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1. Kapitel

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Dienstag, 29. Mai 2018, abends

Christin Erlenbeck starrte wehmütig auf die rotschimmernde Flüssigkeit in dem Weinglas, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand. Sie war in den letzten Wochen sehr geschäftig gewesen. Als sie die Stelle als Pfarrerin in der evangelischen Gemeinde Grünstraße angenommen hatte, Anfang des Jahres, hatte sie auch gleichzeitig die Betreuung von zwei Konfirmandengruppen übernommen. Diese Veränderung mitten im Vorbereitungsjahr und, wie sie zugeben musste, ihre eigene Nervosität, hatten sich natürlich auch auf die Jugendlichen ausgewirkt, und es hatte sie einiges an Mühe gekostet, Ruhe in die letzten Wochen vor diesem großen Ereignis zu bringen. Aber nun war es geschafft, die letzte Konfirmation war gefeiert worden, und alles in allem hatte sie das Gefühl, mit den Teenagern und deren Eltern eine schöne Zeit verbracht zu haben.

Jetzt saß sie in ihrem gemütlichen Büro, ihre Kinder, Mathilda und Oskar, lagen schon in ihren Betten, und sie versuchte, ein Schreiben an die frisch konfirmierten Jugendlichen und deren Eltern aufzusetzen. Das Problem war nur, dass die eingekehrte Ruhe sie nun mit dem konfrontierte, was sie die letzten Wochen verdrängt hatte. Nein. Was sie bewusst auf sich hatte zukommen lassen. Ihr Körper wusste Bescheid, hatte schon alles entschieden. Das Eingießen des Rotweins war nur ein Ritual.

Als sie mit dem Brief fertig war, wusste sie, dass es an der Zeit war, auch ihren Verstand tätig werden zu lassen. Seufzend stand sie auf, nahm das Glas mit dem Rotwein, ging in die Küche und schüttete es, wie in den letzten Wochen schon zweimal zuvor, in den Ausguss der Spüle. Als sie sich stattdessen roten Traubensaft nahm, musste sie schmunzeln. Aber sie liebte den fruchtigen, herzhaften Geschmack roter Trauben nun einmal.

Der Tag war warm gewesen. Schwülwarm. Für den nächsten Tag waren Gewitter und Regen vorhergesagt. Das kann ja ein schöner Sommer werden, dachte Christin spöttisch. Der Vollmond strahlte warm in die Küche, in der sich die Hitze des Tages staute. Die Fenster waren schon alle auf, die Kühle der Bodenfliesen tat ihren nackten Füßen gut. Laika, ihre Wolfsspitzhündin, schleppte sich hechelnd vom Flur in die Küche, wo sie sich ohne Umschweife direkt vor Christin auf den Boden fallen ließ.

Die Pfarrerin setzte sich an den Küchentisch.

Dachte nach.

Freddie war sie, so gut es ging, aus dem Weg gegangen, hatte viel Arbeit vorgetäuscht, was ja auch stimmte. Sie starrte in den Traubensaft. Die Kinder fragten schon. Nein, eigentlich nur Oskar. Mathilda schaute sie ständig mit großen Augen von der Seite an. Sie war jetzt dreizehn Jahre alt, aber viel sensibler als gleichaltrige Mädchen. Zu sensibel.

Der zehnjährige Oskar war genau das Gegenteil von seiner Schwester. Direkt, neugierig und laut. Also genau so, wie sie es selber als Teenager gewesen war. Oskar wollte, nach den dramatischen Geschehnissen im Frühjahr, unbedingt Polizist werden und unternahm so viel wie möglich mit Frederick Neumann. Eigentlich alles klar.

Mit schlechtem Gewissen sah sie, wie ein paar Tropfen des roten Saftes die Außenwand des Glases heruntergelaufen waren und nun auf dem frisch gescheuerten Holztisch rote Ränder hinterließen.

Da wird Frau Fohrmann schön schimpfen, dachte Christin, und das mit Recht. Die schon ältere Frau Fohrmann hatte die Pfarrerin von ihrem Vorgänger Manfred Lindemann »geerbt«, sie kümmerte sich ein paar Stunden in der Woche um die Haushaltsbelange, die Christin gerne vernachlässigte. Wie zum Beispiel das Scheuern alter Holztische.

Sie stand auf, nahm einen Lappen aus der Spüle und putzte die Traubensaftränder gründlich weg. Dann räumte sie ihr Weinglas in die Spülmaschine und deckte den Frühstückstisch für den nächsten Morgen. Schließlich ging sie noch eine kurze Abendrunde mit Laika.

Als sie auf ihrem Bett saß, griff sie zu ihrem Handy. Sie hatte einen Entschluss gefasst.


Frederick Neumann hatte Nachtschicht. Die Minuten vergingen kaum, es war ruhig, nichts los, als ob die schwülfeuchte Luft auch die Gemüter dämpfte. Das war ihm natürlich recht. Einerseits war er versucht, den Kopf auf die Tischplatte zu legen und ein bisschen zu schlafen, andererseits wusste er, dass seine Gedanken dann sowieso nur Karussell fahren würden.

Gestern noch waren er und Oskar mit Laika am Tenderingssee spazieren gegangen. Er hatte gehofft, dass Christin mitkommen würde, aber, wie so oft in letzter Zeit, hatte sie sich nur lächelnd entschuldigt und sich darüber gefreut, dass sie nicht selber mit dem Hund gehen musste. Als er dann vom Spaziergang wiederkam, war sie weg.

Er hätte auch gerne mal Skalecki, seine alte Duisburger Kollegin, mit der er gerade erst einen Fall gelöst hatte, und ihren Mann zu einem gemeinsamen Essen eingeladen, aber da er nicht wusste, woran er gerade mit Christin war, fand er ein gemütliches Pärchenessen unpassend.

Er strich sich mit einer Hand vorsichtig über seine linke Gesichtshälfte. Durch das schwül-heiße Wetter spürte er sein vernarbtes Gewebe besonders unangenehm. Er hatte das Gefühl, als ob er ein ABC-Pflaster auf seiner Wange kleben hätte.

Gerade als er aufstehen wollte, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, brummte sein Handy.


Laura Bauer konnte nicht mehr. Sie schwitzte, und die Übelkeit drückte ihr die Kehle zu, immer wieder musste sie würgen, aber es kam schon längst nichts mehr aus ihrem Magen hoch, nur noch giftbittere Galle. Fast noch schlimmer war, dass sie überhaupt keinen klaren Gedanken mehr hinbekam. Sie hätte sich sonst schon längst ein Taxi gerufen, statt mitten in der Nacht den Weg aus der Dinslakener Altstadt bis nach Voerde zu laufen. Aber es war, als ob in ihrem Kopf dicke, feuchte Watte herumschwappte.

Obwohl man sie in dem hellen Vollmondlicht gut sehen konnte, hielt keines der paar Autos, die um diese Zeit noch fuhren, an. So schleppte sie sich auf wackeligen Beinen weiter. Ihr dünnes, schwarzes Top klebte an ihrem Körper, die Träger rutschten dauernd herunter und entblößten fast ihre Brüste. In ihrer hautengen Röhrenjeans fühlte sie sich wie in einer Zwangsjacke, ihre klobigen Boots hatte sie schon längst irgendwo ausgezogen und liegen gelassen. Unter einer Wollmütze undefinierbarer Farbe quollen Lauras rotblonde Dreadlocks hervor, ihr verschmierter Lippenstift ließ sie wie einen unglücklichen Clown aussehen.

Bis zum Wohnungswald hatte sie es bisher geschafft. Die Straße führte jetzt zwischen den Bäumen durch, und sofort spürte sie eine wohltuende Kühle auf der Haut. Mit eisernem Willen torkelte sie weiter. Nur noch durch den Wohnungswald, dann … verzweifelt wurde ihr bewusst, wie weit sie noch von dem, was wohl ihr Zuhause sein sollte, entfernt war.

Etwas ausruhen. Danach würde es besser gehen.

Im Graben neben dem Fahrradweg lagen ein paar Holzstämme. Laura fiel fast der Länge nach hin, als sie über die Grasnarbe zu dem Holzstapel stolperte. Vorsichtig drehte sie sich um und setzte sich hin. Die Holzstämme hielten. Ausgiebig kratze sie sich ihre Kopfhaut, wobei die Mütze endgültig herunterrutschte. Dann sackte die junge Frau in sich zusammen und schlief ein.


»Freddie!« Polizeioberkommissar Michael Schlüter riss ihn aus seinen Gedanken. Das Telefonat mit Christin vor einer Stunde hatte ein mulmiges Gefühl in ihm zurückgelassen.

»Ich muss mit dir reden«, hatte sie ohne Einleitung gesagt.

»Ja, ich glaube auch«, hatte er so selbstbewusst wie möglich gekontert, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug.

»Donnerstag?«

»Ich komme am Nachmittag.«

»Gute Nacht«, dann hatte sie schon aufgelegt.

»Komm, da liegt eine Person im Straßengraben im Wohnungswald in Richtung Dinslaken«, Schlüter griff schon nach dem Autoschlüssel.

»Rettungswagen?«, fragte Freddie.

»Hat der Anrufer schon gerufen«, entgegnete sein älterer Kollege.

Zügig fuhren sie die Frankfurter Straße entlang, dann hinter dem stillgelegten Kraftwerk links, um zur Dinslakener Straße zu kommen. Diese fuhren sie in Schrittgeschwindigkeit entlang, auf der Suche nach der besagten Person. Schon bald sahen sie das Blaulicht eines Krankenwagens.

»Sturzbetrunken, aber kein Fall für uns«, empfing sie einer der Rettungssanitäter, »sie sieht zwar fertig aus, ist aber stabil und schlummert wie ein Baby.«

»Oh nein«, Schlüter verzog das Gesicht, »ich hab keinen Bock, dass die uns die Zelle vollkotzt! Oder schon das Auto! Die braucht doch bestimmt ärztliche Hilfe.«

»Nein, keine Chance«, grinste der Sanitäter, »bei der Hitze haben wir genug mit den Herzpatienten zu tun.«

»Irgendwelche Papiere gefunden?«, Freddie betrachtete die junge Frau, die schlafend eher wie ein junger Teenager aussah. Sie kam ihm bekannt vor.

»Noch nicht«, antwortete der Sanitäter. Vorsichtig richtete er ihren Oberkörper auf. Mit einem Blick erkannte er, dass nur die Hosentaschen einen möglichen Hinweis auf ihre Identität zulassen könnten. Er schob seinen Zeige- und Mittelfinger in die vorderen Taschen, zuckte aber nur mit den Schultern, als er dort nichts fand. Dann half Freddie ihm, die Schlafende nach vorne zu kippen, so dass sie an die Gesäßtaschen kamen. Triumphierend zog er eine EC-Karte aus der rechten Tasche. Freddie lehnte die junge Frau wieder gegen den Holzstapel und nahm die Bankkarte, die ihm der Rettungswagenfahrer entgegenstreckte.

»Mensch, klar«, rief Freddie aus, »das ist Laura, Laura Bauer!«

»Laura Bauer? Oh Mann!« Schlüter schüttelte den Kopf.

»Ja«, murmelte Freddie, »allerdings.«


Bist du noch wach?

Nein.

Brauchen deine Hilfe, kommen gleich.


Immer, wenn er sie sah, schlug sein Herz schneller. Auch jetzt, mitten in der Nacht. Mit zerzausten Haaren und einer aufgeregt hechelnden Laika neben sich öffnete Christin ihre Haustür.

»Oh! Hallo!«, überrascht musterte sie die drei Personen, die vor ihr standen.

Michael Schlüter und Frederick Neumann stützten in ihrer Mitte eine junge Frau, die offensichtlich völlig betrunken war.

»Nisch na Hause«, nuschelte sie, »nisch, sons bringisch sie um.«

»Pscht«, beruhigte Christin Laura, »hier bringt niemand jemanden um. Kommt rein«, und zu Freddie gewandt, »du hast mir da einiges zu erklären!«

Teufelskuhle

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