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2. Kapitel

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Samstag, 26. Oktober 1996

Polizeiobermeister Jens Kahler saß breitbeinig auf seinem Bürostuhl, die Arme vor der Brust verschränkt. Er schüttelte den Kopf und grinste seine Kollegen an.

»Total asozial«, schnaubte er, »und die Alte, also kein Wunder, dass der ihr eine gepfeffert hat.«

»Und wie das da gestunken hat!« Uli Brücker hielt sich geziert die Nase zu und riss seine Augen dramatisch auf. Fast alle lachten.

»Spinnst du?« Nicole Bauer stand von ihrem Schreibtischstuhl auf. »Fällt dir bei dem Anblick von diesem Elend nichts anderes ein, als dämliche Witze zu reißen?«

Uli Brücker und Michael Schlüter verstummten.

Bisher war die Nachtschicht auf der Polizeiwache Voerde ruhig verlaufen. Die vier diensthabenden Polizisten Nicole Bauer, Uli Brücker, Michael Schlüter und Jens Kahler konnten sogar ungeliebten Papierkram erledigen. Dann wurden Kahler und Bauer zu einem Einsatz zum Buschacker in Voerde gerufen. Ein älteres Ehepaar fühlte sich von dem Geschrei in der Nachbarwohnung belästigt. Vor wenigen Minuten waren die beiden Polizisten wiedergekommen und berichteten.

»Ey, was willst du denn?« Jens Kahler grinste noch breiter. »Wenn sich zwei Besoffskis zuziehen und sich dann gegenseitig in die Fresse hauen, kann ich da mittlerweile nur noch drüber lachen«, er zuckte mit den Schultern, »fürs Ändern sind wir nicht zuständig.«

»Trotzdem finde ich es total unangebracht, darüber Witze zu machen«, insistierte Nicole wütend.

»Bleib mal cool«, versuchte Polizeikommissar Schlüter seine junge Kollegin zu beruhigen, »wir sind doch unter uns, und wir wissen alle, dass solch ein Gerede hier drin bleibt.« Er ließ seinen Blick einmal durch den Raum schweifen.

Schon länger hatte er das Gefühl, dass die einzige Frau im Team der Voerder Polizei nicht mehr mit der Begeisterung arbeitete, die sie vor der Geburt ihrer kleinen Tochter an den Tag gelegt hatte. Er empfand sie oft als launisch, was sie früher nicht war. Schlüter konnte sich gut vorstellen, wie anstrengend die Doppelbelastung als Mutter und als Berufstätige war. Nicole machte viele Nachtschichten, damit sie und Carsten, ihr Mann, nicht so oft die Großeltern fragen mussten.

Aber Nicole wollte unbedingt arbeiten.

Sie betonte immer, dass man als Frau so oder so, dabei rollte sie stets vielsagend mit den Augen, auf das Schlimmste vorbereitet sein sollte – und das sei sie, wenn sie arbeitete.

Außerdem hatte er das Gefühl, dass Nicole dünnhäutiger geworden war. Schlüter hatte schon von anderen Revierleitern gehört, dass Polizistinnen nach der Geburt ihres ersten Kindes sensibler geworden seien. Aber, wenn er genau darüber nachdachte, stritt sie sich meistens nur mit Jens. Polizeiobermeister Kahler konnte auch nerven. Er war ein Macho durch und durch, immer einen Spruch auf den Lippen, gedrungen, muskulös, immer dicke Hose.

»Ich fahr mal ’ne Runde.« Die Polizistin hielt Kahler die geöffnete Hand hin. »Gib mir den Schlüssel.«

»Wer soll denn mit dir mitfahren?« Kahler sah zu Schlüter.

»Niemand, ich will einfach nur was gucken fahren und nicht hier dumm rumhocken und dein Gelaber anhören«, fauchte Nicole.

»Ja, dann fahr halt ein bisschen rum«, trat Schlüter zwischen die beiden Streitenden. Das hält ja niemand aus, dachte er, vielleicht liegt es ja auch am Vollmond.

Nicole Bauer schnappte sich den Schlüssel aus Kahlers Hand und ging ohne ein weiteres Wort nach draußen.


Nicole atmete tief durch, als sie in die kalte Nachtluft trat. Mein Gott, dachte sie, bin ich froh, wenn ich hier weg bin!

Wenig später hatte sie ihr Ziel erreicht.

Eigentlich war es absurd. Carsten liebte sie über alles. Er bekam von ihr, was er brauchte. Und doch war da ein klitzekleiner Verdacht. Außerdem, vielleicht hatte sie ja Glück und würde … Sie lächelte in sich hinein.

Sie parkte das Polizeiauto auf dem Parkplatz eines Hotels zwischen den Autos der Übernachtungsgäste und stieg aus. Obwohl das Wetter tagsüber durchwachsen gewesen war, jetzt war es trocken und wolkenlos. Hier auf dem Parkplatz tauchte der Mond alles in ein warmes, milchiges Licht, aber wenn sie sich zum Friedhof umdrehte, warf das Mondlicht groteske Schatten.

Sie lief ein Stück in den Risselweg hinein. Der Wald, der sich schon bald links und rechts von ihr ausbreitete, schluckte einen Teil des Lichts, aber sie konnte noch alles sehr gut erkennen. Auch die Autos, die an beiden Straßenseiten standen. Sie runzelte die Stirn. Teilweise gegen die Fahrtrichtung. Nein, sie hatte jetzt bestimmt keine Lust, da tätig zu werden. Die Polizistin wechselte zur rechten Seite.

Dann kam die Zufahrt, die zum Hundeverein mit seinem Vereinsheim führte. Komplett zugeparkt. Sie ging weiter geradeaus. Auf ihrer Armbanduhr sah sie, dass es jetzt kurz vor Mitternacht war. Dass im Inneren des Vereinsheims eine riesige Feier stattfand, konnte sie nur gedämpft hören. Ein etwa zwei Meter hoher Wall, der sich parallel zum Risselweg Richtung Hans-Richter-Straße zog, fing einen großen Teil der dröhnenden Bässe auf. Sie konnte auch nur einen Teil des Lichts sehen, das aus dem Haus kam.

Aber beim Anblick der Autos hatte sie gesehen, was sie sehen wollte. Zufrieden wechselte sie wieder die Straßenseite und ging zurück zu ihrem Dienstwagen.

Obwohl es Mitternacht war, war sie hellwach und die Gedanken in ihrem Kopf sprangen hin und her. Seit ein paar Wochen wurden ihr einige Dinge klar und klarer. Sie hatte die Mechanismen, die ihr Leben bisher bestimmten, erkannt und wusste nun genau, was sie in Zukunft wollte. Oder eben nicht wollte. Es würde ein anstrengender Prozess werden, aber irgendetwas in ihr freute sich auch darauf.

Vielleicht würde sie ja einen Teil des Weges mit ihm zusammen gehen. Das hätte sie ihm gerne heute gesagt, aber er war nicht gekommen. Und wenn ich jetzt mit mir im Reinen bin, kann ich vielleicht auch wieder Jens ertragen, dachte sie.

Auf der Geburtstagsfeier stellte jemand die Musik plötzlich aus und Nicole hörte die Partygäste, wie sie von zehn runterzählten, um dann nach der Eins laut »Happy Birthday to you« anzustimmen. Nicole schmunzelte, ja, happy Birthday auch von mir, dachte sie. Dann hörte sie, wie sich die Partygeräusche langsam mit dem Brummen eines sich ihr von hinten nähernden Wagens vermischten. Je näher der Wagen kam, umso lauter hörte sie jetzt die Musik, die daraus wummerte.

Heavy Metal. Harte, aggressive Beats.


»Ey, du Spacko!«, rief der Boss und riss ihm das Feuerzeug aus der Hand.

»Passt doch auf!« Der Fahrer hatte Mühe, den Pritschenwagen zu steuern. Neben ihm saß sein Boss, gegen die Beifahrertür gequetscht, der, den sie nur »Spacko« nannten. Der Boss und Spacko waren laut und aufgekratzt, als ob sie schon etwas geraucht hätten. Sie zankten sich um alles Mögliche, um den Tabak, um das Feuerzeug, um ein Pornoheft, das sie in der Ablage unter dem Armaturenbrett gefunden hatten.

Natürlich zog der Spacko dabei immer den Kürzeren. Der Fahrer konnte nicht sagen, ob der Spacko extra etwas ungeschickt war, wenn es zum Beispiel darum ging, nach dem Tabakpäckchen zu greifen, das der Boss ihm vor die Nase hielt und dann plötzlich wieder wegzog, oder ob Spacko den langsamen und etwas begriffsstutzigen Kollegen spielte, um es sich nicht mit dem Sohn des Chefs zu verscherzen. Letztendlich war es ihm egal, er riss hier einen Aushilfsjob ab, und dann würde er wahrscheinlich nie wieder etwas mit diesen Typen zu tun haben.

Auch zu dieser nächtlichen Aktion hatte er sich nur überreden lassen, den Chauffeur zu machen, weil der Boss ihm versprochen hatte, dass er dafür Arbeitsstunden angerechnet bekomme. Wie für jeden Chauffeurdienst, um den er ihn bat. Der Sohn des Firmenchefs hatte zurzeit nämlich keinen Führerschein, aber da er von einem Gast, der im Hotel Saathoff übernachtete, gehört hatte, dass diverse Damen nachts am Risselweg zu finden seien, wollte er unbedingt dorthin.

Die Heavy-Metal-Musik, die laut und schlecht aus den einfachen Boxen des Baustellenfahrzeugs schallte, nervte ihn genauso wie seine aufgekratzten Kollegen. Aber da der Boss sie eingelegt und den Lautstärkeregler bis zum Anschlag gedreht hatte, konnte er dagegen leider nichts machen.

»Ey«, der Fahrer verdrehte die Augen, mit diesem Wörtchen fing der Boss jeden Satz an, »da vorne!« Der Boss deutete mit dem Finger zur Straße. »Ey, guckt mal! Da läuft ’ne Kuh! Guckt mal, wie der fette Arsch wackelt! Is vielleicht schon eine der Nutten!«

Der Spacko und der Boss grölten. Dieser stieß ihn an. »Ey, schläfst du schon? Oder sind dir die Nutten nicht gut genug?«

Langsam näherten sich die drei der Fußgängerin. Ihr geflochtener, rotblonder Zopf wippte bei jedem Schritt leicht mit. Sie drehte ihren Kopf nach links, um dann aber wieder stur geradeaus zu gucken.

»Ach, du Scheiße!«, rief der Boss aus, »das ist die Polizistin, die mir meinen Lappen abgenommen hat! Warte mal«, er legte seine Hand auf seinen Arm, »fahr mal langsamer, bleib hinter der!«

Er schaltete einen Gang runter und spielte vorsichtig mit der Kupplung und dem Gaspedal. Der Spacko hatte keinen Führerschein, und der Boss hatte seinen wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss vorläufig verloren. So musste er immer den Pritschenwagen zu den Arbeitseinsätzen, die sie gemeinsam hatten, steuern. Es war für ihn eine große Umstellung, da er bisher nur den Kleinwagen seiner Mutter gefahren hatte.

»Das kannst du doch gar nicht richtig sehen«, sagte er, »komm, guck, was du gucken willst, und dann ist gut.«

»Nein, warte!« Der Boss lehnte sich noch weiter nach vorne. »Das ist die blöde Kuh! Das ist sie ganz bestimmt!« Aufgeregt drehte er seinen Kopf nach links und rechts zu seinen Kollegen. »Ich erkenne sie an dem dämlichen Zopf und dem fetten Hintern. Fahr mal langsam näher ran!«

Er wurde nervös. »Nee«, schüttelte der Fahrer den Kopf, das Lenkrad mit verkrampften Händen umschließend, »jetzt gib doch mal Ruhe mit der Frau. Es ist doch viel zu dunkel, das kannst du doch gar nicht richtig erkennen. Lass’ mich jetzt einfach fahren.«

»Ja, gleich.« Sein Chef wandte sich mit einem hämischen Grinsen zu ihm, »wir jagen jetzt der blöden Fotze einen richtigen Schrecken ein! Komm, gib mal ein bisschen Gas!«

»Ja«, feuerte auch Spacko ihn an und echote seinen Boss, »jag der mal einen Schrecken ein!«

Er trat die Kupplung, gleichzeitig griff sein Boss nach dem Lenkrad und zog es nach rechts, zum Straßenrand. Er versuchte, ihn mit seinem Ellenbogen wegzudrücken. Dabei rutschte sein Fuß von dem Kupplungspedal und der Wagen machte einen Satz nach vorne.

Es dauerte einen ewigen Moment, bis sie realisierten, was gerade gegen die Front des Pritschenwagens geknallt war.


Erst die Überraschung, dann der Schmerz.

Unerträglich.

Sie schmeckte Blut in ihrem Mund.

Sie versuchte, irgendwie ihre Hände zu bewegen. Sie auf das nasse, struppige Gras und Laub des Randstreifens zu drücken. Den Kopf zu heben. Nach hinten zu schauen.

Sie hörte, wie der Wagen, ein großer Wagen, wendete und wegfuhr.

Nicole konnte auch nicht unterscheiden, ob das Dröhnen in ihrem Kopf Musik oder Schmerz war.

Sie legte ihre Wange auf den kühlen Boden.


Die aggressive, wummernde Musik verklang. Er konnte jetzt noch vage die Partymusik aus dem Gebäude hinter dem Wall hören und das gedämpfte Rauschen der B 8.

Langsam kam er wieder im Hier und Jetzt an und realisierte, was er beobachtet hatte. Trotz der fahlen Dunkelheit konnte er sie auf dem Boden liegen sehen. Er sah, dass sie lebte. Gott sei Dank!

Gerade, als er sich aus seiner Erstarrung lösen und zu ihr gehen wollte, sah er jemanden auf Nicole zugehen.


Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie Schritte hörte. Ganz vorsichtig wendete sie ihren Kopf und blickte nach oben.

»Du!« Erleichterung rieselte ihr durch den Körper. »Gott sei Dank!«

Teufelskuhle

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