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Zurück in der Welt

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Jeremias beendete das Telefongespräch mit der Austaste. Es war einer dieser Tage, an dem er sich fragte, ob es irgendjemanden auf dieser Welt gab, der sich darum scherte, wie miserabel es ihm ging. Sein Verleger hatte ihn für Mittwoch bestellt, um die fertigen Fotos der Marketingabteilung vorzulegen. Die letzten drei Wochen hatte er hart an ihnen gearbeitet: Schatten geschwächt, Lichtakzente gesetzt, Eyecatcher nachträglich ausgearbeitet, geschnitten, bis eine exzellente Auswahl für das neue Kochbuch zusammengestellt war. Der Termin drängte, aber als Perfektionist war er immer noch nicht mit der Zusammenstellung zufrieden. Ihn faszinierte es, die unglaubliche Schönheit von Essen und Trinken zu entdecken, zu beleuchten, den perfekten Augenblick festzuhalten, bevor der unaufhaltsame Verfall sich einleitete. Den Moment der Feinheit zu erfassen beflügelte ihn, spürbar auf dem Foto herauszukitzeln, lebendig den Duft einzufangen. Es bedurfte Instinkt und guter Ausleuchtung. Jeremias verzichtete auf Lacke, Farben, Haarspray, jegliche Hilfsmittel, derer sich viele seiner Kollegen bedienten. Ihn reizte, die Natürlichkeit und Einzigartigkeit der Lebensmittel darzustellen. Bei seinen Fotos sollte den Betrachtern nicht nur das Wasser im Mund zusammenlaufen, alle Sinne sollten sich entfalten, der Geruch wahrnehmbar sein. Die Gewürze sollten die Zunge erotisieren. Mit der Zeit lag er hart am Limit, was nicht sein Stil war. Schuld war Carina. Sie, die sein Leben veränderte. Liebe hatte sie ihm geschworen, nur um ihn später eiskalt abzuservieren, vor die Tür zu setzen, einfach so. Jeremias mochte nicht an Carina denken, der er vertraut hatte, die ihn so gemein betrogen, ihn belogen hatte von Anfang an, sie, die es nie ehrlich meinte. Es galten nur ihre Bedingungen, sie wollte ihm nicht vertrauen. Die Wut erfasste erneut seine Gedanken. Dieses gefühlskalte Biest hatte seinen Glauben an Liebe zerstört. Für ihn verbanden sich diese Fotos mit Carina, an sämtlichen Einstellungen klebte schmierig ihr Betrug. Sie hatte ihm hierbei assistiert, wenn sie freihatte.

Er nahm sich vor, mit Beendigung dieses Auftrags nicht mehr an sie zu denken, aber solange er an diesem Projekt arbeitete, wurde er täglich erinnert, wie sehr diese Frau ihn verletzt hatte. Jeder Cut schnitt sich in sein Fleisch, wie ein scharfes Messer.

Zwei Tage blieben Jeremias Zeit. Er wohnte in der Anliegerwohnung im Haus seines Vaters. Neben einem Wohnund Arbeitszimmer gab es ein Bad, eine Küche, ein Schlafzimmer und ein Fotostudio im Keller des Vaters. Im Bad befand sich ein kleines Labor, was er kaum nutzte, denn er bevorzugte digitale Aufnahmen.

Jeremias schaute verloren in sein Spiegelbild. »Du siehst aus wie ein Zirbengeist! So, wie du zurzeit wirkst, kannst du dich beim besten Willen nicht im Verlag blicken lassen«, murmelte er, kratzte sich am Bart, der ungepflegt abstand. Jeremias nahm eine Schere und stutzte das Gestrüpp. Ein Vollbart wäre einmal etwas anderes, Carina mochte keine Bärte. Den Schnauzer ließ er lang stehen, zwirbelte ihn mit Haarwachs zur Seite. Die buschigen Augenbrauen hatte er sich früher radikal beschnitten, in der letzten Zeit hatte er kein einziges Haar an seinem Körper gekürzt. Sein Gesicht grinste ihm wild aus dem Spiegel entgegen. Die struppige Mähne gefiel ihm nicht.

Seit November hatte Jeremias das Haus nicht mehr verlassen, seit jenem unglückseligen Tag, an dem er zurück zu seinem Vater in seine alte Wohnung gezogen war. Tagelang lag er im Bett, dachte an Carina. Die Dunkelheit umfing ihn, sogar am Tag. Kein Gefühl drang in seine Seele, weder Licht noch Wärme. Das Leben schien eine Halluzination zu sein. Der Vater ließ ihn in Ruhe, er kannte ihn, wusste, mit Worten war er unerreichbar. Jeremias fühlte sich monatelang wie ein Gefangener seiner selbst, nicht in der Lage aufzustehen. Er musste seine Fotos bearbeiten, aber er war unfähig seine Beine in Gang zu bringen, seine Arme streikten, er wollte seinen Frieden, unwissend und blind. Er gierte nach Schlaf, der ihn zu meiden versuchte. Er suchte ruhelos nach Entspannung, die ihn nie erfüllte. Friedlos lag er in einer Art wachem Koma, außerstande zu denken, sich aufzuraffen. Die Qual, nicht völlig in die Traumwelt fallen zu können, marterte ihn unendlich. Die Leere im Kopf, der Körper, der sich weigerte sich zu bewegen, ihm war alles egal. Er sehnte sich nach Einklang, Seelenruhe. Wer schläft, denkt nicht, vergisst, quält seine Innenwelt nicht. Der heilende Prozess des Erholens fand keinen Weg zu ihm, selbst wenn er eine Tablette schluckte. Erst das dritte Dragee führte ihn ins Zauberland. Traumlose Phasen, die er sich bei der Pharmaindustrie erkaufte, bohrten in seinem Gehirn genauso wie die ausgeschlafenen Momente. Er schlief tief, trotzdem oberflächlich. Er wachte auf, fühlte sich zerschlagen. Er wünschte sich ein behäbiges Hineingleiten in den Tag. Aber sobald er erwachte, spürte er ein hohles Gefühl, die Lider brannten, der Schädel brummte, ein schwarzes Loch klaffte in seinem Kopf. Und sofort, ohne Vorahnung erschien Carina erneut, folterte seine Gedanken, forderte jede Aufmerksamkeit. Die Augen stachen in den Höhlen wie Dornen, weiter und immer weiter. Gesichter plagten ihn, Mal für Mal Carina. Sie tanzten vor ihm, warme Blicke, die sich langsam in Fratzen umwandelten, stürzten auf ihn ein, um ihn auszusaugen, alle Emotion aus ihm herauszureißen, Frauen, die er liebte, die er hasste, Menschen, die ihn betrogen, mit seinen Gefühlen spielten, ihn allein ließen.

Jeremias dachte nach. Carina, wie sah sie aus? Er erinnerte sich nicht mehr genau. Dunkelblonde Wellen, lang und rötlich schimmernd im abendlichen Sonnenlicht. Er konnte ihr Antlitz nicht rekonstruieren. Zwischen den Haaren lag eine helle Fläche. Ein Areal, Grinsen, keine Augen, ohne Nase, mit einem Engelsmund.

Wer kam ihm in den Sinn? Frau Thomas, seine Grundschullehrerin. Graue Locken, kein Miene. Frau Thomas, die er mochte. Plötzlich war sie verschwunden, man hatte ihn auf eine andere Schule geschickt und er fühlte sich einsam.

Jeremias rief sich seine Mutter ins Bewusstsein. Eine schwarze lange Mähne hüllte ihn ein. Eine kalte Kugel, kein Lächeln. Nicht einmal an ihr Kinn erinnerte er sich, nicht an die Farbe ihrer Iris. Verena, die neue Mutter, kaum älter als er selbst. Tief dunkle Haarpracht, voluminös. Ein Lachen, ein trauriges Gesicht ohne Kontur.

Das Bild verflog, Angelika tauchte auf. Hellbraune Haare, lang. Jeremias vertiefte sich in die Fratze, aber so sehr er sich anstrengte, sie blieb leer.

Langsam konzentrierte er sich auf seine Einschulung. Er zählte die Klassenkameraden, es fielen ihm alle ein. Jeder erschien einzeln in seinem Gedächtnis, sogar die Kleidung konnte er zuordnen. Er sah den Glanz in den Augen der Kinder, Paul mit den grauen Glubschern und Sommersprossen, das gewinnende Grinsen von Volker und seine wasserblauen Augen. Seine schmalen Lippen öffneten sich vor Jeremias. Tina trug hohe Zöpfe, ein rosa Kleid, sie machte einen Knicks vor der Lehrerin, lächelte Jeremias dabei verschmitzt an, rote Wangen, Segelohren. Er erinnerte sich an jeden.

Schulwechsel. Namen umschwirrten ihn, manche Gesichter lösten sich auf. Das Internat kreuzte seine Gedanken: Jens, sein Zimmergenosse, und all die anderen. Die Personen waren komplett, besaßen lebende Mienen. Nur nicht Angelika.

Wieder konzentrierte sich Jeremias auf Carina. Er schaute in ein inhaltsloses Antlitz. Er sah ihre Haare, ihr grünes Kleid, betrachtete sie wie die Pappteile einer Anziehpuppe, bei der man zwar weiß, wie die Kleidung aussehen soll, sich aber noch nicht für ein Gesicht entschieden hat.

Carina, Angelika, Verena, Mama, Max, ein A hing im Raum, leere, konturlose Visagen. Warum war er nicht in der Lage in ihre Züge zu blicken? Jeremias hielt seinen Kopf mit beiden Händen, presste die Finger fest an die Schläfen. Wieso? Wozu? Jeremias atmete rascher. Du kannst ihre Gesichtszüge sehen, doch du willst es nicht, hämmerte es in ihm. Mutters Ausdruck kam langsam in seinen Gedanken hoch, verzog sich zu einer Fratze. Mehr Erinnerung war sie nicht wert. Sie hatte ihn verlassen, als er sie brauchte. Aus purer Eigensucht, für ihre Pferde, für diesen Mann. Sie ging fort, ohne Jeremias, allerdings nicht ohne die Gäule. Sie zog zu diesem Rennfahrer, der sich kurz danach zu Tode fuhr. Genau das hatte Jeremias sich gewünscht! Doch Mutter blieb verloren, nicht weit entfernt, trotzdem unerreichbar für ihn, sie kam nicht zurück, auch holte sie ihn nicht zu sich. Verena verließ ihn, als er sie begehrte. Als sie sich verliebte, in den Sohn ihres Mannes.

Dann kam Angelika. Doch sie zog aus, um allein zu sein, Max nahm sie mit. Jeremias sei ihr unerträglich geworden, so sagte sie. Hatte sie je gefragt, ob er sie aushalten könne? Was bezeichnete man als Erträglichkeit? Das Akzeptieren des anderen, ohne Wenn und Aber. Weil man ihn liebte.

Als Mama fortging, schwor er sich, niemals zu lieben. Doch sie saugten ihn aus, zogen ihn in ihren Bann, bis er die Kontrolle über sich selbst nicht mehr besaß und fiel. Und am Ende brachen sie mit ihm. Alle Weiber waren Nutten, die es von vornherein darauf abgesehen hatten, ihn zu verletzen, ihn unbeherrscht zu sehen, um ihn letztendlich fortzustoßen und sich an seinem Leid zu weiden. Er rutschte den Brunnen hinunter, verlor den Verstand. Unten wartete nicht Frau Holle, er stürzte in die Finsternis, immer tiefer, ein Fall ohne Aufprall.

Carina wollte ihn. Carina sagte, sie liebte ihn, und mit Carina kam auch sein kleiner Max zurück. Jeremias glaubte ihr. Doch sie betete schon einen anderen an. Sie log ihn an. Sie hatte ihn nur mit leeren Worten geliebt, nicht mit dem Herzen, eiskalt, nur aus Berechnung. Nicht eine Sekunde hatte sie ihm wirklich ihre Seele geschenkt. Max liebte ihn, gleichwohl Angelika und Carina hatten ihn verdorben, sie hatten ihm Max weggenommen.

Frauen konnten nicht lieben, sie waren oberflächlich und gefühlskalt. Weiber amüsierten sich gern. Wenn es sie langweilte, gingen sie. Jeremias fühlte sich wie ein Idiot. Viel zu lange hatte er gebraucht, um zu verstehen, Evastochtern durfte man nicht trauen. Wie oft war er auf sie hereingefallen. Jetzt war Schluss! Mit Frauen hatte man Spaß, aber niemals Freude!

Nach Monaten war er endlich in der Lage, das schwarze Loch zu überwinden, zum Teil jedenfalls. Im neuen Jahr erlangte er langsam die Kontrolle über sein Leben zurück. Von nun an lebte Jeremias nur noch für seine Fotos. Stunden um Stunden saß er vor dem Rechner, jeden Tag. Das lenkte ihn ab. Die innere Bedrohung verkleinerte sich. Er konnte dem Alltag nicht davonlaufen, er musste sich stellen, so schwer es auch fiel. Trotzdem war er nicht fähig ein Buch zu lesen, sich auf einfachste Dinge einzulassen. Filme liefen an ihm vorbei, als hätte er sie nie gesehen. Die einzige Kraft, die ihm blieb, fokussierte er auf seine Arbeit. Freizeit betrachtete er aktuell als Langeweile. Musik, Theater, Bücher ödeten ihn an. In Phasen, in denen er sein Gehirn der Welt öffnete, nagte das schwarze Loch in ihm, vergrößerte sich, machte Zerstreuung eintönig, die Gruft in seinem Kopf vergrößerte sich. Erinnerungen schleppten sich mit den Tönen, lethargisch kamen die Monster zurück mit den Klängen, die mit ihnen verbunden waren, mit Erlebnissen, mit Räumen, mit Landstrichen. Sie sangen ein Lied in einer scheußlichen Melodie mit schrillen Nuancen. Nie ließen sie ihn zufrieden. Wenn er anfing, etwas zu genießen, schwebte eine Visage ein, ein Lächeln, das ihm das Gefühl in der Magengrube verpasste, kotzen zu müssen. Das Lächeln mutierte zum Grinsen, zur Fratze und die Grube öffnete sich, sog ihn auf. Schritt für Schritt verfiel er in seine Lethargie. Das durfte nicht sein. Er klammerte sich an die Beschäftigung, sie hielt Jeremias aufrecht, zwang ihn zur Konzentration, sich von den Depressionen zu lösen. Eine anstrengende Arbeitsphase verschaffte ihm Schlaf. Echten Schlaf, tief, ohne Tabletten, sicherte ihm die Ruhe, nach der er sich sehnte.

Jeremias ließ sich eiskaltes Wasser über die Hände laufen, benetzte sein Gesicht. Er blickte in den Spiegel, atmete tief durch, latschte den Flur entlang und zog sich umständlich seinen Trenchcoat an. »Papa!«, rief er ins Nebenzimmer, »ich gehe zum Friseur!«

Ungläubig stand der Vater auf, schlurfte in den Hausflur, starrte um die Ecke. »Ist gut, Jeremias, falls ...«, der Vater brach ab. Falls was, dachte er. Es fragte sowieso niemand nach Jeremias, aber immerhin, er verließ das Haus, ein guter Anfang. Kopfschüttelnd ging er wieder zurück zu seiner Zeitung. »Werde einer schlau aus dem Jungen!«, redete er mit sich selbst.

»Und ich soll wirklich die ganze Mähne stutzen?« Dem Friseur flackerten die Augen. »Was halten Sie davon, unten kurz, das Deckhaar lang, mit ein paar leichten Strähnchen über den Seiten?« Entzückt zogen seine zarten Finger das Haar auseinander. Er zupfte es hoch, ließ es fallen, spannte die Strähnen, zog sie locker nach hinten.

»Ein paar orange Tigerstreifen in der Mitte bitte!«, witzelte Jeremias. »Wie glauben Sie, sehe ich aus? Wie ein Freak?

»Nein, aber ein bisschen Chic kann nicht schaden, es muss ja nicht völlig abgefahren sein!«, näselte der Friseur beleidigt. »Wenigstens eine Wet-Frisur, einen Schwung, den knete ich mit Haarwachs ein, es sieht aus wie gekämmt, fällt immer natürlich!«

»Oh Mann, bin ich beim Damenfriseur?«, zischte Jeremias genervt. »Einfach ledernackenkurz, ohne Haarspray und Minipli!«

»Bitte, wie Sie wollen!« Der Friseur verdrehte seine Augen, zog die Mundwinkel nach unten. »Ich bin einer der besten Haardesigner von ganz München. Wenn Sie nur einen Cutter brauchen, hätten sie es billiger haben können!« Er schnippte mit den Fingern und rief den Auszubildenden herbei.

»Da kannst du nichts verschnippeln: waschen, kämmen, Zopf am Oberkopf abschneiden und nahkampfmäßig kurz, wie ein US-Marine!« Der Friseur schlenderte betont lässig, mit schwingenden Hüften davon.

Innerhalb von Minuten fiel die lange Mähne. Neben Jeremias lag ein Zopf auf der Ablage. Mit dem Rasierer verschwand der Rest seiner Haarpracht.

Jeremias betrachtete sich im Spiegel, während der Azubi den Föhn holte.

»Ist schon gut!« Jeremias strich sich mit der Hand über den Kopf. »Bereits trocken!«

Er schaute sich unentwegt an. Besonders hübsch sah er nicht aus, jedoch völlig verändert, wie eine andere Person, und das tat gut. Würde sein Vater ihn auf fünf Meter Entfernung erkennen? Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, schien ihm unbekannt. Ein merkwürdig leichtes Gefühl umgab seinen Kopf. Er schüttelt seine Haare, die nicht mehr existierten. Alles war divergent. Das war nicht Jeremias, aber der Typ gegenüber wirkte sympathisch. Ein harter Kerl, ein wenig urwüchsig mit dem vollen Bart und den buschigen Augenbrauen. Keine Spur blieb von dem feinen Jeremias übrig, den er kannte, dem schöngeistigen Menschen, der die Zierlichkeit liebte. Er war nicht mehr der Alte, zu viel war zerstört, doch er würde jetzt wieder leben können. Zu lange hatte er sich verkrochen. Jeremias atmete tief ein. Die Zeit davor war Geschichte, die Zukunft begann in diesem Augenblick. Er besaß erneut seine gewohnte Kraft. Wenn die Fotos abgegeben waren, würde er seine letzten Gedanken an Carina auslöschen und zu einem normalen Leben zurückfinden können.

»Sieht echt klasse aus! Ehrlich, sollten Sie eine Freundin haben, rufen Sie lieber zur Warnung vorher an!«, grinste der Auszubildende. »Es hat etwas von einer Jailhouse-Frisur. Garantiert läusefrei!«

Grimmig schob ihn Jeremias zur Seite, schritt energisch zur Kasse.

Vom Friseur aus ging Jeremias zu einem Optiker. Er suchte sich eine Sonnenbrille aus. Das Pilotengestell mit den dunklen Gläsern in Tropfenform gefiel ihm. Neben dem Optiker befand sich ein Reisebüro. Er blieb abrupt stehen. In die Ferne, warum nicht?, dachte Jeremias. Er betrat den Laden, fragte nach Orten zum Sonnen und Baden im Meer. Asien war ihm zu weit und Reis zuwider. Die Dame im Reisebüro überlegte nicht lange: Karibik, Nordafrika oder Kanaren, wo sollte es sonst Anfang April warm sein? Sie kramte nach Angeboten. Am Nebentisch hörte Jeremias, wie eine Frau auf blaues Meer bestand. Dieses Jahr wolle sie auf jeden Fall in blauem Wasser baden, nichts anderes, wehe, wenn ihr Reiseziel kein blaues Meer vorweisen könne, drohte sie laut. Die Frau, um die fünfzig, besaß eine ausladende Hüfte, ihre weiße Polyesterbluse schaute auf der einen Seite aus dem beigefarbenen Faltenrock heraus. In den Händen hielt sie eine braune Kunstledertasche fest an den Bauch gedrückt. Ihr dunkelblauer Mantel hing über den Stuhl, der Kragen wirkte abgetragen. Auf dem Kopf trug die Frau einen karierten Hut. Ihr wurden die Kanaren empfohlen. Sie entgegnete, der Atlantik sei nicht blau, das müsse man doch wissen, der Atlantik sei grün und grün wolle sie nicht!

Die zwei Angestellten in dem Reisebüro blickten sich ermüdet an. Jeremias rückte den Stoß Prospekte vor sich gerade, bedacht, gleichen Abstand von Stapel zu Stapel zu halten. Dann wischte er mit einem Taschentusch über das Glas eines Tischständers. Er besaß nicht die Geduld zu warten, bis er an der Reihe war, verließ mit ein paar Katalogen im Arm schnell das Geschäft.

Am Mittwochmorgen traf sich Jeremias mit Herrn Töter in seinem Verlagsbüro. Er führte Jeremias in einen Besprechungsraum, andere Mitarbeiter trudelten schwatzend ein. Die tiefen, klaren Farben und die Natürlichkeit der Nahrungsmittel auf den Fotos überraschten. Alle waren begeistert von der Luzidität seiner Bilder, von dem besonderen Empfinden, das sie vermittelten. Herr Töter brachte es auf den Punkt, er spürte Lust, in die Abbildungen hineinzubeißen. Dieses Gefühl herüberzutransportieren sei Jeremias gelungen. Die Farben und die Frische suggerierten den Duft, der die Nase kribbeln ließ, den Speichelfluss anzuregen. Das gelinge nicht jedem Lebensmittelfotografen, das sei die Kunst. Man besprach ein paar Details, die Jeremias in den nächsten Tagen nachliefern solle. Herr Töter meinte, es liege im Interesse der Industrie, dass Verbraucher noch gut essbare Lebensmittel wegwürfen und neue kauften, statt die älteren zu essen. Und genau deshalb benötige er ein Idealbild von Aufnahmen, um vollendete Naturalien darzustellen. Es sei ihm bedeutend, Lifestyle zu zeigen, die Ideale der Konsumenten zu berücksichtigen. Manche Menschen seien heute so verrückt, einen ganzen Salat zu entsorgen, anstatt die bräunlichen Blätter zu entfernen, andere ekelten sich vor vollständigen Fischen. Jeremias habe es bei den Schuppentieren exzellent gelöst, indem der die Augen mit Kräutern abdeckte. Essenziell, entgegnete Jeremias, sei die Zusammenarbeit mit den Köchen, denen müsse man zuerst erklären, worum es gehe. Das Timing sei wichtig. Das Anrichten sollte absolut schnell und sauber vonstattengehen. Fingerabdrücke verdürben alles, ebenso eine nicht mehr fließende Soße, die in Sekunden auf dem Teller eine Haut bilde. Er verpflichtete das Team, fix zu kooperieren. Jeremias benutze vornehmlich Kaltlampen, erklärte er, sonst welke und zerschmelze das Gericht, nur bei Fleisch nehme er vorzugsweise Spots. Mit guten Studiolampen vermeide er Bewegungsunschärfe, außerdem erreiche er bei großen Blenden kurze Verschlusszeiten, was im Prinzip einen Kabelauslöser entbehrlich mache. Jeremias verwendete in der Regel seine M8 und arbeitete mit verschiedenen regelbaren Blitzen, Lichtschirmen, Durchlichtschirmen sowie Softboxen. Herr Töter war erstaunt, mit wie viel technischem Aufwand Jeremias operierte. Die Technik sei nur ein Hilfsmittel, veranschaulichte Jeremias. Die Liebe zum Kochen und Genießen sei das andere, der Instinkt, den richtigen Moment des Fotos zu erahnen, das sei die Kunst. Er produziere meist allein. Da sein Bauchgefühl das Wichtigste sei, seien die Köche sein Team. Die angeblich kreativen Typen aus der Szene seien für ihn nur Spinner, die nervig herumsprängen mit Kaffeetassen in der Hand und im Grunde alles ruinierten. Ein Foto benötige schon mal fünf oder acht Stunden Vorbereitungszeit. Herr Töter war sichtlich beeindruckt.

Am Freitag fuhr Jeremias in die Stadt, zunächst ins Verlagshaus, danach weiter zum Reisebüro. Den ganzen Abend hatte er bei einer Flasche Rioja die Prospekte durchgeschaut. Karibik kam für ihn nicht in Frage, Nordafrika langweilte ihn. Lange überlegte er, welche kanarische Insel er besuchen sollte. Gran Canaria schied sofort aus, da könnte er gleich zum Ballermann nach Arenal auf Mallorca fahren. Einsamkeit hatte er die letzten Monate mehr als genug genossen, ein wenig Trubel durfte es schon sein, aber Ruhe suchte er auch. Teneriffa bot sich an. Jeremias entschied sich für drei Hotels in Puerto de la Cruz, das eine hatte besonders gute Bewertungen im Internet erhalten.

Jeremias betrat das Reisebüro und fragte den Angestellten, der ihn bediente, ob er mit den Hotels vertraut sei.

»Ich habe vor einem Jahr eine Reise für einen Veranstalter nach Teneriffa mitgemacht. Man lernt die Hotels nicht richtig gut kennen. In zwei Tagen wird man durch alle Anlagen geführt, kann nur einen groben Eindruck gewinnen.«

»Hoffentlich ist das Tigaiga etwas für mich! Das habe ich mir herausgesucht, was meinen Sie?« Jeremias war gespannt.

»Hübscher Garten, angenehme Küche, Wanderschule im Haus, kleines Hotel, persönlich. Abseits auf einem Hügel am alten Kasino, Blick auf das gesamte Orotavatal, recht ruhig, abseits vom Zentrum, keine Strandnähe. Sämtliche Hotels in Puerto besitzen Pendelbusse zur Stadtmitte, dort liegen Strand und Schwimmbad. Ich würde eher ein anderes bevorzugen.«

Jeremias war begeistert. »Genau, was ich suche! Schon entschieden. Buchen Sie mir bitte ein Einzelzimmer mit Frühstück, so schnell wie möglich.«

»Wenn es ganz zügig sein soll, von München geht am Sonntag ein Flug oder der nächste am Mittwoch.«

»Gleich Sonntag!« Jeremias strahlte: »Wer hätte das gedacht?« Er zückte seine Visa Card und steckte das Ticket und die Voucher ein.

Am Sonntagnachmittag landete Jeremias auf Teneriffa. Der Flughafen zeigte sich als klein und übersichtlich. Sofort fand er das Schild seiner Reiseorganisation. Er schloss sich der Gruppe an, stieg in den Bus. Rundliche Berge, deren Form an Frauenbrüste erinnerten, schimmerten in sanftem Rot in harmonischem Kontrast zum Himmel. Weiße Flecken im Vorgebirge deuteten die Ortschaften an. Das Panorama war gewaltig. Eine angenehme Ruhe durchdrang Jeremias.

Zunächst ging es die Südautobahn entlang. Jeremias überlegte, ob er das richtige Reiseziel gewählt hatte. Viele karge Felsen mit abgestorbenen Pflanzen säumten den Weg zum Meer. Und es strahlte im tiefsten Blau. Blau. Er musste in sich hineinlachen, als er an die Frau im Reisebüro dachte. Die Dörfer an der Seite sahen allerdings nicht sehr einladend aus. Rechts und links thronten Kalkstein, Sandstein, völlig ausgewaschen von der Sonne. Mittendrin stand verdorrtes Gestrüpp. Als einziges Grün strebten einige Wolfsmilchgewächse hervor. Wüste, Felsbrocken, Geröll, dazwischen die Autopista. Hier und da ragten irrational Windräder in die Natur. Der Staub stand in der Luft.

Jeremias las in seinem Reiseführer, als der Bus abbog. Nun ging es quer durch ein Industriegebiet an Hütten vorbei, die an eine Armensiedlung in Afrika erinnerten. Jeremias stöhnte. Wo war er nur gelandet! Die ersten Straßenschilder wiesen auf Puerto de la Cruz, sie landeten abermals auf einer Autobahn. Hier zeigte die Landschaft ein völlig verändertes Gesicht, Jeremias staunte. Plötzlich tat sich Grün auf, Pinien und Palmen säumten den Weg, hübsche Häuser flankierten die Straße. Bis zum Meer hinunter zogen sich Siedlungen, weiße Gebäude, rote Dächer. Jeremias fiel ein Stein vom Herzen, nun schienen die Aufnahmen im Guide doch von dieser Insel zu sein, er hatte es langsam bezweifelt.

Das Hotel, die persönliche Begrüßung und sein Zimmer sagten ihm zu. Er verfrachtete seine Kleidung im Schrank, duschte, zog sich um und machte einen Spaziergang durch den Garten. Der Blick in das weite Orotavatal begeisterte ihn. Passatwolken schlossen das Tal ein. Sie hingen bedrohlich tief, es wirkte, als müsse jeden Augenblick ein Gewitter ausbrechen. Aber das kannte er aus ähnlichen Gegenden. Die Wolken drückten schwer in die Tiefe, hielten lediglich die Sonne davon ab, herunterzubrennen. In der Mitte der Insel ragte mächtig der Teide hervor, der höchste Berg Spaniens. Seine Spitze verschwand in den Dunstschichten. Jeremias erkundete die Umgebung. Das Haus sollte am Taoropark liegen, ein hübscher Park in der Nähe des Kasinos laut Reiseführer. Er durchschritt amüsiert die Anlage. Vertrocknetes Gestrüpp und verdurstete Pflanzen blickten ihn an, Unkraut schien die vorherrschende Gattung der Grünanlage zu sein. Er kam zum alten Kasino, ein prunkvolles Bauwerk am Hang. Am Eingang empfing ihn ein Garten, von Enten und Pfauen bewohnt. Unterhalb des Gebäudes befand sich ein Aussichtspunkt, von dem aus die ganze Stadt zu überblicken war. Von Wasserspielen flankiert stieg er die Treppen hinunter in den Ort. Mit Blick von oben erhielt Jeremias die Vorstellung, dass er nur geradeaus gehen müsse, um bis in die Altstadt zum Hafen zu gelangen. Er schlenderte durch die kleinen Gassen, meist Fußgängerzonen, und landete am San Telmo, dem Altstadtkern am Meer.

Jeremias setzte sich auf die Naturmauer und betrachtete das Treiben. Die Wogen klatschten in einem regelmäßigen Zyklus gegen die Felswand. Wenn man das Spiel eine Weile beobachtete, sah man, wie zirka alle zehn Minuten zwei riesige Wellenreihen einbrachen. Danach bewegte sich das Wasser wieder sanfter, ein Schauspiel sondergleichen. Gerade hatten sich ein paar Touristen weit zum Meer hin gewagt, um ein Foto zu schießen. Jeremias’ Empfinden nach war es Zeit für die zwei hohen Wellentürme. Und richtig! Kolossale Brecher ergossen sich ausladend über das Felsgestein. Die Touristen flohen klatschnass und erschrocken, hielten sich mit Mühe auf den Beinen. Jeremias lachte. Man sollte nie die Kraft des Meeres unterschätzen!

Nach einem Moment spazierte er Richtung Hafen durch die enge Altstadt. Er kam an einer Bodega vorbei. Unvermittelt verspürte er Hunger. Er durchforschte die Karte und entschied sich für Tapas, bestellte sich Tintenfischsalat, Boquerones, Oliven, eine kleine Platte mit Seranoschinken und Ziegenkäse. Jeremias entspannte sich. Endlich konnte er abschalten, das Gefühl von Urlaub genießen. Gierig naschte er von den Köstlichkeiten und war im Einklang mit sich selbst. Langsam schien die Entspannung seinen ganzen Körper zu erfassen. Genüsslich atmete er den fischigen Meeresgeruch ein, der vom Wasser herüberwehte. Schinken und Würste hingen von der Decke, auf dem Tresen standen dicke, bauchige Gläser, gefüllt mit eingelegten Oliven. Jeremias schloss die Augen, bis er plötzlich von einem grässlichen Geräusch erschreckte. Drei Männer positionierten sich im Raum, stimmten ihre Instrumente. Zu den schwarzen Hosen, die bis zum Knie reichten, an deren Ende weiße, geklöppelte Spitze hervorlugte, trugen sie weiße Hemden mit weiten Ärmeln und schwarze Westen mit roter und gelber Stickerei, rote Schärpen um die Bäuche und schwarze Bauernhüte. Die kanarische Tracht ließ ahnen, welche Art von Klängen folgen würde. Jeremias sah sich die Musiker genau an. Der eine schielte abscheulich, dem zweiten fehlten fast alle Zähne und der dritte Musikant humpelte. Fröhlich stimmten sie ein Lied an. Jeremias verabscheute Folklore nicht, allerdings mochte er keine schiefen Töne. Der Timplespieler fiedelte derart falsch, dass es sogar einem unmusikalischen Menschen auffiel, und der schräge Gesang lag stets ein paar Töne neben der Melodie. Es war nicht zu ertragen. Jeremias verließ die Bodega und gönnte sich ein Guinness in der englischen Fregatte.

Zenissimos Jagd

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