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7. Kapitel

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Sonntag, 3. Juni 2018

Mit so einem starren Gesichtsausdruck hatte Christin Freddie noch nie gesehen.

Seine mit Brandnarben verunstaltete linke Gesichtshälfte war natürlich nicht ausschlaggebend für sie, aber seine Augen sprachen Bände. Sie konnte nicht oft genug betonen, dass es ihr und dem Kleinen in ihrem Bauch gutgehe, dass man sie sonst nicht entlassen würde.

Als Freddie und die Kinder sie jetzt, am Sonntag, aus dem Krankenhaus abholten, kostete es sie viel Kraft, Gelassenheit und Zuversicht auszustrahlen. Nur Mathilda schaute sie ängstlich von der Seite an, sagte aber kein Wort zu dem künstlichen Lächeln ihrer Mutter.

Dabei war alles so schön gewesen.

Mathilda hatte gestrahlt und Oskar konnte gar nicht aufhören, Freddie, »meinen neuen Papa«, wie er ihn ständig nannte, zu knuffen und zu berühren.

Christin und Freddie hatten noch auf der Rückfahrt von Ork beschlossen, Mathilda und Oskar sofort einzuweihen. Die Pfarrerin hatte die Kinder mit einem festlich gedeckten Tisch überrascht, aber war noch nicht auf ihre Fragen dazu eingegangen. Zur Abendbrotzeit kam Freddie dann mit einer Auswahl an Pasta und einem gut verpackten Paket, mit dem er sofort in die Vorratskammer verschwand. Erst nach dem Nudelessen überraschte er sie mit vier Portionen Spaghettieis von ihrer Lieblingseisdiele in Voerde.

Dann erst teilten die Pfarrerin und der Polizist den Kindern mit, dass sie heiraten würden. Erst formell, so schnell wie möglich auf dem Standesamt, nur mit einer kleinen Gartenparty. Später dann in »ihrer« Kirche.

Und dass sie bald zu fünft sein würden.

Bei der Aussicht, bald ein großer Bruder zu sein, geriet Oskar völlig aus dem Häuschen.

»Hättet ihr auch so geheiratet?«, fragte Mathilda in die fröhliche Runde.

Bis auf Oskar, der die Tragweite dieser Frage noch nicht verstand, verstummten alle.

»Ja, Mathilda«, hatte Freddie geantwortet, »ich wollte eurer Mutter eigentlich heute einen Heiratsantrag machen, aber sie ist mir eine Sekunde zuvorgekommen.«

»Wir möchten beide, dass wir von Anfang an«, Christin strich sich über ihren Bauch, »eine Familie sind.«

Freddie war bei ihr geblieben. Mitten in der Nacht war sie dann plötzlich von starken Schmerzen im Unterleib wach geworden. Ihr zukünftiger Mann hatte sich auf keine Diskussion eingelassen und sie, nach einem Telefonat mit Ingrid, Christins Mutter, sofort in das katholische Krankenhaus in Dinslaken gebracht.

Ein kleiner Teufel in ihr behauptete, sie habe kein Recht auf dieses Glück. Noch nicht. Vielleicht in ein paar Jahren. Vielleicht ja auch nie.

»Ich bleibe jetzt bei dir«, bestimmte Freddie auf der Rückfahrt, »also, bei euch. So kann ich dich wenigstens ein bisschen unterstützen. Kannst du für deine Arbeit eine Stellvertretung bekommen?«

»Nein, Freddie«, Christin blieb ruhig, »das möchte ich auch gar nicht. Ich werde es langsam angehen, das verspreche ich dir.«


Keine halbe Stunde.

Rekordzeit. Aber Laura freute sich nicht darüber, irgendetwas nagte in ihr. Was hatte sie davon, dass die ganze Familie Bauer jetzt wie durchgeschleudert und zerschlagen war? Dass ihr Vater, der immer stark und selbstsicher war, ganz stumm wurde? Dass Claudia sich ins Bad eingeschlossen hatte und ihre kleinen Brüder sie mittlerweile nur noch abfällig anguckten?

Ganz nüchtern betrachtet, wunderte sie sich gerade über sich selber.

Das war es. Sie hatte jetzt so viele Tage hintereinander, wie schon lange nicht mehr, keinen Alkohol getrunken.

Schämte sie sich jetzt etwa?

Wütend ging sie in ihr Zimmer, packte eine kleine Tasche mit dem Allernotwendigsten zusammen und verließ das Haus.

Ganz leise.

Sonntag, 25.9.1988

Jetzt werde ich mal eine kleine Lernpause machen.

Morgen Matheklausur. Um sechs kommt C, bis dahin will ich noch lernen. Aber jetzt berichte ich noch kurz über meinen gestrigen Abend. Denn … ich will Polizistin werden!!!

Gestern Abend bin ich mit Claudi, Steffi und Anja im Rallye gewesen. Es war ganz ungewohnt ohne C, aber auch mal ganz nett. C musste mit seinen Eltern zu irgendwelchen Verwandten in den Osten und da konnte ich nicht mit. Wegen der Matheklausur.

Ich habe ihm zwar versprochen, nur zu lernen, aber abends hätte ich eh nix mehr in meine Birne gekriegt. Und Mama hat auch gesagt, geh doch mit, als Claudi anrief.

Claudi kam dann zu mir. Wir haben uns in meinem Badezimmer ganz gemütlich fertig gemacht. Haben Sade gehört und total viel gelacht. Sie hat mir ihre roten Stiefeletten geliehen, und ich habe ihr meine schwarzen Wildlederpumps gegeben. Und wir haben beide die Pullis angezogen, die wir letztens in Arnheim gekauft hatten. Partnerlook.

Anja und Steffi waren schon da, als wir am Rallye ankamen. Anja hatte einen selbst gestrickten, pinken Angorapulli an, so mit Fledermausärmeln und Carmen-Ausschnitt. Total schön! Sie hat jetzt einen Freund, Jens. Sieht ganz nett aus. Aber ein bisschen »Macho Macho«! Den hat sie im Schützenverein kennengelernt. Endlich hat sie jemanden, mit dem sie um die Wette ballern kann, die Schützenkönigin!

Auf jeden Fall habe ich dann irgendwann mit diesem Jens alleine gestanden, ich musste mal eine Pause vom Tanzen machen, und habe mit ihm gequatscht. Er macht eine Ausbildung zum Polizisten, und das hat sich echt interessant angehört! Er meinte, der Sporttest ist echt heftig, aber ich glaube, den kann ich schaffen, habe in Sport immer eine Eins. Wir haben echt lange gequatscht, Anja hat schon doof geguckt, und als wir gegangen sind, hat er gesagt, ich kann ihn ruhig anrufen, wenn ich noch Fragen habe, Anja kann mir ja seine Telefonnummer geben.

Morgen werde ich direkt mal zur Polizei gehen und fragen, wohin ich die Bewerbung schicken muss.

Bin mal gespannt, was C dazu sagt!


Montag, 4 .Juni 2018

Bis halb elf am Montagvormittag konnte Christin ihre Lage vor Ursula verheimlichen, um elf standen dann Bernd Hingmann, Freddie und Ursula selbst vor ihrem Sofa, auf dem die Pfarrerin es sich zum Arbeiten bequem gemacht hatte.

»Christin«, Bernd strahlte sie an, »ich freue mich so sehr für euch beide, aber du musst jetzt an das Kleine denken!«

Nie hätte sie gedacht, so schnell ein so herzliches Verhältnis zu Bernd Hingmann, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Presbyter zu bekommen. Ihr gemeinsamer Start im Januar war nicht leicht gewesen, aber nach dem ereignisreichen Frühjahr hatten sie sich gegenseitig schätzen und respektieren gelernt.

»Bernd, das tue ich«, die Pfarrerin versuchte, nicht genervt die Augen zu verdrehen, »aber, jetzt sei doch mal ehrlich, du weißt genau, dass wir so schnell keine Stellvertretung für mich bekommen. Wir schaffen das. Jürgen und Regina sind ja auch noch da, und mit den Konfirmationen haben wir das Meiste erst einmal geschafft.«

»Weißt du eigentlich, wie viele Trauungen in deinem Kalender stehen?«, Ursula wurde vor Aufregung ganz laut.

»Ich werde das schaffen«, beharrte Christin.

»Irgendetwas müssen wir uns einfallen lassen«, Freddie nickte Ursula und Bernd zu, »ich muss wieder los.«

»Was war das denn?«, Christin schaute von ihrer Sekretärin zu Bernd. »Was habt ihr geplant?«

Ursula räusperte sich. »Erinnerst du dich noch an Laura, meine Großcousine?«, begann sie.

»Ja«, nickte die Pfarrerin, »die Begegnung mit ihr ist ja noch nicht so lange her.«

»Nun ja, Laura ist gestern zu mir gekommen. Es geht gar nicht mehr bei ihr zu Hause. Und«, die Sekretärin strich mit der Zunge über ihre Unterlippe, »also sie will etwas im sozialen Bereich machen und …«

Bernd Hingmann fiel Ursula ins Wort. »Wir können hier, in der Gemeinde, eine Stelle für ein Freiwilliges Soziales Jahr einrichten.«

»Und Laura könnte dich dann bei allem unterstützen«, nahm Ursula wieder den Faden auf, »sowohl bei schriftlichen Arbeiten als auch bei der Arbeit mit den Menschen hier. Und« jetzt redete die Sekretärin ganz schnell weiter, »auch im Haushalt. Sie könnte bei euch wohnen und dir auch bei den Kindern helfen. Freddie findet die Idee auch gut.«


Mittwoch, 6. Juni 2018

Es gab mehr Lösungen als Probleme. Mathilda freute sich über eine große Schwester und Freddie war froh, dass seine zukünftige Frau Hilfe bekam. Innerhalb von zwei Tagen hatte er mit einigen Helfern aus dem Dachboden einen bewohnbaren Raum gemacht.

Laura war begeistert, einen Platz direkt unter den Sternen zu haben, der für ein Jahr ihr neues Zuhause sein sollte. Mathilda und Oskar halfen ihrer neuen Mitbewohnerin beim Einziehen. Zusammen hievten sie, jeder einen Griff in der Hand, eine weiße Truhe aus Korbgeflecht die engen Treppen hoch.

»Die sieht aber schön aus!«, rief Mathilda begeistert.

Laura schob die Weidentruhe an eine Wand unter eines der kleinen Dachfenster. Zärtlich strich sie über den Deckel und über die Seite. »Hier drin hat meine Mami«, sie stockte kurz, »also meine wirkliche Mutter, Nicole, ein paar meiner Babysachen aufbewahrt. Erste Strampler, ein paar Bodys und ein bisschen Spielzeug.« Laura öffnete den Deckel der Truhe. Sie holte einen blauen Strampelanzug mit einem aufgestickten Hasen heraus.

»Mein Gott«, quietschte Mathilda, »wie süß!« Sie hielt den Strampler neben Laura. »Dass du da mal reingepasst hast!«

»Und guck mal hier«, die junge Frau hielt ein pinkfarbenes Mützchen hoch, »wie winzig!«

Mathilda nahm es ihr vorsichtig ab und stülpte es über ihre geballte Faust. »Wie flauschig!« Andächtig streichelte sie die kleine Mütze. »Es sieht selbstgestrickt aus, hat deine Mutter das selbst gemacht?«

Laura zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber nach dem, was ich über Nicole weiß, hatte sie mit so etwas wie Handarbeiten nichts zu tun.« Sie holte ein Buch aus der Truhe.

»Briefe von Felix!«, rief Mathilda begeistert auf, »das haben Mama und Papa uns auch immer vorgelesen!«

»So viel Zeit blieb meiner Mutter nicht mehr«, raunte Laura mit belegter Stimme.

Mathilda sah, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. »Dieses Buch ist noch ungelesen.« Dann sagte sie nichts mehr. Sie beobachtete, wie Laura weinte. Ganz still knieten sie auf dem Boden, die Nachmittagssonne schien durch das Dachfenster auf die Truhe, Staubpartikel, wie Sterne in einer Milchstraße, kreisten um sie herum. Dann nahm Matti das Buch und blätterte es andächtig auf. »Wir werden es uns gegenseitig vorlesen«, bestimmte sie, »das werden gemütliche Abende.« Plötzlich stockte sie. »Laura«, fuhr Mathilda fort und hielt ihr das geöffnete Bilderbuch hin, »hier ist aber kein Hase Felix drin!«


Samstag, 24. Juni 1989

Gleich gehen wir schön essen. Im Lippeschlösschen. Meine Eltern wollen mein Abitur noch einmal richtigfeiern. Die Omas und Opas kommen mit, C und Claudi. Das war ein bisschen komisch. Als ich ihr davon erzählte, hat sie so ein Gesicht gezogen und gesagt, dass ihre Eltern irgendwie gar nix gemacht haben. Da hat C gesagt, dass meine Eltern bestimmt nix dagegen hätten, wenn Claudi mitkommt. Wäre ja fast schon wie eine Tochter.

Ich finde das eigentlich nicht gut.

Claudia kommt immer nur noch, wenn C da ist. Immer »total zufällig«. Klar, weil sie ja auch nicht Cs Auto vor der Haustür sieht. Dann hat sie immer eine Frage zu ihrer Arbeit. Die ist total happy, dass sie die Ausbildung zur Industriekauffrau bei der Steag machen kann. Aber ich glaube, es ärgert sie, dass C gesagt hat, er kann sie nicht mit zum Büro nehmen, weil er oft Außendiensttermine hat.

Meine Mama möchte, dass Claudi und ich unsere Kleider von der Abifeier anziehen. Damit wir sie wenigstens zweimal angehabt haben! C findet das auch, er sagte, bevor ich da nicht mehr reinpasse. Weil ich doch etwas zugenommen habe. Er sagte, er findet das nicht schlimm, aber für die Polizei sollte ich doch fit sein und nicht fett werden. Blödmann.

Mittwoch, 20. September 1989

Endlich habe ich mal wieder etwas Zeit für mich.

Die Ausbildung hier in Brühl ist sehr anstrengend.

C hat vorgeschlagen, dass wir jeden Abend, also Mo, Die, Mi und Do immer um acht Uhr telefonieren. Das ist etwas blöd, weil die anderen dann oft noch etwas trinken gehen oder ins Kino oder so, aber C sagte, er sei dann auf jeden Fall immer zu Hause und wir wollen doch täglich miteinander sprechen.

Wir quatschen dann auch immer bestimmt ’ne halbe Stunde, also C erzählt mir total ausführlich von seinem Arbeitstag und mit wem er verhandelt hat. Als ob ich die alle kenne.

In der ersten Woche bin ich mal nicht ans Telefon gegangen, da war er total sauer. Am Wochenende hat’s erst einmal Streit gegeben, ob da so interessante Kollegen sind und so. Als ich das Mama erzählt habe, sagte sie, ich müsse das alleine klären. Vereinbart sei vereinbart. Oder ich soll ihm sagen, dass ich auch mal mit meinen neuen Kollegen wegwill. Sie findet das auch wichtig.

Vielleicht rede ich mal mit C darüber. Aber der meint ja immer gleich, ich liebe ihn weniger.

Voll witzig!

Heute Morgen habe ich Jens getroffen! Er hat jetzt auch einen theoretischen Teil. Er freut sich voll für mich, dass ich es geschafft habe, bei der Polizei angenommen zu werden. Wir wollen mal was trinken gehen und quatschen. Er kann mir bestimmt auch Tipps für die Klausuren geben. Vielleicht sage ich C dann gar nix davon. Gibt eh nur Diskussionen.


Mittwoch, 6. Juni 2018, abends

Freddie fuhr sich mit den Fingern durch seine kurzen Haare. Mit ausgestreckten Beinen saß er am Küchentisch, Christin, Laura und Mathilda sahen ihn erwartungsvoll an. Er vermied, dass sich ihre Blicke trafen. Zwischen ihnen, in der Mitte des Tisches, lag mit einem fröhlich nach allen Seiten winkenden Hasen auf dem Umschlagbild das vermeintliche Kinderbuch Briefe von Felix. Das Tagebuch einer Toten.

Nun war es an Freddie, seine Erinnerung an die tragischen Ereignisse zu Beginn seiner Ausbildung mit ihnen zu teilen.

»Ich hatte gerade meine Ausbildung angefangen«, begann er. Er räusperte sich, hielt kurz inne, dann sprach er weiter. »Laura, ich weiß nicht, ob dir das so guttut.« Er sah auf, blickte der jungen Frau in die Augen.

»Freddie«, Lauras sonst so dunkle, raue Stimme schraubte sich eine Oktave höher, »nichts tat mir bisher gut. Vielleicht tut es ja die Wahrheit? Denn du musst doch selber zugeben, dass alle nur auf eine Fassade geguckt haben! Es war doch anscheinend nichts so, wie es aussah!«

»Okay«, mit einem tiefen Seufzer fuhr der Polizist fort, »also, ich kam gerade vom ersten Block theoretischer Ausbildung aus Brühl. Durch Zufall hatte ich hier, in Voerde, meine erste praktische Ausbildungseinheit. Und dann so was! Der pure Albtraum! Ich hatte ein freies Wochenende. Natürlich hatte ich schon am Sonntag von Nicoles Tod erfahren, aber die anderen hatten mich wieder weggeschickt, keiner wollte in so einer Situation einem Jungspund die Arbeit erklären.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Skalecki war damals bei dem Verhör von deinem Vater dabei. Und Werner. Werner Immermann. Werde ich nie vergessen. Skalecki,« er wandte sich jetzt mehr an Laura, »ist schon fast so was wie eine gute Freundin von mir. Sie war gerade Kriminalkommissarin geworden. Sie war die einzige, die mal zugegeben hat, wie es den Ermittlern an die Nieren ging, dass sie den hinterbliebenen Ehemann, also deinen Vater, verhören mussten.«

»Warum wurde er damals verhört?«, fragte Laura verwundert.

Freddie schaute an ihr vorbei, zum Fenster hinaus.

»Routine«, sagte er knapp, »reine Routine.«

Teufelskuhle

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