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Prolog

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Mitternacht, 23. Juli 1937

Vollmond. Genau wie erwartet.

Friedhelm lag regungslos in seinem Bett und hielt den Atem an. Das Mondlicht erhellte die Baracke, in der er mit seiner Familie wohnte. Schemenhaft konnte er den Kleiderschrank erkennen, daneben den Stuhl, auf dem er beim Zubettgehen am Abend absichtlich seine Strickjacke und seine Hose hatte liegen lassen. Es war zwar warm, aber wenn sie das, was sie geplant hatten, tatsächlich schaffen würden, wäre ihm anschließend bestimmt kalt. Deswegen die Jacke.

Langsam schob er die Bettdecke nach unten und streckte gleichzeitig ein Bein über die Bettkante. Dann drehte er, nicht ganz so behutsam, seinen Oberkörper auf die linke Seite, zum Rand des Bettes hin. Er horchte, ob sich eine seiner beiden kleinen Schwestern, die mit ihm in dem Zimmer schliefen, rührte. Aber es blieb alles still. Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt er aus dem Bett. Wenn jetzt jemand wach werden würde, könnte er immer noch sagen, dass er nur auf die Toilette müsste.

Aber nein, keiner richtete sich auf und stellte Fragen. Waltraud und Sieglinde schliefen tief und fest weiter. Fast bedauerte er dies.

Wenn Werner nicht draußen auf ihn warten würde, dann würde er tatsächlich nur aufs Klo gehen und anschließend wieder unter seine Bettdecke kriechen. Aber er glaubte nicht daran. Werner war so entschlossen, diese Mutprobe zu bestehen, dass er wahrscheinlich schon längst am Ehrenmal auf ihn wartete.

Friedhelm schlich mit nackten Füßen über die Holzdielen. Er griff sich die Jacke und die Hose, drückte vorsichtig die Türe auf und trat in den Flur.

Immer noch alles still.

Das Schlafzimmer seiner Eltern lag direkt neben dem Kinderzimmer. Beide Räume bildeten den Abschluss der rechteckigen Baracke, in der Friedhelm mit seiner Familie und den Witwen Frau Meier und Frau Mai wohnte. Seine Eltern ließen ihre Türe immer einen Spaltbreit auf, so konnte er noch deutlicher seinen Vater schnarchen hören.

Er schlich den langen Flur, der genau in der Mitte der Baracke lag, weiter Richtung Haustür. Zuerst kam er an den Zimmern der Witwen vorbei, von denen jeweils eins links und rechts des Flures lag. Er ging am Wohnzimmer vorbei. Aus der Waschküche griff er sich seine ausgetretenen Sandalen – die, die er nur noch zum Spielen anziehen durfte. Am Ende des Flures lagen, links und rechts von der Haustür, die Küche und die Toilette. In beiden Räumen gab es einen Wasseranschluss. Darüber freute sich besonders seine Mutter, die deshalb nicht, wie viele andere Hausfrauen in der Friedrichsfelder Barackensiedlung, das Wasser für den Haushalt mühselig an einer Gemeinschaftspumpe holen musste.

Bevor Friedhelm durch die Haustür ins Freie schlüpfte, zog er sich seine Hose, die Strickjacke und die Sandalen an.

Genau in dem Moment, als er vorsichtig die Haustür von außen schloss, hörte er zweimal das Läuten der Glocke der katholischen Kirche, die im ehemaligen Offizierskasino untergebracht war. Erschreckt zuckte er zusammen.

Halb zwölf. Ihnen blieb noch genug Zeit.

Durch das Licht, das der volle Mond spendete, hatte Friedhelm überhaupt keine Probleme, den Weg zu finden. Auch ohne den hellen Mondschein, selbst in völliger Dunkelheit, hätte er sich zurechtgefunden. Seit seinem zweiten Lebensjahr, also seit acht Jahren, lebte er mit seinen Eltern in der ehemaligen Leutnantsbaracke Nummer sieben. Die Siedlungsgesellschaft der Stadt Dinslaken, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg das Barackenlager und den Truppenübungsplatz übernommen hatte, vermietete die Baracken als günstigen Wohnraum, unter anderem auch an kinderreiche Familien

Wenn er nicht in der Schule war, rannte er mit den anderen Kindern zwischen den Baracken umher. Im Winter bewarfen sie sich mit Schneebällen und bauten Schneemänner. Im Sommer, so wie jetzt, spielten sie im Sand oder erkundeten die Heide, immer die Augen offen, in der Hoffnung, alte Patronen der Soldaten, die vor ihnen in den Baracken gewohnt hatten, zu finden.

Auf dem kurzen Weg zum Ehrenmal im Offizierspark dachte er über das Abenteuer nach, zu dem ihn sein Freund Werner angestiftet hatte. Werner, stets eine Spur frecher als er. Immer etwas waghalsiger. So wie letzte Woche, als sie wieder in einen Streit mit den Jungen, die mit ihren Familien in den ehemaligen Mannschaftsbaracken wohnten, geraten waren. Friedhelm blieb immer defensiv, wenn sie ihr »Revier«, die Wege und Plätze rund um die früheren Leutnantsbaracken Nummer sieben bis zwölf, verließen. Dort waren die Kinder, die er kannte, Nachbarskinder, bei denen man ein- und ausging. Aber nur einen kleinen Marsch weit entfernt, schräg über die Wilhelmstraße, rotteten sich andere Kinder zusammen, die eine eigene Gruppe bildeten. Vielleicht lag es daran, dass deren Eltern aus Ostpreußen vertrieben worden waren und sie das Gefühl hatten, sich ihre neue Heimat noch erkämpfen zu müssen, vielleicht waren »die anderen« einfach auch nur etwas älter und somit auch draufgängerischer. Jedenfalls lachten sie Friedhelm und Werner einfach aus, als sie erfuhren, dass die beiden noch nie den »Schwarzen Mann« gesehen hatten.

»Man sieht ihn nur bei Vollmond«, höhnten sie. »Aber da liegt ihr Memmen ja brav im Bett.«

Der Schwarze Mann.

Friedhelm hatte schon mal von ihm gehört, aber er konnte sich nicht erklären, wieso ein schwarzer Mann an der Teufelskuhle, hinter dem erst ein paar Jahre alten Kommunalfriedhof, herumgeistern sollte.

»Uahhh!«, brüllte Hans, ein großer Junge, breitete seine Arme aus und wankte auf die beiden eingeschüchterten Jungs zu. »Ersoffen bin ich!« Dramatisch schnappte er nach Luft und rollte mit den Augen.

»Beim nächsten Vollmond werden wir ihn auch sehen!«, schrie Werner wütend zurück.

»Das traut ihr Bubis euch niemals!«, lachte Hans ihn aus.

»Doch, bestimmt!«, beharrte Werner. »Oder, Friedhelm?« Werner stieß ihn in die Seite.

»Ja, bestimmt!«, unterstütze Friedhelm seinen besten Freund, wobei er sich anstrengen musste, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, da er nicht unbedingt von dem Vorhaben begeistert war.

»Gut, dann schwört auf unser Vaterland, dass ihr nächste Woche bei Vollmond zur Teufelskuhle geht und auf den Schwarzen Mann wartet!«, verlangte Hans von den beiden jüngeren Buben.

Hans’ Freunde kamen immer näher. Alle grinsten, einige von ihnen fingen an, quäkend wie kleine Kinder zu heulen.

So kam es, dass Friedhelm sich jetzt mitten in der Nacht auf den Weg zum Ehrenmal machte, um dort Werner zu treffen.

Wie erwartet stand sein Freund schon im Schatten des Denkmals für die gefallenen Soldaten des Franzosenkrieges von 1870/71, einem Krieg, an den sich nur noch die Großeltern erinnern konnten.

»Da bist du ja endlich!«, maulte Werner. »Komm, lass uns rennen.«

Eigentlich war der Weg zur Teufelskuhle nicht weit. Die beiden Jungs liefen die Hindenburgstraße Richtung Dinslaken entlang. Sie querten die Von-Einem-Straße, die jetzt, mitten in der Nacht, menschenleer war. Vorsichtshalber hielten sie sich in der Deckung der Bäume, die links und rechts wuchsen. Der raue Asphalt strahlte noch die Wärme des heißen Sommertages aus.

Friedhelm hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch.

Es war totenstill. Selbst von den Bäumen, die entlang der Hauptverbindungsstraße zwischen der alten Garnisonsstadt Wesel und der Kreisstadt Dinslaken standen, hörte man keinen Laut. Da es windstill war, raschelten auch keine Blätter. Tagsüber schossen ab und zu Motorräder mit lautem Geknatter in beide Richtungen, flitzten Fahrradfahrer hin und her, transportierten Omnibusse ihre Fahrgäste von Wesel nach Dinslaken und zurück. Und immer mehr Automobile fuhren über den Asphalt. Neidisch blickten Friedhelm und Werner den wenigen Autofahrern hinterher, die Hitlers »Volksmotorisierung« schon umgesetzt hatten. Den einzigen Autobesitzer, den sie in Friedrichsfeld kannten, war der Arzt Dr. Blanke.

Kurz vor van de Sand hielten die beiden Jungen an. Das imposante Gebäude der Gaststätte wurde von dem schimmernden Licht des Mondes dramatisch in Szene gesetzt. Aber obwohl es die Nacht von Freitag auf Samstag war, lag auch das Lokal in absoluter Stille. Gegenüber der Gaststätte, auf der anderen Straßenseite, befand sich der Eingang zum Friedhof. Aber so weit wollten die beiden Jungen gar nicht, denn hinter der nördlichen Begrenzung des Friedhofs führte ein Trampelpfad zur Teufelskuhle, einem Gewässer mitten in der Heidelandschaft.

»Hast du immer noch Schiss?«, keuchte Werner völlig außer Atem und grinste dabei breit. »Es ist doch fast taghell! Wir gehen jetzt zur Teufelskuhle, werden einmal da reingehen und untertauchen, und dann verschwinden wir wieder in unsere Betten.«

»Den ›Schwarzen Mann‹ gibt es gar nicht. Wie können wir nur so blöd sein und ihn mitten in der Nacht sehen wollen?«, moserte Friedhelm.

Dann huschten sie über die Straße. Der schmale Weg zur Teufelskuhle führte sie nun am Friedhof vorbei über den alten Truppenübungsplatz. Über die von jahrelangen Schieß- und Exerzierübungen zerstörte Heidelandschaft breitete sich immer mehr ein Dickicht aus Sträuchern und jungen Bäumen aus.

Friedhelm würde es niemals zugeben, aber um Mitternacht, denn das müsste es jetzt langsam sein, direkt in Sichtweite der Gräber zu gehen, um den »Schwarzen Mann« zu treffen, verängstigte ihn nun doch etwas. Auch das freundliche Mondlicht kam ihm nun viel dunkler und bedrohlicher vor.

Sein Freund Werner schritt, immer noch schwer atmend, zielstrebig voran. Dann endete der Zaun, der den Friedhof umgab, und deutlich zeichneten sich die Wälle ab, an deren Enden die preußischen Soldaten früher gestanden und mit Gewehren und Pistolen geschossen hatten. Nur noch ein paar Meter, dann würden sie vor der Teufelskuhle stehen.

»Komm, lass uns jetzt nach Hause gehen«, drängte Friedhelm. »Wir können doch einfach sagen, dass wir hier waren, aber den ›Schwarzen Mann‹ nicht getroffen haben. Wie auch? Den gibt es ja gar nicht!«

»Wir haben geschworen, dass wir heute hierhin kommen«, beharrte Werner, »und du weißt, seinen Schwur bricht man nicht.« Werner war begeisterter Karl-May-Leser.

Du hast es geschworen, dachte Friedhelm trotzig.

Dann standen sie vor der Teufelskuhle. Wie ein kleiner, länglicher See lag sie vor ihnen. Tagsüber, wenn die Kinder und auch so manche Erwachsene den Weg hierhin fanden, um sich in der sommerlichen Hitze abzukühlen, war das Wasser durch den aufgewirbelten Sand trüb, aber jetzt, in der Ruhe der Nacht, schimmerte es glasklar.

Auch hier eroberten schon Gräser und kleine Eichen und Kiefern den Rand des Gewässers. Teilweise wucherten dichte Büsche bis ins Wasser hinein und warfen dunkle Schatten.

Da, bewegte sich da nicht etwas?

Friedhelm ballte seine Hände vor Nervosität immer wieder zu Fäusten. Die Teufelskuhle war nur wenige Meter lang und breit, aber trotz des hellen Vollmondes konnte er das gegenüberliegende Ufer nicht genau erkennen.

Werner zog sich schon sein Hemd und seine Hose aus. »Los, jetzt beeile dich«, trieb er Friedhelm an, »du willst doch so schnell wie möglich wieder in deine Pofe!«

Zögerlich zog sich nun auch Friedhelm aus.

Nur noch in Unterhosen standen die beiden Jungen an der Teufelskuhle. Im Gegensatz zu ihren braungebrannten Gesichtern schien es fast so, als leuchteten ihre schmalen, hellen Oberkörper. Beide hatten am ganzen Körper eine Gänsehaut. Sie sahen sich an und Friedhelm musste nun doch ein wenig grinsen.

Normalerweise sprangen sie mit Geschrei in das kühle Wasser, aber jetzt, als ob sie es abgesprochen hätten, wateten sie nur langsam hinein, Schritt für Schritt.

Was dann passierte, würden beide, Friedhelm und Werner, den Rest ihres Lebens nicht mehr vergessen.

Teufelskuhle

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