couleur einkesselten.

„Diese schon!“, meinte das Farbhörnchen schnell und summte leise die Melodie des Koloritliedes. Der junge Mann begann zu verstehen. Jetzt begriff er auch das ehrfürchtige Staunen, das sich allein bei der Erwähnung der Karte auf den Gesichtern seiner Freunde abgezeichnet hatte. Ungläubig blickte er auf die schimmernde Landkarte hinunter. „Wo wird Farbenfein gefangen gehalten?“, fragte er leise.

„Hier, in Tristesse, der Burg der Schatten“, zeigte Sagittarius mit seiner Pfote auf eine düstere Befestungsanlage im Westen, die in dichte, graue Nebelschleier gehüllt war. „Was hast du nun vor, Märchenmaler?“, wollte das Farbhörnchen wissen, während sein Blick fest auf den jungen Mann gerichtet war.

Vincent zog seine Brauen zusammen. Erwartungsvoll warteten seine Freunde auf eine Antwort. Der Künstler starrte auf die Karte. Bis vor kurzem hatte er weder ein Ahnung von Kolorien noch von seiner bezaubernden Hüterin gehabt, und jetzt befand er sich mitten in einem Krieg, der nicht der seine war. Während Vincent über eine Antwort nachdachte, registrierte er beiläufig, wie die grauen Flecken um Belle Couleur immer mehr wurden. Innerlich drängte es ihn, sofort den Regenbogenpferden in die Hauptstadt zu folgen, um Huf in seinem Kampf gegen die Grauschatten und Farbenfresser zu unterstützen. Andererseits, sagte er sich, würde sich damit an der bestehenden Situation nichts ändern. Immer mehr wurde ihm bewusst, dass es nur einen Weg gab, den Frieden in Kolorien wieder herzustellen, und dieser führte direkt nach Westen, nach Tristesse, in die Hochburg der Grauen Hexe.

„Ich gehe nach Westen“, ließ der Märchenmaler seine Freunde wissen und zeigte mit seiner rechten Hand auf die in undurchdringliche Nebel gehüllte Festung, obwohl er innerlich von der Richtigkeit seiner Entscheidung nicht vollständig überzeugt war, jedoch angestrengt versuchte, zumindest so auszusehen.

Pilobolus riss die Augen auf. „Nur über meine Borsten!“, rief er aufgebracht.

„Das ist unüberlegter Wahnsinn!“, meinte Filomena bestürzt und auch Barock sah ziemlich betroffen aus.

„Ich hätte wissen müssen, dass ein Gespräch mit euch reine Zeitverschwendung ist“, seufzte Sagittarius und machte Anstalten, wieder in der Erde zu verschwinden. „Ruft mich, wenn jemand mit Hirn zwischen den Ohren vorbei kommt.“

„Warte!“, hielt Vincent das Tier zurück, worauf sich 111 ruckartig umdrehte. „Du musst mir sagen, wie ich am schnellsten nach Tristesse gelange!“, bat ihn der Maler und der eindringliche Unterton in seiner Stimme machte deutlich, dass er kein Verständnis dafür hatte, wenn das Hörnchen ihm seine Bitte abschlüge.

„Muss ich nicht!“, verdüsterte sich 111s Blick, während er energisch seinen Kopf schüttelte. Obwohl er Farbenfein treu ergeben war und sich wie kein anderer für die Freiheit seines Landes einsetzte, indem er Farbe in alle möglichen und unmöglichen Teile Koloriens schmuggelte, war er nicht gewillt, den Maler in den sicheren Tod zu schicken.

„Es ist die einzige Möglichkeit, Farbenfein zu befreien“, erwiderte Vincent entschieden. „Und wir brauchen sie, wenn wir Kolorien retten wollen!“

Das Farbhörnchen schwieg einen Moment und sah Vincent traurig an.

„Da bin ich völlig bei dir, Märchenmaler“, flüsterte es bedrückt. „Aber auch wenn du Tristesse lebend erreichen solltest, kommst du in die Hochburg der Hexe niemals hinein, weil sie von ihren Handlangern hermetisch abgeriegelt wird.“

Vincent verstand, was Sagittarius damit sagen wollte und rieb sich sein Kinn. „Aber es muss eine Möglichkeit geben ...“

„Die gibt es auch!“, fiel ihm Pilobolus ins Wort. „Mit Kolorit sprengen wir uns den Weg zu ihr frei!“

„Oje, noch ein Verrückter!“, schüttelte Sagittarius abermals den Kopf. „Du weißt genau, dass es in ganz Kolorien weder einen Tropfen Kolorit noch ein Bild von Farbenfein gibt!“, funkelte das Farbhörnchen den Malpinsel herausfordernd an.

„Kolorit?“, echote Vincent und sah seine Freunde neugierig an.

„Schon vergessen – lichtgewordene Farbe, farbgewordenes Licht?“, lächelte Pilo und wiegte seine Borsten hin und her.

„Bitte!“, verdrehte Barock seine Augen und warf dem Pinsel einen leicht gequälten Blick zu.

DANKE! WIEDERSEHEN“, schnappte sich plötzlich ein verlängertes Sonnenblumenblatt die Koloritkarte und verwandelte sich augenblicklich in einen blitzschnellen Marathonläufer.

„Vorsicht, ein ANTIMAGO!“, warnte Sagittarius, während er bestürzt sah, wie der Läufer vor seinen Augen mit der wertvollen Karte in Windeseile verschwand.

„Was ist Antimago?“, fragte Vincent ahnungslos.

„Monotonias Geheimpolizei“, erklärte die Zeichenfeder, während ihr Blick besorgt dem Läufer folgte. „Sie sind sehr gefährlich, da sie sich in jedes beliebige Ding verwandeln können und rein äußerlich davon nicht zu unterscheiden sind!“. Einen Herzschlag herrschte betroffenes Schweigen unter den Gefährten. Jeder schien sich vor dem nächsten Wort zu scheuen, da ihnen der Schock über den unsagbaren Verlust in allen Linien saß. Am schlimmsten fühlte sich jedoch das Farbhörnchen, das sein Gesicht verzweifelt in seine Pfoten vergrub und herzzerreißend zu schluchzen begann.

„Das ist alles nur meine Schuld! Ich hätte es wissen müssen, dass es hier viel zu gefährlich ist, die Koloritkarte herumzuzeigen!“, machte es sich schwere Vorwürfe.

„Du hast ja nicht wissen können, dass wir beobachtet werden“, versuchte Filomena das Tier zu trösten.

„Möchte nur wissen, wer ...“

„Es war die Sonnenblume, der du vorhin über die Wurzeln gewedelt bist“, beantwortete der Zeichenblock Pilos Frage.

„Die Sonnenblume“, kniff der Pinsel seine Augen zusammen, „das geifernde Kraut kam mir gleich verdächtig vor!“

„Was nun?“, blickte Vincent in verzweifelte Gesichter.

„Die Karte ist futsch!“, jammerte Sagittarius, während Tränen aus seinen Augen quollen. „Und das alles nur, weil ich ein Q bin!“

„Nein, nein, so hart darfst du nicht mit dir sein“, tätschelte ihm Pilobolus den Rücken, „obwohl es schon Anzeichen gewisser Unterbelichtung bei dir gibt.“

„Beleidigen muss ich mich auch noch lassen!“, beklagte sich das Hörnchen schniefend.

„Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht sorgen“, warf ihm Pilo einen mitleidigen Blick zu. „Wenigstens hast du aufgehört zu weinen, denn dafür ist ausschließlich Tröpfendrüse Filomena zuständig!“

„Pass auf, mit wem du dich anlegst!“, wurde er von der zierlichen Feder gewarnt.

„Bitte, bitte!“, rief Barock und erinnerte daran, dass ein Antimago nicht nur seine Gestalt verändern konnte, sondern auch immer eine Atmosphäre der Zwietracht und Disharmonie hinterließ. Pilobolus, der Filomena gerade eine Grimasse schneiden wollte, hielt unvermittelt in der Bewegung inne, weil er etwas entdeckt hatte.

„Farbenfein!“, flüsterte er und rieb sich verblüfft seine Augen. Doch sie trügten ihn nicht. Da stand sie, strahlend und zauberhaft, während alle Blicke dem seinen folgten. Als Vincent die Hüterin der Farben erblickte, begann sein Herz aufgeregt gegen seine Brust zu klopfen. Das Mädchen übte eine fast schon magische Anziehungskraft auf ihn aus, die er bislang noch nicht erlebt hatte.

„Farbenfein“, stammelte er andächtig und als sie ihm ihr bildschönes Gesicht zuwandte, fühlte der Maler eine innere Ruhe über sich kommen, still wie Zartheit der Blumen in seinem Garten, wenn sie im Abendlicht schimmerten, und klar und vollkommen wie die Fontänen, die aus den Farbquellen hervorsprudelten.

„Vincent!“, lächelte sie, und einen Moment lang fühlte er sich versucht, die Arme nach ihr auszustrecken. Trotz seines unmöglichen Benehmens in seinem Garten, an das er sich lieber nicht erinnerte, schien sie ihm nichts nachzutragen und war die Liebenswürdigkeit in Person.

Der junge Künstler holte tief Luft. „Ich … ich werde dich malen“, beeilte er sich zu versprechen, während sein Blick den ihren festhielt. Irgendetwas geschah mit ihm. Irgendetwas Unerklärliches, das er bis zu diesem Zeitpunkt für unmöglich gehalten hatte. Sie war das hinreißendste Geschöpf, dem er je begegnet war. Die feinen Linien und Züge ihres Antlitzes beeindruckten ihn zutiefst. Lange, dunkle Wimpern umrahmten ihre goldenen Augen, und eine perfekt geformte Nase harmonierte mit sanft geschwungenen Lippen. „Ich, ich ... ich male dich!“, rief er abermals aufgeregt. „Sofort, wenn du willst!“, griff er nach Pilobolus, um zu beweisen, wie ernst ihm damit war. „Ich fange gleich an!“

„Lass sie doch auch mal was sagen!“, wurde er vom Malpinsel unterbrochen, der sich seinem Griff erfolgreich entwand. „Es gibt bestimmt einen Grund, warum sie hier ist.“

„Wir müssen die Karte zurückholen, weil ein solcher Verlust nicht zu verkraften ist“, erwiderte sie und die Zuversicht, die ihre Augen ausstrahlten, wirkte trotz der angespannten Situation ansteckend.

„Wie sollen wir das anstellen?“, meinte Sagittarius skeptisch. „Der Antimago ist doch längst über alle Wiesen und Wälder entschwunden!“

„Ich überlasse mich nicht meiner Verzweiflung und du dich bitte nicht deiner“, erwiderte das Mädchen ruhig und deutete dem Farbhörnchen, zu ihr zu kommen, was 111 auch prompt tat. Dann begann sie eigenartige Sing-Laute von sich zu geben, in die das Brafhörnchen harmonisch einstimmte.

„Was machen die da?“, erkundigte sich Vincent flüsternd bei Pilo.

„Psssst, sie rufen ein Federmännchen“, brachte der Pinsel den Maler zum Schweigen und lauschte andächtig dem Ruflied.

„Das geht runter wie Öl auf Canvas!“, raunte der Zeichenblock und erntete einen strengen Blick von Filomena, der ihn sogleich verstummen ließ. Wie zu Salzsäulen erstarrt, waren die vier Freunde um Farbenfein und Sagittarius gruppiert und gaben keinen Ton von sich.

„Meinst du, er hat uns gehört?“, fragte das Mädchen nach einer Weile das Farbhörnchen.

„Nein, glaub’ ich nicht“, erwiderte Sagittarius und ließ seinen Kopf hängen. „Weil er sonst längst hier wäre!“

„Doch, er hat euch gehört“, wurde das Brafhörnchen eines Besseren belehrt, während ein buntes Männchen mit einer lustigen Zipfelmütze durch die Luft flog, einen Purzelbaum schlug und unmittelbar vor ihnen zum Stehen kam.

„Eure Farbenherrlichkeit hat nach mir gerufen?“, verbeugte es sich tief vor Farbenfein, während es rasch seine bunte Mütze vom Kopf zog.

„Farbe mit dir, Zappel!“, begrüßte sie ihn erfreut.

„He, Zappel, immer für eine Überraschung gut, was!“, lächelte das Brafhörnchen und reichte dem Männchen seine Pfote.

„Immer!“, grinste das Federmännchen zurück und drückte diese freundschaftlich.

„Das ist ja ein Hampelmann!“, rief Vincent erstaunt, worauf sich das Federmännchen augenblicklich ihm zuwandte.

„Was hast du denn gedacht? Dass ich 'ne Eule bin?“

„Nein, nein!“, schüttelte Vincent seinen Kopf und musterte den Hüpfer von Kopf bis Fuß. Zappel trug blaue Schuhe und eine gelbe Hose. Sein Hemdchen war mit unzähligen, lustigen Farbtupfern übersät, und auf seinem Kopf saß eine gepunktete Streifenmütze mit orangen Quasten.

„Wir brauchen deine Hilfe!“, teilte ihm Farbenfein mit. „Ein Antimago hat sich unerlaubt einer Koloritkarte der Brafhörnchen bemächtigt.“

„Von wegen bemächtigt!“, gummelte Pilobolus. „Gestohlen hat er sie, der gemeine Dieb!“

„Pilo!“, warf das Mädchen einen tadelnden Blick auf den Malpinsel. „Bin ja schon still“, brummte er mufflig und starrte auf den Boden.

„Nicht zufällig diese“, lächelte das Federmännchen schelmisch und zog eine schimmernde Koloritkarte aus seiner Hosentasche hervor.

Pilobolus hob augenblicklich seinen Kopf und starrte fassungslos auf die Koloritkarte. Auch Sagittarius blickte das Federmännchen aus tellergroßen Augen an.

„Du bist der Größte“, lobte ihn 111.

„Ich weiß“, grinste Zappel, ohne von sich eingenommen zu wirken.

„Wie hast du das gemacht?“, erkundigte sich das Hörnchen völlig aus dem Häuschen und setzte sich auf seine Hinterbeine.

„Berufsgeheimnis“, erwiderte das Federmännchen und überreichte 111 die Karte. „Ich rate dir, künftig besser darauf aufzupassen, da ich nicht immer in der Nähe bin, um mich mit Antimagos anzulegen“, raunte er dem Hörnchen zu, welches die Karte sogleich beschämt in Verwahrung nahm. 111 war überglücklich, das wertvolle Stück wieder in seinen Pfoten zu halten und machte sogleich Anstalten, damit in der Erde zu verschwinden, worauf es kurz von Farbenfein zurückgerufen wurde.

„Wir müssen die Karte duplizieren, bevor du sie in Sicherheit bringst“, wies sie das Hörnchen an. Abermals riss Sagittarius seine Augen weit auf. „Duplizieren? Darunter wird aber deren Qualität sehr leiden!“, knirschte er mit seinen Zähnen, weil ihm Farbenfeins Vorschlag nicht sonderlich behagte. „Möglich“, erwiderte sie, „doch dieses Risiko werden wir eingehen. „Vincent braucht eine Karte, um sich orientieren zu können.“

„Der Märchenmaler soll dich lieber malen, dann projizierst du dich in sein Bild und bist wieder die, die du bist!“, machte das Hörnchen schnell einen Gegenvorschlag, da es die Karte ungern ein zweites Mal aus der Pfote gab.

„Vincent wird mich malen, wenn die Zeit dafür gekommen ist“, ließ Farbenfein ihn sanft wissen. „Bis dahin braucht er deine Unterstützung!“

Das Farbhörnchen blickte die Hüterin der Farben widerwillig an und registrierte ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen, das ihre Augen widerspiegelten.

„Wenn du meinst!“, lenkte es ein und warf die Karte blitzschnell in die Luft. Kurz darauf ertönte ein ohrenbetäubender Knall und Vincent glaubte, die Karte würde explodieren. Doch sie detonierte nicht, zerfiel vielmehr in zwei Teile, wovon einer von Sagittarius Pfote aufgefangen wurde und der andere direkt in seinen Händen landete.

„Hüte sie wie deinen Augenapfel!“, rief Farbenfein ihm zu und erstarrte plötzlich mitten in ihrer Bewegung. „meine Kräfte … ich muss weg!“, flüsterte sie und ihre Augen schimmerten traurig. „Warte!“, rief Vincent „ich komme mit dir!“

„Das ist ...“ ihre Stimme erstarb und ihr Bild verflüchtigte sich wie Nebelschleier.

„Unmöglich“, beendete Pilobolus ihren Satz und klopfte Vincent bekümmert auf die Schulter. Der junge Mann drehte seinen Kopf schnell zur Seite. „Warum? Sie ist doch eine Zeichnung wie ich, oder nicht?

„Nein“, beantwortete Barock seine Frage.

„Nein?“, bedachte der Maler seinen Zeichenblock mit einem verständnislosen Blick.

„Sie ist … sie ist mehr ein Bild von einem Bild“, versuchte Barock zu erklären, „gewissermaßen eine Projektion ihrer selbst!“

„Was! Sie ist eine optische Täuschung?“, rief Vincent außer sich und starrte seinen Block ungläubig an.

„Nein, nein“, erwiderte Barock. „Farbenfein ist keine optische Täuschung! Es gibt sie wirklich, und sie wird in Tristesse gefangen gehalten! Das, was du von ihr jedoch gesehen hast, war nicht sie, sondern lediglich eine von ihr geschaffene Projektion. Die Herrin von Kolorien besitzt nämlich trotz ihrer Gefangenschaft noch immer die Fähigkeit, sich an jeden beliebigen Ort zu projizieren, um mit ihrer Umwelt Kontakt aufzunehmen. Genau das hat sie gerade gemacht.“

„Sich projiziert?“, murmelte Vincent fassungslos und hob eine Augenbraue.

„Richtig“, wurde ihm von Pilo bestätigt. „In Wirklichkeit ist sie viel strahlender, Vince, als du dir in deinen schönsten Träumen ausmalen kannst. Wenn du sie nur sehen könntest!“, geriet der Pinsel ins Schwärmen. Ein langer Augenblick verstrich. Vincent konnte sich kaum vorstellen, dass Farbenfein noch bezaubernder war, als sie es ohnehin aussah, und bei dem Gedanken an das Mädchen umspielte ein leises Lächeln seine Lippen.

„He, Vincent, starren wir weiterhin Löcher in die Luft oder bewegen wir unsere Borsten, um Ihre Lieblichkeit aus Tristesse zu befreien!“, holte ihn Pilobolus aus seinen Gedanken. Der Maler bemühte sich schnell, eine ernste Miene aufzusetzen, um sich nicht zu verraten. „Selbstverständlich machen wir uns auf den Weg, um Farbenfein befreien“, antwortete er, wobei er sich Mühe gab, die Freude, die allein ihr Name in ihm hervorrief, vor den anderen zu verbergen.

„Kommst du mit?“, fragte der Borstenpinsel das Federmännchen.

„Wohin?“, wollte Zappel wissen.

„Nach Tristesse!“, erwiderte Pilo mit unbewegtem Gesicht.

„Nein“, schüttelte das Federmännchen seinen Kopf, und es war ihm deutlich anzusehen, dass er allein bei der Erwähnung der grauen Festung am liebsten davon gehüpft wäre.

„Warum nicht?“, bohrte Pilo nach.

„Weil ich ein Federmännchen und kein Kamikazeflieger bin. Ich besitze nichts außer meinem Leben und möchte dieses unbedingt noch ein Weilchen behalten!“, erwiderte es entschienden.

„Du hast Angst!“, stellte Vincent fest, worauf ihn Zappel ansah, als hätte er gerade eine ansteckende Krankheit an ihm entdeckt.

„Ja, ich habe Angst!“, flüsterte er mit zögernder Stimme. „Kein Federmännchen gibt das gern zu. „Aber ich habe tatsächlich große Angst!“

„Ich auch!“, gestand der Märchenmaler. „Vielleicht wäre es klüger, nach Belle Couleur zu gehen, um Huf Farballa zu unterstützen und anschließend seinen Rat einzuholen, wie es weitergehen soll“, dachte der junge Mann laut.

„Nein, ist es nicht!“, rief Sagittarius und der Maler sah, wie die dunklen Augen des Tieres einen seltsamen Glanz annahmen. „Es gehört Mut dazu, unbequeme Wege zu beschreiten. Viele vermeiden sie, da sie eine unliebsame Auseinandersetzung mit sich selbst scheuen und ihren Ängsten und Verlegenheiten lieber ausweichen. Aber im Angesicht der Furcht liegt auch unsere Heilung von ihr“, meinte das Farbhörnchen rätselhaft. „Lass dich nicht von deinem Weg abbringen, Märchenmaler! Nichts schlägt so stark wie das Herz eines Mutigen!“

„Fragt sich nur, wie lange!“, gab Zappel mit einem schnellen Seitenblick auf Vincent zu bedenken, obwohl er es mittlerweile gründlich satt hatte, ständig in Furch leben zu müssen und sich nichts sehnlicher als ein Ende des Farbvergießens wünschte.

„Vielleicht hüpfe ich doch ein Stückchen mit euch!“, zog das Federmännchen in Erwägung und nahm beiläufig wahr, wie der Schatten eines Lächelns über Vincents Gesichtszüge huschte, während er reglos neben ihm stand.

„Hat sich Herr Angsthase nun doch durchgerungen, mit uns nach Tristesse zu kommen?“, fragte Pilobolus mit leicht spöttischem Unterton in der Stimme und warf dem Federmännchen einen herablassenden Blick zu.

„Nein, hat er nicht!“, entgegnete Zappel schnell. „Ich begleite euch lediglich bis zu den Farbfällen und keinen Sprung weiter.

„Das ist zumindest besser als nichts!“, räumte der Pinsel ein und registrierte ein zustimmendes Nicken seiner Freunde.

„Na, dann wollen wir mal!“, lächelte Zappel und gab dem Märchenmaler zu verstehen, näher zu kommen. „Bist du bereit für den Sprung deines Lebens?“, wollte das Federmännchen wissen, während es ihm beide Arme entgegenstreckte. Vincent starrte einen Augenblick sprachlos auf die ausgestreckten Hände und legte seine Stirn in Falten. Beklemmung und Unsicherheit schnürten ihm die Kehle zu. Er wusste weder, wohin sein Weg führte noch was ihn am Ende seiner Reise dort erwartete; diese Ungewissheit bereitete ihm noch mehr Angst. Doch dann tauchte plötzlich Farbenfeins Gesicht in seinen Gedanken auf, und er musste an ihre Worte in seinem Garten denken. „Die meisten Erwachsenen sind leblose Hüllen“, hatte sie gesagt und dass es keine Farbe mehr in ihrem Leben gäbe. Vincent wollte kein Teil einer farblosen Welt sein und noch viel weniger zu einer leblosen Hülle werden, die sich in jedes beliebige Schema pressen ließ. Deshalb entschied er, sich aus seiner Erstarrung zu befreien, um zu wachsen und sich zu entfalten, genau wie die Pflanzen in seinem Garten, deren bunte Farben und tiefes Leuchten ihn schon seit jeher mit Begeisterung erfüllt hatten. So wich die Furcht in seinem Herzen einer festen Entschlossenheit, seinem Leben eine neue Richtung zu geben.

„Der Weg ist das Ziel“, machte sich der Märchenmaler Mut, „und jedes Ziel ein neuer Weg!“

Er war bereit für den Sprung ins Ungewisse und reichte dem Federmännchen mutig seine Hand.

Der Märchenmaler

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