Читать книгу Cara - Drachenseele - Sabine Hentschel - Страница 14
Rotes Morgengrauen
ОглавлениеRey und ich hatten uns in einer Höhle am Fuß des Berges verkrochen. Es war kalt und nass, aber zumindest waren wir sicher.
»Sie scheinen die Leichen gefunden zu haben. Ich habe mindestens drei Polizeiwagen hinauffahren sehen. Wie geht es dir?«, Rey blickte mich fragend an.
»Ich weiß nicht, irgendwie komisch, als hätte es immer noch Macht über mich«, mir war schlecht und mein Magen knurrte laut. Wie konnte mein Körper jetzt an Essen denken.
»Das wird schon wieder«, versuchte er mich zu beruhigen. Aber es gelang ihm nicht. Mein Kopf war voller Gedanken und Emotionen. Ich konnte ihn nicht einfach abschalten. Und vor allem war ich mir immer noch nicht sicher, ob ich Rey wirklich vertrauen sollte.
Er setzte sich neben mich und legte seine Hand um meine Hüfte. Dabei bemerkte er die Infusionen in meiner Tasche: »Was hast du da? Das sind doch nicht etwa … die Infusionen? Was soll das? Was willst du damit?«
Ich stieß ihn von mir weg. Einerseits, weil ich seine Nähe nicht wollte, andererseits um die Infusionen vor ihm zu schützen. Es war wie ein Instinkt.
Ehrlich gesagt wusste ich nicht, wieso ich sie eingepackt hatte. Aber ich würde sie ihm auf gar keinen Fall wiedergeben.
»Ich «, versuchte ich, die Situation zu entspannen: »Ich weiß nicht. Aber so ist es besser.«
Rey starrte mich irritiert und wütend an. Damit hatte er wohl nicht gerechnet.
Wollte er so tun, als wäre nichts gewesen?
Wie wollte er da wieder anfangen, wo wir aufgehört hatten?
Für ihn schien alles wie vorher.
Für mich war alles anders.
Mein Körper schrie nach diesen Infusionen, wie ein Junkie, der seinen nächsten Schuss brauchte. Nur mein Kopf hinderte meinen Körper daran, sich zu nehmen, was er wollte.
»Ich habe so viele Fragen ... Was passiert, wenn ich es nicht nehme? Was ist, wenn ich alle überlebe? Gibt es noch mehr wie ...« Das Knurren meines Magens durchbrach meinen Fragenmonolog.
Rey sah mich an und schüttelte den Kopf: »Ich weiß es nicht. Stene hat nie viel darüber gesprochen. Alles, was er sagte, war, dass wir aufpassen müssen, dass uns der Hüter der Verdammten nicht erwischt. Keine Ahnung, was oder wer dieser Hüter ist.«
Ein Hüter der Verdammten. Was sollte das bedeuten?
»Moment? In den Infusionen ist Blut?«, hakte ich angewidert nach.
Rey zuckte mit den Schultern: »Nein. Das glaube nicht. Ich weiß es nicht. Können wir es nicht einfach dabei belassen?«
»Du hast gut reden. In deinem Körper steckt das Zeug nicht. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie sich das Anfühlt?«, meckerte ich ihn an.
Rey murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, bevor er sich aufrappelte und die Höhle verließ:
»Ich gehe runter in die Stadt. Die Leute wissen nicht, dass ich mit Stene abgehangen habe. Mal sehen, was ich herausfinde, wenn die Luft rein ist, hol ich dich. Und ... ich bring dir was zu Essen mit.«
Ich drehte mich von ihm weg, wie ein trotziges Kind.
Was sollte das?
Kaum wollte ich etwas mehr von ihm erfahren, machte er gleich dicht. Das konnte so nicht weiter gehen.
Als ich ihn nicht mehr hören konnte, holte ich die Infusionen aus meiner Tasche und betrachtete sie. Ein seltsamer Duft ging von ihnen aus. Süßlich, aber nicht aufdringlich. Wie ein Bonbon, das man gerade aus seinem Papier schälte. Ein Geruch der Verlockung. Als wollten sie mir sagen, »Nimm uns«. Wir tun dir gut. Du brauchst uns. Mit uns fühlst du dich besser. Und doch stieg die Angst in mir auf.
Was würde passieren, wenn ich sie nahm? Wäre dann alles vorbei? Würde es mich umbringen?
Ich schwankte zwischen Faszination und Angst hin und her. Kam mir selbst vor wie ein Süchtiger, ein Junkie, der nach seinem nächsten Schuss gierte. Nach der Aufregung, der kurzen Erlösung von Schmerz und Leid.
Seltsam, wie sehr eine einzige Sache einen aus der Bann werfen konnte. Ich legte die Infusionen auf den Boden ab und lief in der Höhle auf und ab. Ich musste mich ablenken, bevor mein Körper die Kontrolle über mich übernahm.
Ich zählte die Schritte. Die Kehrtwendungen.
Blickte immer wieder auf die Infusionen. Hörte ihr stilles Rufen und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
‚Reiß dich zusammen’, schrie ich mich selbst an. Doch umso mehr ich mich bewegte, umso mehr schien ich zu halluzinieren. Vernahm immer wieder das Rufen der Infusionen »Nimm uns«.
Während die Sonne langsam aufging, hoffte ich darauf, die Erlebnisse der letzten Nacht irgendwie hinter mir lassen zu können. Aber ich freute mich zu früh.
Das rötliche Morgengrauen erinnerte mich noch mehr an das Blut, das sich überall im Raum verteilt hatte, an Lisys toten Körper, an die Leichen. All diese Gedanken kreisten wie Geier um mich herum.
Ich zuckte immer wieder zusammen, wenn mir eines der Bilder in den Kopf kam. In diesem Moment wünschte ich mir, dass Rey zurückkam und mir Gesellschaft leistete. Trotz der Sachen, die zwischen uns standen, brauchte ich ihn mehr denn je.
Seltsam, wie schnell sich die eigene Meinung ändern kann. Dabei ging es mir in diesem Moment nur darum, nicht alleine zu sein. Doch es war keine Menschenseele weit und breit zu hören.
‚Oh, Rey, wo bist du?’, dachte ich, als ich mich aufgrund der Kälte in die Höhle zurückziehen musste. Zurück zu den Infusionen, nach denen sich mein Körper so sehr sehnte. Unbewusst nahm ich eine der Beiden in die Hand und betrachtete sie. Als ich sie umdrehte, piekste ich mich am Finger. Zu meiner Verwunderung hing eine Infusionsnadel an der Infusion. Ich legte sie zurück und betrachtete die andere. Da war keine Nadel.
‚Na toll’, dachte ich bei mir. Ausgerechnet die mit Nadel nimmst du als Erstes in die Hand.
Im selben Augenblick erfasste ich erneut ihren Geruch. Er war süßlich, hatte etwas eisenhaltiges.
Das war eindeutig zu viel für mich. Ich packte beide wutentbrannt und wollte sie nach draußen schmeißen, aber mein Körper hielt mich davon ab.
Er weigerte sich, das zu tun, was ich wollte und ich spürte eine eigenartige Angst vor mir selbst.
Was sollte jetzt aus mir werden?
Ich weiß nicht, wie oder wann ich endlich Ruhe fand.
Aber irgendwann musste ich vollkommen erschöpft eingenickt sein; als ich aufwachte, blickte ich mich suchend nach Rey um.
Aber er war noch nicht zurück. Ich richtete mich auf und streckte meine steifen Glieder.
Im Augenwinkel sah ich eine Gestalt vorbeihuschen.
»Lisy?«, rief ich, doch als ich nachsehen ging, war niemand mehr zu sehen. Ich schüttelte den Kopf.
Na super, jetzt habe ich auch noch Halluzinationen. Wie gern läge ich jetzt auf meinem Bett zu Hause im Warmen. Ich erinnerte mich an die unzähligen Mädelsabende mit Lisy. Unsere nächtelangen Gespräche über Gott und die Welt. Ich vermisste sie so sehr. Das musste einfach ein böser Albtraum sein.
Ich wollte nur noch aufwachen aus dem Ganzen.
Lisy in meine Arme schließen und ihr sagen: ‚Ja. ich werde mit dir auf die Weltreise gehen. Komme was wolle. Wir sind Freundinnen fürs Leben.’
Doch im gleichen Moment schoss mir das Bild ihres toten Körpers in den Kopf. Es schüttelte mich und die Tränen begannen erneut zu fließen.
'Du kannst mich doch nicht allein lassen?', dachte ich.
Wütend und verzweifelt.
Lisy war immer diejenige von uns Beiden, die stets nach vorne blickte.
Diejenige, die in etwas Schlechtem immer einen Anfang für etwas Gutes sah. So viel positive Energie konnte ich nie aufbringen. Was sollte ich jetzt ohne sie tun? Wollte ich überhaupt noch Leben? War es, nicht einfacher ... einfach tot zu sein?
Ich sackte innerlich zusammen. Während ich noch darüber nachdachte, wie und ob es weitergehen sollte, schweiften meine Gedanken soweit ab, dass ich die Kontrolle über meinen Körper verlor. Mein Unterbewusstsein führte die Nadel der Infusion in die Vene und alles, was ich von da an noch spürte, war Wärme und Geborgenheit. Ich schmunzelte zufrieden – gleich bin ich bei dir.
Der Schmerz war schwächer als beim letzten Mal. Vielleicht verdrängte ich ihn auch einfach nur. Vor meinen Augen verschwamm alles.
Ich fühlte eine tiefe Zufriedenheit. Ich schloss die Augen. Das war es.
»Cara«, rief plötzlich jemand. Ich öffnete abrupt die Augen: »Lisy«, und entdeckte eine schimmernde Gestalt vor mir.
War das möglich?
Ich rappelte mich auf, wodurch mir Reys Mantel von den Schultern rutschte und lief zum Ausgang der Höhle. Doch die Gestalt war verschwunden.
Ich atmete schwer – Was war das?
Noch während ich darüber nachdachte, ob mir mein Kopf Streiche spielte, bemerkte ich, dass mein Körper erneut von Schuppen bedeckt war.
Doch dieses Mal war es anders. Ich konnte sie mit meinen Gedanken kontrollieren. Sie bewegten sich nach meinem Willen.
Ich umhüllte meine Füße und Beine, als hätte ich Stiefel. Schuf mir einen Rock und ein Top mit V-Ausschnitt. Es sah aus, als trug ich Klamotten, die direkt aus meinem Schrank kamen.
Ich war so fasziniert, dass ich meinem Rücken kaum Beachtung schenkte. Aber irgendetwas war anders als vorher. Ich fühlte mich so leicht.
Spürte kaum noch den Boden.
Verwundert betrachtete ich meinen Schatten, der sich mittlerweile an der Höhlenwand abzeichnete.
Was war das?
Was war ich?