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Eine Störung der Sphäre

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Jeremias saß mit ausgestreckten Beinen auf der Plaza del Charco und genoss ein Weizenbier. Seine Gedanken kreisten um den Tag. Er mietete sich ein Auto und fuhr in die Cañadas. Tagsüber wanderte er im Naturpark umher, ein Landstrich, der ihn völlig in den Bann zog. Lavasteine in den verschiedensten Schattierungen von Schwarz, Dunkelbraun bis Hellbeige, Gelb, grünliche, bläuliche und rötliche Steinformationen beherrschten den Boden. Ein Terrain wie auf dem Mond, der schönste Background für jeden Sciencefictionfilm. In dieser Landschaft kam man sich wie auf einem fernen Stern. Darin in voller Blüte der Teideginster, weiß und gelb, einzeln stehend oder in Feldern. Er fotografierte auf den Knien und von oben auf einer Anhöhe. Die Tajinaste, eine Pflanze, die nur einmal in ihrem Leben blüht und hiernach stirbt, nahm er von allen Seiten auf, wechselte die Objektive. Ein wunderschöner Endemit, der nur auf den Kanaren vorkommt. In dieser Höhe fühlte man die Lautlosigkeit, wollte eins mit ihr werden. Weder drangen die Geräusche des Alltags zum Gipfel herauf, noch gab es einen Vogel, der zwitscherte, eine Grille, die zirpte. Es gab nichts, was die Geräuschlosigkeit zerstörte. Wenn Zeit blieb, würde er den Berggipfel des Teide besteigen. Einzig der Mensch konnte diese Ruhe zertrampeln. Am Hang, nahe der Spitze, befand sich eine Hütte. An diesem Punkt wollte er übernachten, um die Stille des Berges zu genießen, als auch die Sterne, die dort zum Greifen nah waren.

Die späten Sonnenstrahlen wärmten Jeremias` Körper. Er verspürte leichten Hunger. Gregorio, der lustige Barmixer aus dem Hotel, der tagsüber als Wanderführer sein Geld verdiente, empfahl ihm das Regulo. Am Donnerstag würde er mit ihm eine Tour nach Masca unternehmen, in ein altes Piratennest, das erst vor ein paar Jahren durch eine asphaltierte Straße mit der Außenwelt verbunden war. Nach einem schwierigen Abstieg sollte es per Boot zu Gregorio nach Hause gehen, wo die Wandergruppe im Garten eine Parilla, ein kleines Grillfest im Grünen, erwartete.

Ganz am Rand der offenen Bar träumte Jeremias von Masca und beobachtete die Afrikaner, wie sie ihre ethnischen Figuren im Arm hielten und sogenannte Eurouhren zum Schleuderpreis anboten. Woran erkennt man Touristen?, überlegte er. Am ziellosen Schlendern, am suchenden Blick, der zeigte, dass sie keine Ortskenntnis besaßen? Weil ihre Hellhäutigkeit auffiel oder sie ein Sonnenbrand zierte? Man identifizierte sie sofort aus den Augenwinkeln! Zumindest die Nordeuropäer und Russen stachen hervor. Warum waren die cabezas quadradas, Quadratköpfe, wie man sie hier nannte, anders? Jeremias schaute sie sich genau an. Fürs Erste fiel der Gang auf, ebenso die Kleidung. Der Deutsche und der Engländer gingen mit langen, latschigen Schritten, ohne die Eleganz eines Spaniers, insgesamt fehlte die Ästhetik. Die Russen lärmten dazu auffällig. Jeremias teilte die Touristen in drei Kategorien. Zunächst patschte der Schlampi durch die Gassen, ihn trieb nie Eile. Er schien ein gemütlicher Typ Mensch zu sein, trug Schlappen, Söckchen, weite Bermudas oder Shorts, das T-Shirt in die Hose gestopft, den Bauch schwabbelnd über dem Gürtel. Die weibliche Fassung kleidete sich eher offenherzig mit T-Shirt oder stand auf weite Flattergewänder. Am witzigsten erschienen Jeremias die Partnerlook-Schlampies. Den männlichen Teil schmückten in der Regel eine Handgelenktasche oder ein Bauchgurttäschchen und ein kleines Baumwollhütchen mit seitlichem Reißverschluss.

Der sportliche Tourist, die zweite Kategorie, war meist schlank, ging grundsätzlich in Turnschuhen und Sportsocken. Er steckte in Radlerhosen und engem T-Shirt, auf dem Kopf prangte vornehmlich eine Baseballkappe, der Rucksack durfte nicht fehlen. Ganze Familien im Einheitslook hasteten an Jeremias vorbei. Sie wirkten so, als seien sie geradewegs auf dem Weg ins Fitnesscenter.

Die dritte, elegante Variante der Urlauber trug helle Hosen, vorwiegend jeansähnlich, die Herren Mokassins oder geflochtene Lederschuhe, die Damen teure Sandalen. Der Oberkörper prahlte mit Designer-T-Shirts. Bei der Frau schlackerte eine aparte Handtasche über der Schulter, den Mann kniff das Portemonnaie in der Hosentasche. Gemütlich schlendernd blieben sie vor sämtlichen Schaufenstern stehen, wurden von jedem Ticketero angesprochen.

Das Sahnehäubchen gab Madame overdressed aus der letzten Gruppe, die meist allein verreiste. Hatte sie den Mann dabei, war es der Dandy-Typ mit grauen Haaren, ein wenig zu lang geraten, bisweilen mit Lagerfeldschwänzchen, weißen Mokassins und Rolex-Uhr, ganz in Schwarz oder Weiß gekleidet. Sie trug ein pompöses Kleidchen, als sei sie unterwegs zur Mitternachtsparty, oder zwängte sich in enge Designerhosen mit Edel-T-Shirt. Darüber wurde eine auffällige Weste in Szene gesetzt. Den Kopf zierte ein augenfälliges Hütchen, oft mit Seidenschal, aber wer setzte sich hier schon Hüte auf, außer er ging zum Strand? Die Sonnenbrille durfte nicht fehlen, auch nicht nach 22 Uhr. Mächtige Ohrringe, luxuriöse Ringe und Ketten wie Hundehalsbänder dekorierten sie wie einen Tannenbaum. Selbst wenn sie meterweit entfernt saß, nahm Jeremias das penetrante Parfüm wahr, welches diese Art Frauen umgab. Nachts, in einer Bar verschwand zu guter Letzt die Sonnenbrille in der Handtasche, endlich konnte man die Augen der Dame sehen. Die schwarzgebrannte Haut lag ledrig, faltig auf den Knochen, das Gesicht wirkte zehn Jahre älter. Zwischen dick bemalten Lidern, aufgebauschten Wimpern schauten traurige schwarz getuschte Augen hervor. Ein dunkler eintätowierter Lippenrand ließ das Antlitz zur Fratze erstarren, den Lippenstift erahnend, der lange verschwunden war. Der letzte Whiskey half, den dickbäuchigen Mann gegenüber reizvoller erscheinen zu lassen. Vielleicht besaß er ein bisschen Liebe für sie, denn nur danach suchte sie, nach nichts anderem.

Jeremias erwachte aus seinen Gedanken, öffnete die Augen. Er blätterte durch seine Zeitung und stieß auf eine Karikatur über Touristen. Die Wirklichkeit selbst bediente aber ein größeres Klischee, bizarrer als Zeichner und Satiriker je darzustellen vermochten. Er überlegte, eine Reihe Fotos über absurde Touristen anzulegen. Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht bei diesem Einfall.

Langsam drehte er seinen Kopf hinüber zu einem Café. Er streckte sich aus, schaute nach oben, in das Blätterdach der gewaltigen Ficusbäume, und genoss die Wärme mit geschlossenen Augen. Hin und wieder krächzte ein Papagei, das Gemurmel der Masse machte ihn schläfrig.

***

Die kleine Gruppe verbrachte den Vormittag am Strand, die Männer probierten sich im Wellenreiten. Obwohl sie gute Windsurfer waren, fielen sie ständig ins Wasser. Carina und Laura amüsierten sich. Windsurfen und Wellenreiten schienen doch weit voneinander entfernt. Wie stümperhaft sahen ihre Kerle gegen die Jugendlichen aus, die sich mit Eleganz von den Wellen zum Ufer tragen ließen. Sie standen wie junge Götter auf den Brettern. Als die Sonne intensiv ihre Mittagshitze ausstrahlte, fuhren sie nach Hause und legten sich im Schatten an ihren Pool. Am frühen Abend brachen sie von ihrem Chalet in der Siedlung Las Quevas in Orotava nach Puerto de la Cruz auf. Das Domizil gehörte Freunden von Carinas Eltern, die es ihnen zur Verfügung gestellt hatten. Sie wollten auf der Plaza del Charco ein Eis genießen und gemütlich essen gehen. Die vier setzten sich in ein Café mit Blick zur Plaza an einen der Straßentische, der gerade frei wurde.

»Es war lustig heute Vormittag!«, meinte Julian, »Wellenreiten ist scharf, aber nichts für mich. Windsurfen können wir an diesen Stränden nicht, die Brandung ist zu groß! Dazu müssten wir in den Süden abrauschen. Was haltet ihr davon, wenn ich mit Moritz drei Tage nach Los Cristianos fahre, ihr könnt vor Ort die Museen abgrasen?« In dem Satz verbarg sich weniger eine Frage, vielmehr stand die Entscheidung fest, unmerklich.

»Da musst du allein aufbrechen, Julian!« Moritz schaute Carina an. »Wie wäre es, wir gehen zusammen ein bisschen tauchen? Ich habe zwei Tauchschulen hier gesehen!«

»Wie auch immer, alles ohne mich«, Laura lachte, »mich bekommt ihr nur zum Schwimmen ins Wasser! Ich kann derweil ein wenig Tennis spielen, einen Schläger habe ich dabei. Wie ich bemerkte, gibt es einen Tennisclub in der Nähe, die vermitteln sogar Tennispartner.«

»Na prima, sportliche Betätigung ist geklärt!« Carina war froh, sie brauchte nicht bei Laura zu bleiben. Unter dem Tisch strich sie mit ihrem nackten Fuß über Moritz` Beine.

»Das Eis hat mich hungrig gemacht, wir sollten demnächst ein Restaurant aufsuchen!«

»Ich lasse mich führen, ihr kennt euch schon aus!«, Julian gähnte.

»In Puerto waren wir noch nicht, wir sind nach Orotava hineingefahren. Mir scheint es hier genügend Wirtshäuser zu geben!« Moritz` Blick schweifte in die Runde.

Jeremias träumte vor sich hin. Plötzlich glaubte er, in dem vielfältigen Stimmengewirr Carina zu hören. Er richtete sich auf. Ließ ihn Carina auch auf dieser Insel nicht zufrieden? Immer wieder kehrten seine Gedanken zu ihr.

»Verpiss dich!«, zischte Jeremias. Erneut meinte er ihre Stimme vernommen zu haben, nicht im Bewusstsein, sondern völlig real. Möglicherweise hatte eine Frau die identische Art zu sprechen wie Carina, dazu mit gleicher Stimmlage. Er schaute sich um. Gegenüber im Café saßen jetzt vier jüngere Leute, die er Minuten vorher nicht bemerkt hatte.

Carina! Er fühlte sich so, als wenn sich der Boden unter ihm öffnete und er in seinen bodenlosen Traum hineinfiel. Jeremias erkannte sie sofort. Ihre langen blonden Haare, die Stupsnase, die Art, wie sie die Beine übereinanderschlug, unverkennbar! Seine Sinne drehten sich, er holte tief Luft. Sie war noch hübscher geworden, dachte Jeremias. Wer mochten die anderen sein? Angestrengt versuchte er, ein paar Wortfetzen zu erhaschen. Der Name Julian fiel. Der Typ mit den hellbraunen Wellen könnte es sein. Das war Carinas Bruder, die Gesichtszüge ähnelten sich, das kantige Kinn, die übereinstimmenden Augen. Der schwarzhaarige Mann mit der gebogenen französischen Nase und einem recht ausdrucksvollen Gesicht daneben könnte Moritz sein, ihr alter Freund, zu dem Carina zurückgekehrt war.

Carinas Bruder, mit dem sie laufend telefonierte, hatte er persönlich nie kennen gelernt. Ihr Bruder sagte, sie solle Jeremias vor die Tür setzen, er sei gewalttätig und zerstörend, er hatte sogar bei der Polizei angerufen. So ein Schwachsinn! Carina erzählte Märchen und zog eine gigantische Show ab, machte aus Mäusen Elefanten und Dinosaurier. Bloß weil er hin und wieder laut seine Meinung zum Ausdruck brachte, wurde er als aggressiv beschimpft, das war doch nicht verboten. Carina schrie auch unüberhörbar herum, wenn ihr der Kragen platzte. Der große Bruder meinte die kleine Schwester beschützen zu müssen. Dabei kannte er Jeremias gar nicht!

Beim Fußball war man emotional. Na und? Deswegen war man nicht gleich ein Hool! Moritz, dem Ex, hatte er einmal Prügel angedroht, da Carina ständig mit ihm handyphonierte. So hatte er es in der Wut formuliert, ihm gedroht, ihm jedoch kein Haar gekrümmt! Was war das für eine Art, immer mit dem Ex zu säuseln? Irgendwann hatte er Carina mal eine kaum spürbare Ohrfeige gegeben, passiert. Deshalb war man kein Gewalttäter. Und sie? Sie provozierte ihn, sie reizte ihn fortwährend und zurückgeschlagen hatte sie auch, sie hatte ihm öfter eine gelangt, einfach so. Papa wusste das.

Seine Hand krampfte sich zusammen, drückte den Fuß des Weinglases, bis sich der angeschlagene Rand in seinen kleinen Finger bohrte. Jeremias spürte den Schmerz in der Hand wie eine Verletzung von innen, überall in seinem Körper, an jeder Stelle. Es schien, als öffne sich eine alte Wunde, ein eiterndes Geschwür, das abgeheilt sein sollte.

Die zweite Frau, wer mochte sie sein? Julians Freundin? Ein bisschen tollpatschig wirkte sie, ihre Kleidung teuer, dennoch unpassend zu ihrer Figur, gleichermaßen in Farbe und Muster. Große schrille Karos, eine viel zu enge Hose bei ihren drallen Oberschenkeln. Dazu ein Oberteil, farblich abgestimmt, indessen zu schulterbetont. Man sah die Speckröllchen, oben massig, unten schmal. Ebenso stieß ihre grelle Schminke ab. Da passte zwar alles zusammen, dagegen nichts zu ihr. Sie erschien wie ein Zylinder, den man in den Boden gerammt hatte, ein Mäuschen, das etwas darstellen wollte. Hässlich wäre das falsche Wort, sie war total verkehrt angezogen. Und diese toupierten Haare, völlig out.

Jeremias ärgerte sich, nicht in die Karibik gefahren zu sein, zumindest widerte es ihn an, zu dieser Zeit auf diesem Platz zu sitzen. Wut kochte in ihm. Warum hockte er genau hier und nicht in einem Lokal außerhalb? Weshalb musste er sich gerade heute Abend an diesem Ort aufhalten, um diese Gruppe von verhassten Menschen anzutreffen? Oder sollte es eine Fügung sein, sich abermals über den Weg zu laufen, um die Geschichte zu beenden? Nur Carina wusste, wie er aussah, allerdings würde sie ihn schwerlich gleich wiedererkennen, er hatte sich äußerlich zu sehr verändert. Seine Stimme würde ihn mit Bestimmtheit verraten. Moritz und Carina küssten sich zärtlich. Jeremias konnte nicht mehr länger hinschauen, zu tief schnitt die Begegnung in sein Herz. Er schaute in die Zeitung, versuchte zu lesen. Die Buchstaben verschwammen vor den Augen, ein Abgrund tat sich in seinem Kopf auf, ein Sog wollte ihn in ein schwarzes Loch hineinziehen.

Julian zahlte die Eisbecher und die Gruppe schlenderte über den Platz auf die gegenüberliegende Seite. Ein hübsches Lokal in einem Innenhof gefiel Carina. Mitten im Restaurant, wuchs eine Palme.

»Moment!«, sagte Moritz bestimmt, als er die Karte las, die am Eingang angebracht war: »Wiener Schnitzel, Heringstopf Hausfrauenart, Rind à la Stroganoff, Camembert mit Preiselbeeren«, er holte Luft.

»Es reicht«, unterbrach Julian, »vorwärts!«

»Pizza Mario«, las Carina, »nicht im Spanienurlaub!«

»Chinesisch sicher auch nicht!«, lachte Laura. Sie bogen in eine Gasse.

Zwei aufdringliche Restaurantwerber versuchten, sie in gegenüberliegende Fischrestaurants zu locken.

»Die verweigern wir aus Trotz wegen der penetranten Kerle!«, dirigierte Moritz lachend die Gruppe um die nächste Ecke, da sie weiter vorn in der Fußgängerzone erneut Ticketeros erblickten. Sie schlenderten hintereinander den schmalen Bürgersteig entlang.

»Hier scheint nichts mehr zu kommen!«, meinte Julian.

»Doch, drüben, auf der anderen Straßenseite!«, sagte Laura. Sie blieb stehen. »Carmencita, niedlicher Name, sieht nett aus, aber eine sehr spärliche Speisekarte, wir sollten es uns merken und noch weiterschauen!«

Sie ging über die Querstraße und schaute neugierig ins benachbarte Restaurant hinein, kam heraus, winkte aufgeregt ihren Begleitern zu. »Das ist es! Annehmbare Karte und ein paradiesisches Ambiente!«

Das von außen trist wirkende Haus entpuppte sich als antikes kanarisches Anwesen. Im Eingang befanden sich Aquarien mit Fischen und Schalentieren. Den Patio, den Innenhof, schmückte ein zierlicher Springbrunnen. Alle Plätze waren besetzt. Der Kellner führte sie die Holztreppe hinauf nach oben. Überall standen dort Tische, hübsch dekoriert, mit Damast gedeckt, die Wände zierten alte Ölbilder in prunkvollen Rahmen. Die vielen kleinen Räume rundherum vermittelten den Eindruck, als sei man zu Besuch bei seiner Großmutter. Sie folgten dem Ober über die knarrenden Dielen in ein Zimmer. Laura klatsche entzückt in die Hände. Auch den anderen gefiel ihre Wahl.

»Wenn es so schmeckt, wie man sich fühlt, hast du den Volltreffer gelandet!« Julian, leicht aufgekratzt, nahm Laura in den Arm und drückte ihr einen lauten Kuss auf die Wange.

»Julian!«, zischte sie.

»O.k., heute keine Olivenkerne, ich verspreche es!«, grinste er sie an.

***

Jeremias sah von seiner Zeitung auf. Womit befasste sich dieser Artikel? Nicht einmal an die Überschrift erinnerte er sich. Sein Herz raste, sein Atem ging stoßweise. »Mist! Sie sind weg!«

Wer weiß, wozu es gut ist? Er hing seinen Gedanken nach und bezahlte. Hungrig zog er den Zettel mit der Wegbeschreibung heraus und orientierte sich. Rechts neben dem Platz, dort, wo der Taxistand ist, die Straße entlang, so hatte er die Erklärung von Gregorio in Erinnerung. Nach 15 Metern sollte man an eine kleine Kreuzung kommen. An den Ecken befanden sich zwei Restaurants, rechts das Regulo, links das Carmencita. Die Beschreibung stimmte. Nach drei Minuten fand Jeremias die Gaststätte. Er betrat einen Patio mit Springbrunnen. Hübsch, dachte er. Der Kellner brachte ihn die Treppe hinauf an einen winzigen Tisch im offenen Flur. Hier konnte er das gesamte Lokal übersehen, nur der Blick in die vielen anliegenden Zimmer blieb ihm verborgen. Jeremias bestellte sich einen Martini.

Vor dem Essen wollte er sich die Hände waschen und suchte nach der Toilette. Gedankenversunken wäre er fast mit Moritz zusammengestoßen. Jeremias erschrak, ihm fiel aber ein, dass Moritz ihn nur vom Telefon kannte, nicht wusste, wie er aussah. Er hörte noch, wie Julian sagte: »Bin ich froh, dass Laura in diesen Tennisclub nach Los Realejos fährt, während wir drei tauchen! Hoffentlich findet sie einen Tennispartner, dann ist sie beschäftigt und langweilt sich nicht!«

»Schlechtes Gewissen, die Ehefrau alleine hocken zu lassen? «, stichelte Moritz.

Jeremias wusch sich die Hände und lächelte vor sich hin. Dabei kam ihm eine Idee. »Einen Tennispartner, den kann ich ihr bieten. So ganz einsam, die bemitleidenswerte Frau? Los Realejos, ich frage heute Abend Gregorio, wo das liegt und wo es dort einen Tennisclub gibt!«, brummelte Jeremias vor sich hin. Was er damit bezwecken wollte, wusste er noch nicht. Es würde sich etwas ergeben. Auf dem Gang bemerkte er in seinem Rücken die Tür der Damentoilette aufgehen und Carinas Stimme stach ihm wie ein Messer ins Herz. Sie schien dicht hinter ihm herzugehen. Er meinte, ihren Atem in seinem Nacken zu spüren. Seine Haare auf den Armen stellten sich auf. Er machte einen kleinen Umweg zu seinem Platz und sah sie mit Laura in einen Raum verschwinden.

Carina plumpste nachdenklich auf ihren Stuhl.

»Was hast du?«, flüsterte Moritz ihr zu.

»Du wirst es nicht glauben, ich hatte soeben den Eindruck, Jeremias gehe vor mir! Die Figur, die Bewegungen, allerdings trug der Typ eine Glatze, aber ich bin mir absolut sicher!« Carina wirkte völlig durcheinander.

»Verfolgungswahn? Das im Urlaub?«, lachte Moritz.

»Sagtest du nicht, auf seine tolle lange Mähne sei er so stolz, habe sie jeden Morgen eine halbe Stunde gestylt? Vergiss den Typen endlich, der ist nicht einen Gedanken wert!»

»Lach nur, so eine frappierende Ähnlichkeit! Ich glaubte, ich spinne, hatte das Gefühl, mein Herz setzt aus. Innerhalb von Millisekunden waren alle Register gezogen, die ich zum Schutz ziehen könnte.« Sie hatte die Hände vor dem Gesicht gefaltet, biss auf dem Daumennagel herum. »Ich wartete, bis der Kerl um die Ecke bog, dann konnte ich ihn von vorn sehen, das beruhigte mich!«

»Er sah aus wie ich!«, witzelt Moritz hölzern.

»Bloß nicht! Er trug einen fürchterlichen Vollbart mit Zwirbelschnauzer und eine riesige Sonnenbrille, über der buschige Augenbrauen wucherten. Ich dachte bei dem Typ eher an Rübezahl! Ich dachte in dem Augenblick, mir bleibt die Luft weg, ich müsse heulen. Eine Panikattacke oder so was, keine Ahnung.« Carina stockte, griff nach Moritz’ Arm, sie krallte sich fest. »Ich nahm an, die Angst sei vorüber. Jetzt weiß ich, es wird nie vorbei sein.«

***

Am nächsten Morgen rief Jeremias um acht im Tennisclub an, um sich nach einem Tennispartner zu erkundigen. Das würde gut passen, erfuhr er, da um zehn Uhr eine Deutsche komme, die auch einen Partner suche, ebenso eine Freizeitspielerin, keine Leistungssportlerin.

Im Badezimmer packte Jeremias seine Effektlinsen aus. Die blauen Kontaktlinsen hatte er sich einmal als Gag zugelegt und noch immer lagen sie in ihrem Behälter in seiner Tasche. Er fischte die weichen Linsen heraus, legt sie auf die Iris, schloss und öffnete ein paarmal die Lider. Er betrachtete sich fasziniert. Seine Augen strahlten ihn in einem warmen, auffälligen Preußischblau an. »Kennen wir uns?«, fragte Jeremias sein Spiegelbild. Die Farbe wirkte ungewöhnlich, äußerst attraktiv, sein Äußeres schien durch ein kleines, unscheinbares Stück Kunststoff verändert.

Viertel vor zehn traf Jeremias im Tennisclub ein. Er stellte sich an die Bar. Der Raum blieb menschenleer. Jeremias rief ein forsches Hallo, es antwortete niemand. Die Tür des Ladens stand offen. Eine Frau bespannte Tennisschläger.

»Hi! Ich suche eine Dame namens Gabriela!«

»Hallo, guten Tag, das bin ich!« Sie reichte ihm die Hand mit kräftigem Händedruck. »Sie sind Herr Reimar, Stefan, wenn ich darf, auf Teneriffa nennt man sich beim Vornamen.«

»Natürlich, warum nicht, ist meine Partnerin da?«

»Nein, ich denke, sie wird jeden Augenblick eintreffen!« Gabriela lächelte freundlich. »Die Dame heißt Laura, ich kenne sie noch nicht.«

»Ich würde gern einen Kaffee trinken, ist die Bar nicht besetzt?«, fragte Jeremias.

»Eigentlich schon, aber es gibt immer etwas anderes zu tun, Moment!« Die beiden verließen den Laden.

Laura kam die Treppe vom Parkplatz herunter.

»Guten Morgen!«, strahlte sie, »ich bin hier verabredet zu einem Blind Date!«

Jeremias ging auf sie zu. »Dann bin ich der Herr, den Sie suchen! Kommen Sie hierher!« Er winkte ihr. »Stefan ist mein Name, du musst Laura sein. Wir stärken uns erst mal mit einem Kaffee, der Sport kann noch zehn Minuten warten!«

»Laura!« Sie reichte Jeremias charmant die Hand. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, ich trinke lieber einen Tee. Ich mag den Kaffee auf der Insel nicht sonderlich!«

»Kein Problem!« Jeremias wollte etwas sagen, aber Gabriela kam herein.

»Einen Café solo, einen Tee, schwarz, mit Zitrone oder Milch? Deutschen Kaffee kochen wir ebenfalls!«

»Bitte mit Milch, Darjeeling, wenn Sie haben! Danke, deutschen Kaffee mag ich auch nicht, ich mag nur italienischen.« Laura wandte sich an Jeremias. »Spielst du schon lange Tennis?«

»Soweit man das spielen nennen kann, was ich betreibe, seit meinem neunten Lebensjahr. Ich bin nie weit gekommen, dazu mangelt es mir an Ausdauer! Hin und wieder spiele ich aus Langeweile, Gelegenheit oder weil ich meine, zu dick zu werden!«, lachte Jeremias.

»Mir fehlt schlicht das Talent, ich hätte gern mehr gemacht. Mit zwölf hat man mir bereits gesagt, Sport sei nicht meine Sache, um eine Laufbahn aufzubauen.«

»Du lässt dich wohl schnell von sogenannten Fachleuten in die Gleise schieben?«, fragte Jeremias.

Laura schaute an sich herunter. »Was hätte ich machen sollen, einen auf Eisprinzessin?«

»Na, vielleicht Judo, Mannschaftssport!«, meinte Jeremias.

Das Gespräch wurde durch Gabriela unterbrochen, die Tee und Kaffee brachte.

»Eventuell versteifte ich mich damals zu sehr auf Mädchensport: rhythmische Gymnastik, Ballett, Turnen, Tennis.«

»Womit hast du stattdessen Karriere gemacht, Laura?«

»Was heißt Karriere, ich verdiene mein Geld damit.« Jeremias nippte am heißen Kaffee. »Ich will nicht aufdringlich wirken, was bist du von Beruf?«

»Ich schreibe Kinderbücher, in keinerlei Hinsicht karriereheiß.« Verstohlen blickte sie immer wieder in Jeremias’ Gesicht. Das Blau seiner Augen schien außerplanetarisch. Noch nie hatte sie bei einem Menschen solch ein blumenhaftes Blau wahrgenommen.

»Das ist doch ansehnlich! Ich bin unkreativ, ein simpler Datenkaufmann, Angestellter in einer größeren Firma. Jeden Tag dasselbe, Zahlen eintippen, mehr nicht! Buchhaltung, Statistik, das Übliche.«

»Aufregend klingt das wahrhaftig nicht«, lachte Laura, »aber irgendetwas brauchen wir, um zu überleben!»

Die beiden gingen hinaus zu den Umkleiden.

Jeremias musste sich beim Spielen sehr zurücknehmen. Laura parierte nicht nur mäßig, sie spielte elementar schlecht. Er bemühte sich, die Bälle platziert zu setzen, bloß nicht zu kräftig und schon gar nicht auf die Rückhand zu zielen. Er kam sich vor wie der Trainer einer Sechsjährigen. Vorsichtig schlug er Ball für Ball. Als Laura ungeschickt einem einfachen Ball hinterherhastete, ihn gerade noch mit dem Rahmen des Schlägers erreichte, überkam Jeremias innerlich das boshafte Gefühl, sie abschießen zu müssen. Zwei feste Bälle auf die Brüste und einen ins Gesicht, er grinste Laura an. Die Wut kroch in ihm hoch, der er nicht immer ganz Herr wurde. Seine Finger krampften sich um das Racket, er spannte seinen Rücken an, konzentrierte sich auf seine Armkraft, die Lippen wurden schmal und dünn. Wie konnte man bei diesem stümperhaften Können nach einem Partner suchen! Sie sollte Trainerstunden nehmen! Die Kerle bekamen Geld dafür, sich mit derartigen Idioten zu beschäftigen! Der Schläger fühlte sich wie sein verlängerter Arm an, jetzt entschieden zuschlagen, den Ball in die Fratze!

Tief atmete Jeremias ein und aus. Langsam entspannte sich sein Leib, er hatte etwas anderes vor. Es zwang ihn niemand, weiter mit Laura zu spielen. Solch günstige Gelegenheit kam so schnell nicht wieder. Sie kannte ihn nicht und vielleicht erfuhr er mehr über Julian und Carina, die Sache war nicht vergessen!

Nach einem Bad im Pool trafen sich die beiden an der Theke zu einem Drink. Laura hatte zwei Campari-Soda bestellt. Was sonst, dachte Jeremias, verdrehte die Augen. Sah er aus, als bevorzuge er Campari-Soda? Wie mochten bloß ihre Bücher aussehen? Ein bisschen ungeschickt war jeder, doch diese Dame schien das lebende Fettnäpfchen zu sein! Jeremias betrachtete Laura. Heute trug sie eins von diesen Schlauchkleidern, das ihre unvorteilhaften Stellen voll zur Geltung brachte. Ihre hübsche Brust war völlig abgequetscht, der Bauch zur Kugel geformt, dazu die Farbe Kanariengelb, auffälliger ging es nicht! Ihr blasser Teint stach dadurch heraus, ihre schläfrigen Lider waren betont durch hellblauen Lidschatten. Sie wirkten wie Garagentore, die jeden Augenblick herunterzufallen drohten.

»Ein tolles Spiel! Du bist eine harte Gegnerin!«, log Jeremias.

»Danke, es hat nicht ganz gereicht, dich zu schlagen!«, lächelte sie.

»Fast! Vielleicht das nächste Mal!« Jeremias prostete ihr zu.

Laura schaute zur Uhr.

»Hast du es eilig?«, fragte Jeremias.

»Im Gegenteil! Mein Mann ist mit meiner Schwägerin und meinem Schwager zum Tauchen, sie kommen nicht vor heute Nachmittag zurück. Ich wollte mir ein Taxi nehmen und ein wenig in der Stadt bummeln.« Sie grinste verstohlen und sog an ihrem Glas.

»Mir etwas zum Anziehen kaufen und eine Handtasche.«

»Allein ist Shopping langweilig. Ich gehe gern shoppen, darf ich dich begleiten? Mir geht es ähnlich, meine Frau ist erst gar nicht mitgekommen, sie ist Fotomodell, ständig unterwegs. Ich musste ohne sie fahren!«, lachte Jeremias. »Sie kommt möglicherweise die letzte Woche dazu.«

Laura war begeistert, eine Unterstützung beim Einkaufen. Genau damit hatte Jeremias gerechnet. Gemeinsam fuhren sie nach Puerto und trödelten durch die Geschäfte.

***

Ziemlich ausgelaugt kamen die drei Taucher nach Hause. Laura war noch nicht zurück. Sie legten sich ins Bett. Gegen fünf wurden sie geweckt.

»Aufstehen, ihr Schlafmützen, ihr wollt doch nicht den ganzen Tag verpennen!«

Julian gähnte und schaute müde um die Ecke. Er rieb sich die Augen. »Liebling, bist du das? Ist das neu?«

»Ja, habe ich heute gekauft, gefällt es dir?«, fragte Laura und drehte sich tippelnd um sich selbst.

»Du siehst fantastisch aus!« Julian schien entzückt, träge setzte er sich auf und streckte sich.

Carina begutachtete Laura bewundernd. Sie trug einen Rock, der diesmal nicht zu kurz war, eng geschnitten zu den Knien, hinten geschlitzt, in Pudermarine, eine Farbe, die ihr ausgesprochen gut stand. Dazu kleidete sie ein cremefarbenes locker fallendes T-Shirt, im Nacken mit Schlitz und einem kleinen Knopf versehen. Sportlich elegant, völlig ohne ihren üblichen Schnickschnack. Keine aufdringliche Farbe, figurbetonend, die Schwächen verdeckend, die Vorteile unterstreichend. Carina konnte es nicht fassen.

»Hey, wirklich klasse!«, meinte sie begeistert. Die Männer duschten sich.

»Findest du?«, freute sich Laura.

»Echt! Das steht dir gut!« Carina schaute auf die Handtasche neben dem Stuhl. »Ist die neu?«

»Gefällt sie dir?« Laura reichte Carina die schlichte, dunkelblaue Tasche.

»Toll! In der Tat!« Carina überlegte, welchen Wandel Laura heute vollzogen hatte.

»Mal ehrlich, ich habe mich beraten lassen von meinem Tennispartner, seine Frau ist Model, der versteht etwas von Kleidung.«

Laura war ganz aufgeregt. »Schau mal!« Sie holte zu dem Rock einen passenden Blazer hervor und zog ihn an. Carina gefiel das Kostüm. Laura zog den Rock aus und langte nach einer geradegeschnittenen Hose im Schrank aus der gleichen Kollektion. Carina staunte, als ihr noch eine naturweiße Bluse und ein pastellrosafarbenes T-Shirt gezeigt wurden. Aus der anderen Tüte kramte Carina eine Jeans, zwei kurze Hosen und fünf T-Shirts heraus.

»Nimm ihn immer mit!«, meinte Carina bestimmt.

»Nicht wahr, das ist schick!«

Laura kam näher zu Carina heran und flüsterte: »Du solltest seine Augen sehen! Ein Blau, so intensiv wie das einer Kornblume. Schwer zu beschreiben! Die Augen sind einfach göttlich! Ein sanftes, beruhigendes Blau, das aber irgendwie Angst macht, es wirkt so außerirdisch!«, kicherte sie. »Er sagt, ich soll das gelbe Kleid wegwerfen, es sei unmöglich!«

»Ehrlich«, gluckste Carina, »er hat recht!«

»Wenn du schon so aufrichtig bist, könnten wir mal meinen Kleiderschrank durchgehen und du sagst mir, was ich noch in die Altkleidersammlung geben soll!«

»Kannst du Offenheit vertragen?«, Carina schaute auf den Boden, rollte ihr T-Shirt mit den Fingern verlegen zusammen. »Eigentlich solltest du …«

»Wo ist mein Handtuch?«, schrie Julian.

»Ich bringe es dir!«, Lauras Stimme klang genervt. »Gleich wieder da!«, rief sie im Gehen Carina zu.

»Und frische Unterwäsche!«, schallte es aus dem Bad.

»Weißt du, wo meine Hausschuhe sind, Schatz?«

»Eine Hose und ein Hemd suche ich dir auch heraus, du fragst doch sowieso danach!«, brummte Laura auf dem Weg vor sich hin.

»Liebling, bitte trockne mir den Rücken ab!«, hörte Carina noch und musste grinsen.

Wie war ihr Bruder bloß all die Jahre allein zurechtgekommen? Carina zuckte zusammen. Moritz hatte sich von hinten angeschlichen und sie erschreckt.

Er zog sie eng an seinen Körper. »Manchmal sollte man dem alten Chauvi den Hals umdrehen!«

»Ich würde ihm was ganz anderes umdrehen, besser gesagt, einen Knoten hineinbinden, wäre ich seine Frau!«, kicherte Carina.

***

Bis Mitte der Woche spielte Laura jeden Tag Tennis mit Jeremias. Am Donnerstag brachen sie gemeinsam zu einer geführten Wanderung nach Masca auf. Mit dem Bus ging es hinauf Richtung Santiago del Teide. Das Hochtal mit Getreidefeldern schimmerte gelb. Am Weg lagen weite Wiesen mit Gräsern und bunten Blumen bewachsen. Die Wandergruppe stieg am Pass in Puerto de Ejos aus dem Bus, ein kräftiger Wind blies ihnen entgegen. Masca, ein Dorf aus verstreuten Häusern, war noch nicht zu sehen, weiße Flecken in der Ferne ließen den Ort erahnen. Das gezackte Urgestein des Teinogebirges ragte bizarr zwischen dem Lorbeerwald hervor. Gangelbaum und Baumheide säumten den Weg. An einem Taleinschnitt plätscherte gurrend ein Bach. Es tat gut, das kalte Wasser auf die Arme laufen zu lassen. Immer wieder boten lichte Stellen einen herrlichen Panoramablick über die Berghänge. Am Roque bollii hielt die Gruppe an und genoss den Ausblick. Auf der einen Seite lagen die Hänge mit den Lorbeerbäumen, auf der anderen Seite befand sich die Küste. La Gomera war als dunkler Fleck in der Ferne auszumachen. Tiefer ging es in den Wald hinein. An einem Rinnsal rasteten sie kurz. Von Santiago del Teide aus nahmen sie den Bus, der die Gruppe hinunter nach Masca fuhr. Der Fußweg wäre für die meisten Teilnehmer zu beschwerlich gewesen, ein weiterer anstrengender Abstieg lag noch bevor. Am Anfang der Ortschaft stiegen sie aus und durchwanderten die einzelnen Ortsteile: Lomo de Masca, Lomo del Medio, La Piedra, El Turrón und La Bica. Auf dem Weg von Medio nach La Bica keuchte Laura gewaltig, der Höhenunterschied von 650 auf 800 Meter nahm ihr den Atem. Den Wegesrand säumten abwechselnd wilder Lavendel und Ringelblumen. An diesem Ort vergisst man die Zeit, fühlt sich um Jahrhunderte zurückversetzt, dachte Jeremias. Sie ließen sich im Restaurant La Pimentera da Salvatore zu einer Rast nieder. Auf der von Bougainvilleas umrankten Terrasse servierte man ihnen gebratenen Queso blanco mit Palmenhonig und Kräutervinegrette, ein absoluter Gaumengenuss, wie Laura bemerkte. Dazu probierten sie ein Gläschen Palmenwein, der süß und schwer schmeckte.

Nun folgte der schwierige Abstieg durch den Barranco de Masca1 zum Meer. Vorbei an Mandelund Feigenbäumen, umwachsen von Lavendel, ging es steil hinab. Endemiten, die nur auf dieser Insel vorkamen, ein kanarischer Sandelbaum und Rohr an feuchten Stellen gaben ein abwechslungsreiches Bild. An beiden Seiten des Barrancos lagen Höhlen, die teilweise noch nie ein Mensch betreten hatte. Nach einem zügigen Marsch von drei Stunden kam die Gruppe unten an. Laura fühlte sich wie die meisten Teilnehmer der Wanderung völlig erschöpft. Jeremias schien so frisch wie aus dem Bus gestiegen. An der Küste wartete ein Schiff und legte ab, gleich nachdem die Wanderer eingestiegen waren. Der Ausblick vom Meer auf die Los Gigantes vollendete den Ausflug. Wie drei Riesen ragten die Felsen aus dem Meer. Sie fuhren um den nördlichsten Punkt, den Punta de Teno, weiter nach Garachico. Auf einer kleinen Finca wurde ihnen zum Abschluss ein kanarisches Grillfest geboten.

Gemütlich räkelte sich Jeremias mit vollem Bauch im Gras. Seine Sehnsucht nach St. Heinrich hielt sich in Grenzen. Hier gefiel es ihm besser. Sein Entschluss war in den letzten Tagen gereift, den größten Teil des Jahres auf der Insel zu verbringen. Den Rückflug würde er verfallen lassen, ein wenig wollte er das Eiland noch genießen und sich nach einem Apartment umschauen. Laura hatte ihm einiges über Carina und Julian erzählt. Eigentlich mochte er Laura, ein echter Kumpel. Weshalb war sie mit diesem Arschloch verheiratet? Julian und Carina, er würde sich rächen, für alles, was sie ihm angetan hatten. Sie sollten das fühlen, was er durchlitten hatte.

***

Carina, Moritz und Julian gingen jeden Tag zum Tauchen. Laura spielte währenddessen mit Jeremias Tennis oder sie erkundeten gemeinsam die Insel. Sie fuhren in das Gebiet, wo in den Sechzigern der Tourismus aufkam. Doch diese Gegend entpuppte sich für beide als herbe Enttäuschung. Punta del Hidalgo und Bajamar erschienen ihnen wie Gespensterstädte. Das Anagagebirge mit den zackigen Felsen bot einen gewaltigen Anblick. Verlassene Hotels standen wie Ruinen in der Landschaft. Hier also hatte es am Ende der fünfziger Jahre begonnen. Der Nordflughafen wurde damals angeflogen und von dort rollte man mit Eselskarren, später mit Autos, hinunter ans Meer. Nach dem Bau der Autobahn erreichte man Puerto de la Cruz einfacher und so verlagerte sich der Tourismus dorthin. Die Urlauber am Ort des Edelmanns, wie man Punta del Hidalgo übersetzte, besaßen das Durchschnittsalter der Bewohner eines Altersheims. Müde und schläfrig lag ein saurer Dunst über diesem Teil Teneriffas.

Die beiden gingen im Meeresschwimmbecken baden, setzten sich oben an der Hauptstraße in das Café Melitta, um Schwarzwälderkirsch mit heißer Schokolade sowie die grandiose Aussicht auf die Bucht zu genießen.

»Sind wir nicht verrückt!«, lästerte Laura, als sie ihren Teller anstarrte.

»Ein bisschen Deutschtum, warum nicht. Soll ich die süßen Cremes der Spanier essen, wenn ich anständige Sahnetorte bekommen kann?«

In Tacoronte gerieten sie zufällig an einen Ochsenwettkampf. Ein Ochsengespann zog einen Sandsack durch ein abgestecktes Feld. Der Besitzer musste sein Tier dirigieren, sie durften nicht vom Weg abkommen. Zum einen wurde die Geschicklichkeit der Gespanne gemessen, den Zickzackparcours zu durchlaufen, andererseits dabei die Zeit berechnet. Nach dem fünften Duo ödete es Jeremias an. »Lass uns gehen, noch mehr Ochsen ertrage ich nicht!«

»Gern, mir ist langweilig.« Schnell schoss Laura ein paar Aufnahmen von herumstehenden Ochsen.

Mit dem Auto fuhren sie hoch nach Orotava, den Tipp hatte Jeremias von Gregorio erhalten. Angekommen landeten sie in einem Volksfest und holten sich frisch frittierte Sardinen an einem Stand. Dort wurde ein Wettstreit mit Pferden ausgefochten und anschließend maß man sich im sogenannten Salto de Pastor, dem Hirtensprung. Die Reiter mussten im Galopp einen Speer durch einen kleinen Ring stoßen, der von einem Baum hing. Dazu gehörte eine ordentliche Portion Geschicklichkeit. Nach diesen Wettkämpfen folgten die Schäfer.

»Gregorio erzählte mir, der Ursprung liegt bei den Guanchen, die von den Ziegen lebten. Hin und wieder fiel eine in einen tiefen Barranco. Der Hirte nahm dann seinen Stab, der ungefähr drei Meter lang war, rammte die Metallspitze ein paar Meter hinab in den Barranco, ließ sich hinuntergleiten. Er sprang, setzte im Sprung den Stab auf, rutschte hinunter, bis er auf dem Boden bei dem Tier ankam. Mit dem Stecken und der Ziege unter dem Arm hangelte er sich zurück. Eine nicht ungefährliche Angelegenheit!«, erklärte Jeremias.

»Hier springen sie in vereinfachter Form von der Mauer und versuchen mit dem Stab ihre Mütze in der Tiefe zu treffen«, veranschaulichte er Laura.

»Jetzt verstehe ich die Jungs am Strand! Ich wunderte mich, warum sie mit langen Stöcken von den Mauern nach unten gesprungen sind!«

»Stimmt, am Strand üben sie auch!«, Jeremias hüpfte von einer kleinen Mauer.

Zum Abschied pfiffen ein paar Jungs in der uralten Pfeifsprache der Hirten, El Silbo.

»Ist doch irre. Ohne Radio, Telefon, Post und Zeitung klappte die Kommunikation schon vor Tausenden von Jahren bestens. Kilometerweit pfiffen sich die Hirten Neuigkeiten von Berg zu Berg zu und innerhalb von Stunden wusste die ganze Insel über den neuesten Klatsch Bescheid!«, lachte Laura.

»Richtig. Was würden wir tun, wenn der Strom tagelang ganz ausfiele? Dann geht unsere gesamte Zivilisation den Bach hinunter!«, meinte Jeremias.

Das Ambiente des Fests wirkte ein wenig mittelalterlich. Die Trachten, die Form der Wettkämpfe, die Folkloremusik, alles schien aus einer anderen Zeit zu stammen. Fest verwurzelt in ihrem uralten Brauch lebten die Tinerfeños in einer alten Welt. Die Technik diente nur zum Zweck, Fiestas, Familie und Tradition standen im Vordergrund, Nationalstolz war eine wichtige Tugend, die schon ein Dreijähriger besaß. Laura fühlte sich in Gegenwart von Jeremias wohl. Die kameradschaftliche Art und sein nie endender Einfallsreichtum taten ihr gut. Ein bisschen plagte sie ihr Gewissen, weil sich bei ihr eine Zuneigung entwickelte, die über eine einfache Urlaubsfreundschaft hinausging. Eine Intimität der kumpelhaften Freundschaft entstand, die ihr guttat, sie aus ihrem Trott herausholte. Andererseits hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Die anderen drei störte es nicht, sie waren völlig dem Bann des Tauchens erlegen.

Der Urlaub von Carina und Moritz ging dem Ende zu. Die Romerías in Tegueste und La Orotava hatten Laura gut gefallen. Daher überredete sie Julian und Carina, zum großen Romería-Zug nach La Orotava zu fahren, dem größten auf der Insel. Hier zogen lange Wagenzüge mit Bauern in Traditionskleidung vorbei, die Obst und Grillfleisch verteilten und dem Publikum die Weinschläuche anboten. Musik und Tänzer begleiteten die Wagen, man konnte die Szenerie mit einem Erntedankfest vergleichen. Jeremias hatte sich bisher nicht von Laura überreden lassen, abends mit der Gruppe etwas gemeinsam zu unternehmen, er wollte sich nicht aufdrängen. Nachdem Carina und Moritz abreisten, ließ er sich schließlich auf eine Einladung zum Abendessen ein.

Am Tag trafen sich Laura und Julian mit Jeremias in Puerto de la Cruz, um die Prozession des heiligen Kreuzes zu sehen. In der Nacht waren alle Kreuze der Stadt mit Blumen geschmückt. Erst jetzt sah man, wie viele Kreuze hinter Holzverschlägen das ganze Jahr über warteten, an diesem Tag präsentiert zu werden. Überall in den Straßen der Innenstadt waren Schreine aufgeklappt. Kerzen brannten darin und darunter auf dem Boden. Nur in den Städten, die im Namen Cruz trugen, wurde dieses Fest gefeiert. Die Prozession pilgerte durch die Altstadt. Entlang der verzierten Kruzifixe schulterten Geistliche Kreuze, begleitet von der Gemeinde.

»Für jeden Canario, der auswanderte, stellte man ein Kruzifix auf, das ihm Glück bringen sollte. So ist der Día de la Cruz entstanden!«, berichtete Laura. »Ich verabschiede mich bis nachher, damit ich euch verhungerte Kerle abfüttern kann! Trinkt nicht so viel!« Laura drängte Richtung Parkplatz, winkte den Männern zu.

Die zwei schlenderten hinüber zur Plaza und ließen sich bequem in der Hafenbar nieder. Das Gespräch entwickelte sich nur zäh. Jeremias ergab sich Julians Schilderungen über die Tauchgänge, vermied etwas Persönliches von sich preiszugeben. Es amüsierte ihn, dass er heute mit Julian zusammensaß und der Drecksack nicht wusste, wen er zum Essen eingeladen hatte. Julian, mit dem Carina ständig telefonierte und der sie überzeugt hatte, ihn, Jeremias, vor die Tür zu setzen. Er genoss seine Überlegenheit. Carina mochte ihn aus ihren Gedanken entfernt haben, aber in der Realität würde sie ihn nicht abschütteln können.

Laura stand einige Stunden in der Küche, um ein vorzügliches Menü zu zaubern, soweit die minimale Küchenausrüstung für Touristen es zuließ. Jeremias war angetan von dem Festschmaus und auch Julian schien mehr als zufrieden. Übereinstimmend lobten die Männer das Mahl, kein Restaurant dieser Insel habe Stil, diesen Schmaus nachzukochen. Der Abend zeigte sich behaglich und Jeremias, der sich Stefan nannte, erzählte von seiner Idee den Teide zu besteigen. Julian begeisterte sich für den Vorschlag. Sogar Laura wollte mitmachen. Julian war erstaunt.

»Wasser und Luft sind mir zuwider! Ich genieße es, die Füße auf dem Boden zu spüren. Bergwandern liebe ich, wir planen doch kein Cliffhanging, oder?«

»Schuhe brauche ich unbedingt, wir klettern nicht mit Turnschuhen. Ein Wanderstab wäre nicht schlecht, den kann man sicherlich leihen, ebenso Schlafsäcke«, gab Julian zu bedenken.

»Laura, die Masca-Tour war ziemlich anstrengend. Wenn du das durchgehalten hast, wird der Aufstieg zum Teide ein Spaziergang!«, meinte Jeremias mit einem Augenzwinkern.

»Hast dir extra Wanderschuhe zugelegt.«

»Ich habe Gregorio, unseren Wandervogel, im Hotel gefragt. Seine Söhne führen Gruppen hinauf, zurzeit leider nicht. Nachts wird es dort sehr kalt! Wir benötigen warme Bekleidung und gute Schlafsäcke. Die leiht er uns bestimmt.«

Jeremias kaufte sich ein Schulheft. Er trug alle für ihn wichtigen Daten über Carina und ihre Freunde ein. Durch das lose Geplauder mit Laura bekam er heraus, sie wohnte mit Julian in Düsseldorf. Er schnappte den Namen des Instituts von Julian auf, erhielt ihre Telefonnummer und E-Mail-Adresse. Sie hatten sich sogar zum Schwatz im Chat verabredet, Laura nannte sich Wölkchen. Jeremias erfuhr, Carina war mit Moritz verheiratet, Leisenberg hieß der Kerl, er wusste es noch genau! Carina war von Moritz getrennt, als er Carina kennenlernte. Nachdem sie Jeremias vor die Tür gesetzt hatte, war sie gleich zu Moritz zurückgelaufen.

Moritz arbeitete neuerdings als Journalist in Hannover bei einer kleinen Zeitung, schrieb als freier Mitarbeiter für Fachzeitschriften. Sie würde einen Posten als Assistentin an der Universität antreten. Die Stelle war befristet und Carina überlegte, zur Biologielehrerin umzuschwenken, da es kaum eine Zukunft als Biologin gab. In zwei Wochen sollte der Umzug stattfinden. Das klappte ja wie geschmiert, dachte Jeremias, noch ein paar Informationen und er konnte loslegen.

Laura stellte den Proviant zusammen, das Wasser wog einige Kilo. Julian besorgte mit Jeremias zunächst die Genehmigung für den Aufstieg, die eine reine Formalität war. Schlafsäcke benötigten sie nicht, oben in der Hütte gab es Bettwäsche auszuleihen. Am Abend wollten sie sich in einem Hotel eine Modenschau ansehen, einen kleinen Drink nehmen und am nächsten Vormittag in die Cañadas fahren. Die Besteigung planten sie für die Mittagszeit.

***

Um elf holte Jeremias Julian und Laura ab. Sie fuhren hoch in die Cañadas, bis zur Seilbahnstation, parkten dort das Auto. In vier bis fünf Stunden sollten sie die Kate erreicht haben.

Mit professionellem Gespür fand Jeremias sofort den Einstieg. Julian meinte anerkennend, er sehe, er sei in fähiger Hand eines erfahrenen Bergwanderers, den Pfad habe er völlig übersehen.

»Wir Bayern haben das im Blut!«

»Ich dachte, du bist Franke!«

»Ich wohne in Franken, das ist doch Bayern!«, grinste Jeremias. Julian passte die Antwort nicht ganz, sagte aber nichts.

Langsam stiegen sie aufwärts. Der Anfang war noch gemächlich. Erst nach etwa fünf Kilometern begann der Steilanstieg. Der Weg entpuppte sich als anstrengend. Der Bimsstein leuchtete ihnen braun-grün schimmernd entgegen. Immer wieder legten sie eine kleine Rast ein und tranken. Laura schlug sich erstaunlich gut. Sie erwies sich kräftiger und zäher, als die Männer geglaubt hatten. Sie blickten zurück auf die Cañadas. Das bunte Farbgemisch der Lavasteine schimmerte in Jadegrün, Taubenblau, Terrakotta, Senfgelb und Schwarz. Der Teideginster blühte dazwischen in Weiß, gelbe Besenrauken, weiße Teide-Margeriten zeigten den Frühling an. Welche Farbenpracht für einen Berg! Das Lavagestein mit den bizarren Felsen erinnerte an eine Kombination von Mond und Erde, als hätten sich an diesem Winkel diese beiden Gestirne vereinigt.

Nach einer Weile gabelte sich der Weg. Ein Schild verwies zu den Los uevos de Teide und weiter zur Montaña Vista. Laura packte ihren Rucksack aus, sie transportierte das Essen. An dieser Stelle genossen sie die betörende Sicht, ein flacher Stein diente als Tisch.

»Esst, so viel ihr könnt!«, scherzte Laura, betrachtete ihre völlig verstaubten Schuhe.

»Das hättest du wohl gern!« Julian schaute ihr lachend ins Gesicht. »Du wolltest den Rucksack mit dem Proviant tragen! Aber das Wasser in meinem Rucksack drückt auch einiges an Gewicht!«

Jeremias schnitt sich eine Scheibe Queso Blanco ab, kaute auf seinem Baguette. Er nahm einen Schluck aus seinem Purron, den er am Gürtel trug. Tief atmete er durch, blickte ruhig über die Cañadas auf die Küste.

»Hier oben, so glaubten die Guanchen, lebten die Götter, allerdings die bösen. Ich fühle mich gerade wie einer!«, grinste er breit.

»Das stimmt!«, Julian schmierte sich ein Stück Gorgonzola mit Mascarpone auf sein Weißbrot. »Man bekommt ein Gefühl von Leichtigkeit in dieser Höhe. Wie egal erscheinen die täglichen Streitereien, Politik oder Kriege. Was gehen mich die Leute dort unten an?«

»Wie klein sieht die Welt aus, wie gering werden die Probleme der Einzelnen. Ihr habt recht, sämtliche Distanz zum Weltall fällt und mit den Menschen in der Tiefe habe ich zurzeit auch nichts zu tun!« Laura blickte auf die Insel zu ihren Füßen.

Jeder hing seinen Gedanken nach, schweifte mit seinem Blick in den Abgrund.

Nach einer halben Stunde brachen sie auf, folgten dem Pfad und nach weiteren dreißig Minuten standen sie vor den Huevos de Teide. Es waren entweder Vulkanbomben, die aus dem Krater geschleudert wurden, oder es handelte sich um flüssige Lava, die beim Ausbruch zu schnell gelaufen war, sich daher vom Strom getrennt hatte und hinunterrollte. Bei der Erkaltung ergaben sich deshalb die eierförmigen Gebilde. Die schwarzen Brocken lagen auf terrakottafarbenem Untergrund, der Himmel blau, so blau nur der Himmel sein konnte. Junge unheilschwangere Lava zog sich in Zungen über dem spröden Lapilli.

»Was ist das für Gestein, es leuchtet schön und knirscht unter den Füßen?«, fragte Laura.

»Dieses glasige Sediment müsste Obsidian sein«, vermutete Jeremias und zerrieb kleine Brösel zwischen den Fingern.

»Auf den Kanaren existieren keine Metalle, Feuerstein auch nicht. Die Guanchen stellten aus diesem Obsidian und Basalt ihre Klingen und Schaber her. Schwarz wird der Stein durch Eisenoxyd, wenn es als Magma zu rasch erkaltet.«

Nach einer Zeit trafen die drei auf eine Tafel, das die Altavistahütte ausschilderte, Refugio de Altavista. Sie hielten sich links zur Montaña Blanca. An einem verfallenen Gemäuer ging es nun steil hinauf zur Berghütte. Laura und Julian stöhnten, trotz des vielen Wassers fühlte sich die Kehle kratzig und staubig an. Auf dem Plateau Estancia de los Ingleses rasteten sie erneut. Ganz leise vernahmen sie ein Geräusch.

»Was brummt hier in der Einsamkeit?«, fragte Julian.

»Ich denke, das ist der Generator der Kate, ein bisschen Strom gibt es dort sicherlich. Vielleicht ist es das sogenannte MUSS an Zivilisation.« Jeremias streckte sich. »Auf, auf!«, trieb er an.

Laura blickte auf die Uhr, als sie die Hütte erreichten.

»Wir haben noch genug Zeit, bevor es dunkel wird. Wollen wir zur Eishöhle?«

»Na klar, aber erst alles abstellen!« Jeremias schaute sich die Karte an. Sie brachten ihre Rucksäcke in den Innenraum, gaben sie beim Hüttenwirt ab.

Mit Pullover und Taschenlampe schlenderten sie den Pfad zur Eishöhle hinüber. Nach zwanzig Minuten kamen sie an. Vorsichtig begaben sie sich in die Höhle. Eis bedeckte die Wände und Schnee lag am Boden.

»Unglaublich, von diesem Ort haben die Menschen vor der Zeit des elektrischen Lichts und des heiligen Kühlschranks ihr Eis herbekommen!« Julian staunte.

»Das muss man sich vorstellen, mit Mulis transportierten sie das Eis bis Orotava und Puerto in Blöcken hinunter!«

»Was sind wir heutzutage nur für verwöhnte Kinder!«, stöhnte Laura, die fröstelte. Sie stampften zurück zur Hütte.

Jeremias fotografierte mit Lauras Kamera das Pärchen. Er selbst verweigerte jedes Foto, auf dem er zu sehen wäre. Er sei absolut unfotogen, erklärte er. Die Luft hatte sich unangenehm abgekühlt. Je tiefer die Sonne sank, umso mehr fiel die Temperatur. Ein eisiger Wind drang durch bis auf die Haut. Erschöpfung machte sich breit und die dünne Luft strengte an. Der Hüttenwirt bot ihnen heißen Kakao an, den Julian frierend aus dem Automaten zog. Leider bot dies die einzige Möglichkeit, etwas für den Bauch zu erhalten, sein Essen musste man mühsam eigenhändig hinaufschleppen. Laura kochte Wasser auf einem Gaskocher, bereitete drei Tassen Tee. Gemütlich setzten sie sich um den Tisch in der Wohnküche, an deren Wänden eine Menge Spruchweisheiten hingen, verspeisten einen weiteren Teil des Proviants: Weißbrot, Käse, Salami, Gurken, Tomaten und Bananen. Dazu tranken sie Pfefferminztee. Plötzlich öffnete Jeremias seinen Rucksack. Seine Augen glitzerten im Kerzenschein. Er zog eine Packung Erdnüsse und eine Flasche Rotwein hervor. Zum Schluss fischte er ein kleines Fläschchen aus dem Ranzen. Sie saßen zwischen dem Qualm, den die offene Feuerstelle im Haus verteilte, fühlten sich unendlich glücklich.

»Das haben Sie sich verdient! Wir sorgen für Sie«, wiederholte Jeremias im Klang der Reiseveranstalterwerbung.

»Jetzt fehlt nur noch Musik!«

»Rachmaninov!«, schwärmte Laura.

»Tschaikowski!«, entgegnete Jeremias.

»Ich würde Tomita wählen«, verkündete Julian.

Laura verdrehte die Augen. »Ich finde, Elektronik passt überhaupt nicht hierher!«

»Aber ein Symphonieorchester! Nebenbei, selbst Fachleute hören den Unterschied zwischen Symphonieorchester und Tomita nicht heraus!«, ulkte Julian zurück.

Jeremias öffnete die Flasche. »Hauptsache, man kann seine Stimmung einfangen!« Vergnüglich schlürften sie den Wein, warteten auf die Dunkelheit.

Mit Ehrfurcht schraubte Jeremias das kleine Fläschchen auf. Er roch daran bei geschlossenen Lidern. »Das müsst ihr probieren!«

Die süßliche Flüssigkeit zerging auf der Zunge. »Ich stehe nicht auf Likör, doch dieses Gebräu hier schmeckt genial!« Julian leckte sich die Lippen. »Was ist das?«

»Habe ich mir von einem Canario in Tejina anrühren lassen. Dort ist gerade Zuckerrohrernte. Man braut in dieser Gegend Rum nach karibischem Rezept. Das Getränk heißt Leche Rizada. Es besteht aus kanarischem Rum, Milch, Zitronensaft, Zitronenschale und ein wenig Honig. Gut geschüttelt, nicht gerührt!«

»Lecker, Stefan!« Laura schleckte die Tasse aus.

»Leider geraten die traditionellen Rezepte immer mehr in Vergessenheit. Die kanarische Traditionsküche ist nicht übel. Du bekommst sie nur nicht oft. Sie macht enorm Arbeit. Heute haut man Fleisch und Fisch auf die Plancha oder den Rost, dazu Pommes und ungewürztes Dosengemüse. Mit viel Glück erhält man Salat. Es gibt nur noch einzelne Gaststätten, die echte kanarische Küche bieten! Und die musst du mal finden!«

Gerade rechtzeitig konnte sich Jeremias zurücknehmen. Er hatte nämlich mit seinem Verlag telefoniert und vorgeschlagen, ein kanarisches Traditionsbuch herauszubringen: Küche, Handwerk, Sport. Er würde weitere Recherchen anstellen und ein paar Fotos und Infos vorab senden.

»Die Rumherstellung brachten die Auswanderer aus der Karibik mit. Unzählige Leute wanderten um die Jahrhundertwende nach Südamerika, Mexiko und in die Karibik aus. Einige kehrten steinreich zurück, fast jeder Canario hat solche Verwandte im Ausland. Die Zurückgekehrten importierten Salsa, Rum und andere nette Dinge, wie den Karneval. Venezuela nennt man die achte kanarische Insel«, fuhr Jeremias fort.

»Vielleicht weißt du, was Teneriffa heißt! El Hiero ist das Eisen, Gran Canaria ist die große Kanarische, La Palma ist die Palme, bei Fuerteventura fehlt ein A am Anfang, das starke Abenteuer, jedoch was bedeutet Teneriffa?«, fragte Laura.

Jeremias holte seinen Reiseführer aus der Tasche. »Schauen wir mal«, er blätterte. »Alonso de Espinosa sagt, die Guanchen seien mit 60 Leuten auf die Insel gekommen. Sie gründeten eine Siedlung bei dem Ort Icod und gaben ihm den Namen Alzanxiquian abcanabac xerax, was so viel wie Ort der Wiedervereinigung des Sohnes des Großartigen heißt. Leider befasste man sich früher weniger mit Geschichte und viel Wissen ging verschütt. Die Besetzer wollten die Guanchen zu Spaniern umerziehen, machten alles Spanische zur Pflicht, so ist die Sprache der Guanchen verlorengegangen. Man weiß nur wenig darüber. Tene heißt entweder Berg oder Schnee und rife ebenso Schnee oder Berg, auf jeden Fall Schneeberg. Es gibt auch den spanischen Begriff Isla Del Infierno, Hölleninsel. Nach Guanchensprache bedeutet echeide Hölle, man nimmt an, das ist das Urwort für Teide. Er brodelt sogar immer noch im Inneren«, las Jeremias vor.

In Pullover und Jacken gehüllt marschierten sie nach draußen. Ein kalter Wind wehte ihnen entgegen. Langsam schritt die Gruppe in die Landschaft und entfernte sich von der Hütte. Jeremias legte sich auf einen Stein, schaute nach oben. Julian zog Laura auf die andere Seite des Hauses, setzte sich mit ihr in eine Mulde.

Jeremias blickte in das Firmament. Er konnte die Stille fühlen. Kein Ton war vernehmbar, kein menschlicher Laut drang von unten herauf. Kein Licht. Nur das leise Schnarren des Generators zerbrach die Geräuschlosigkeit. In seiner Monotonie war er fast nicht wahrzunehmen. Je länger man den Himmel anschaute, umso näher schien er. Eine Reise ins Weltall als Sonntagsausflug schien möglich zu sein. Das Leben auf der Erde schrumpfte zur Bedeutungslosigkeit. Was war schon die Erdkugel in diesen Weiten des Weltraums? Und dort sollte es einen Gott geben, der sich aus diesen Unmengen von Planeten gerade diesen gewählt hatte, um sich in Form von winzigen Menschlein selbst zu verwirklichen? Und von dieser Masse von Personen passt er in jeder Sekunde auf jeden Einzelnen auf, schreibt die Sünden in sein dickes Buch? Wie nichtig erschien Jeremias jegliche Religion an einem ehemals so heiligen Ort wie diesem. Religion, die Plage der Menschheit, die Unlogik an sich, die Fessel, die man sich auferlegte, wenn man daran glaubte. Aber trotzdem. Der Teide wirkte mächtig, er spürte den Berg in allen Zellen seiner Haut. Er gewahrte die brodelnde Lava unter sich, die jederzeit nochmals herausbrechen konnte. Eine unsagbare Faszination ging von diesem Ort aus. Eine Kraft, die den Körper durchdrang. Wie wollte man heutzutage einem Menschen Glauben erklären? Der Gott, der uns erschuf, heißt Materie! Ein winziges Körnchen im Reich der Sterne bin ich, mehr nicht!

Was bin ich schon?, fragte sich Jeremias. Dennoch nahm er sich selbst wichtig. Er lebte sein Leben, seine lächerliche, kleine Existenz. Es wäre schön, wenn Max in seinem Arm läge. Vielleicht später, jetzt wollte Max nichts von ihm wissen. Carina hatte sich angemaßt, ihn, Jeremias, in seinem Gleichgewicht zu stören. Erneut schaffte sie es, ihn zu martern. Er musste verhindern, dass sie ihm dauernd in die Quere kam, er wollte SIE zerstören. Immer klarer wurde ihm dieses Bild. Carina musste büßen, es gab nur eine Möglichkeit: Sie verschwand aus seinem Dunstkreis, ein für alle Mal. Er würde Carina finden, sie aus seiner Lebensbahn eliminieren! Ständig beschlich ihn die Angst, dieser Frau abermals zu begegnen. Sogar in seinem Urlaub ließ sie ihn nicht zur Ruhe kommen. Überall schwebte Carina. Leiden sollte sie, genau wie er.

Julian nahm die zitternde Laura in seinen Arm. »Phänomenal, auf diesem Berg zu stehen!«

»Als befänden wir uns auf einem anderen Stern!«

Julian schaute Laura an. »Stefan ist ein Kotzbrocken. Du scheinst ihn ja anzubeten!«

»Quatsch! Ich mag ihn. Wahrscheinlich macht dich das eifersüchtig, löst Urinstinkte in dir aus!«

»Nein, das ist es nicht. Ich finde ihn überheblich und machohaft, fast unerträglich! Der nette Kerl mit erlesenem Geschmack, neunmalklug, feingeistig ohne Ende. Was gefällt dir an dem?«

»Ach das ist es! Na klar, ein Macho kann den anderen nicht ertragen! Du verschmerzt es nicht, wenn dir ein Mannsbild ähnlich ist, insbesondere, sobald er mindestens genauso schlau ist wie du!«

»Ist dir aufgefallen, wie pedantisch der Bursche ist? Sieht jederzeit aus, als wäre er unterwegs zum Bewerbungsgespräch, sogar beim Bergsteigen. Ist ein Spiegel in der Nähe, schaut er hinein, streicht sich über Bart und Kopf. Bei jeder Rast putzt er die Schuhe mit einem Taschentuch ab. Dieser Typ tritt nie auf gepflasterten Wegen auf zwei Platten, immer mitten auf eine. In öffentlichen Toiletten öffnet er die Tür mit dem Ellenbogen, das finde ich echt krank. Hast du das nie bemerkt?«

»Wir pinkeln nicht im Duett bisher. Wo du überall hinsiehst!«, zischte Laura. »Ist mir nicht ins Auge gefallen! Und nur weil ein Mann sich pflegt, ist das gleich lächerlich? Ein wenig davon solltest du dir von ihm abschauen!«

Langsam bummelten sie zurück in die Wärme der rauchigen Hütte, verkrochen sich in ihre Kojen. Die Bretter der Betten knarrten bei jedem Atemzug. Trotzdem schliefen alle drei sofort ein.

***

Am Morgen frühstückten sie im Morgengrauen und begannen den Aufstieg. Den Sonnenaufgang wollten sie auf dem Gipfel verbringen. Die Uhr zeigte kurz vor fünf, Dunkelheit und Kälte empfingen sie vor der Tür. Das Licht der Taschenlampen beleuchtete den Weg, der Vollmond erhellte sanft die Spur voraus. Vorsichtig schlenderten sie die Route Richtung Eishöhle, bogen nicht ab, sondern gingen weiter nach oben. Am Aussichtspunkt Fortaleza rasteten sie. Die Luft wurde immer dünner, das Atmen fiel schwer. Sie kamen zur oberen Seilbahnstation, löschten die Leuchten. Einige Teideveilchen blühten nur hier auf diesem Berg.

»Habt ihr gut geschlafen?«, fragte Julian. »Ich habe geratzt wie ein Murmeltier im Winterschlaf.«

»Ich auch!«, ächzte Jeremias, auf dem steil ansteigenden Weg von der Rambleta zum Pitón, dem Zuckerhut.

»Würde ich mich ärgern, jetzt auf Seilbahntouristen zu treffen. Es ist glücklicherweise zu früh für Touris.«

Laura keuchte. »Die dünne Luft macht mich groggy. Und der Gestank aus der Erde! Ich hasse Schwefel!«

»Setz dich drauf, dann nimmst du die Dämpfe dankbar als Powärmer an!«, lachte Jeremias.

Die Plackerei lohnte sich. Am Gipfelkreuz angekommen lugte die Morgendämmerung sanft aus den Nebelschwaden. Die Konturen der schwarzen Felsen in der Nähe ragten zwischen dem orangefarbenen Himmel hervor. Die Sonne strahlte als weißer Ball, von gelben Kreisen umzogen. Laura schnappte sprachlos nach Luft.

»Marmelade skys«, flüsterte Julian ehrfürchtig. »Es gibt sie doch!«

La Gomera löste sich aus dem Schatten des Teide. Die Sicht klarte auf und die drei blickten auf sämtliche Inseln.

»Die Aussicht nimmt mir den Atem. Das ist sagenhaft! Wir stehen auf 3718 Metern!« Julian drückte Laura an sich.

Der Ausblick in den Krater erschien gewaltig. Wie muss es ausgesehen haben, als der Teide noch rauchte und spuckte! Die dickflüssige, rote Lava schoss aus dem Schlund und rutschte wie eine Walze langsam, aber unaufhaltsam ins Tal, um erst im Meer zu erkalten. Jeremias genoss das Panorama, begeisterte sich daran, hier zu verweilen, mit zwei Menschen, die nicht wussten, wer er war, mit denen er spielen konnte.

Nach über einer Stunde trennten sie sich vom Gipfel, stiegen hinab. Der kalte Wind auf dem Pitón schnitt fast unerträglich in ihre Gesichter. Die Möglichkeit, mit der Seilbahn zu fahren, verlockte, doch sie entscheiden sich, zu Fuß hinabzusteigen.

Zurück am Auto kippte Laura sich den letzten Schluck Wasser aus der Flasche in den Mund. »Heute keinen Schritt mehr!« Man sah ihr die Erschöpfung an.

»Ich hätte Lust auf kanarische Küche!« Julian schaute in die Runde.

»Überredet!«, grinste Jeremias.

»Das lasse ich gerade noch über mich ergehen.« Laura plumpste in den Autositz.

Kurz bevor sie ins Orotavatal einfuhren, entdeckten sie ein winziges Restaurant an der Straße, Siete Islas. Jeremias meinte, das klinge gut, und parkte den Wagen ein.

Julian und Laura bestellten sich Paella, Jeremias entschied sich für ein Kotelett mit Salat. Zu ihrer Enttäuschung gab es keine kanarischen Pellkartoffeln, nur Pommes frites. Zunächst füllte der Kellner die bauchigen Gläser mit Wasser, die kleinen mit Wein. Die Nase in Jeremias` Gesicht zitterte.

»Riecht ihr das?«

»Nein, was meinst du?« Julian hob sein Glas. Langsam nahm er es vor die Nase und fächerte sich mit der Hand das Aroma zu. Julian nippte. Seine Züge verzogen sich. »Boaaa! Ein Teufelsgetränk! Mundet wie Jauche!« Mit einem Knall landete das Trinkgefäß auf dem Tisch.

»Ich probiere lieber nicht. Den Schwefelgeruch spürte ich bereits beim Einschenken!« Verächtlich schob Jeremias das Glas weit von sich.

»Jetzt rieche ich es auch! Stimmt, es duftet wie Teidegipfel. Ein Hieb davon reicht für drei Tage Kopfschmerzen! So ein ähnliches Gebräu haben wir in Santa Ursula gekauft. Frischer Wein vom Bauern. Unter Rühren in den Ausguss, bitte!« Laura winkte nach dem Kellner. Der nette Canario tauschte den Rotwein gegen Weißwein.

Nach der Probe stellte Jeremias fest: »Schmeckt wie Terpentin, immerhin nicht nach Schwefel!«

Der Ober brachte das Essen. Jeremias’ Gesichtsausdruck verriet Missmut. »Von wegen typisch kanarische Küche! Das passiert mir ständig in den Bergen! Schaut euch das an! Die Pommes sind lappig, na gut, das Fleisch ist o.k. Aber seht euch den Salat an! Überreifes bis angegammeltes Gemüse mit halben Zwiebeln und billigstem Essig und Öl! Mann, wer soll das fressen?«

»Unseres ist auch nicht genießbar!« Unwillig harkte Julian mit der Gabel durch die Paellapfanne. »Gelb gefärbter Reis aus dem Kochtopf! Keine Kruste! Die haben das Zeug vom Topf in die Pfanne geschüttet, obenauf zwanzig Erbsen und zwei Gambas gelegt. Scheint für Asketen angerichtet zu sein.«

»Onkel Ben’s Fertigreis schmeckt wesentlich besser!«, rundete Laura das Gespräch ab.

Sie stocherten im Essen herum und ließen über die Hälfte auf dem Teller. Selbst dieses Menü konnte ihnen ihr Bergsteigererlebnis nicht madigmachen. An diese zwei Tage würden sie sich noch lange zurückerinnern.

Sie verbrachten einen letzten feudalen Abend im Touristenviertel. Gegen drei kehrten Laura und Julian zurück. Das Packen hoben sie sich für den Abflugtag auf, ihr Flugzeug startete erst um sechs Uhr abends.

***

Jeremias aß am Bollullostrand gefüllte Kartoffeln und beobachtete die Wellen. In regelmäßigen Abständen rollten sie majestätisch herein, brachen meterhoch an den Felsen. Sein Blick versank im Meer. Seine Gedanken, sein Atem, alles passte sich dem Rhythmus der Wogen an. Wie schön wäre es eine Welle zu sein, im gleichmäßigen Takt über das Wasser zu reiten. Er stellte sich vor, wie die Welle erschrak, eines Tages angekommen an einem Ufer wie diesem, das ihrer gewohnten Monotonie Einhalt gebot. Verzweifelt bäumte sie sich auf, kugelte sich zusammen, wehrte sich mit letzter Kraft gegen das Hindernis. Sie barst gewaltig auf die Barriere zu und begrub wütend alles unter sich, was sich ihr in den Weg setzte. Sie zerrte an sämtlichem, was sie erreichen konnte, trug es mit sich ins Grab des Ozeans, um es nie wieder herzugeben. Entspannt wurde die Welle erneut eins mit dem Gleichklang des Meeres, beruhigt, der Störung ihres Weges etwas entrissen zu haben, das nun tot auf dem Grund des Wassers ruhte.

Er würde wie diese Welle sein und Carina hinabreißen in die Tiefe, aus der sie nicht mehr zurückkam. Sie hatte seinen Rhythmus gestört, sich ihm in den Weg gestellt!

Er vermisste Laura ein wenig. Manchmal ging sie ihm außerordentlich auf die Nerven mit ihrem Geschwätz, aber eigentlich war sie in Ordnung. Nie hatte sie versucht, ihn nach seinem Leben, nach seinen Gefühlen auszufragen. Sie nahm ihn, wie er war, ohne Vergangenheit, unter Ausschluss der Zukunft. Er würde sie mit hineinreißen müssen, das tat ihm leid, es war nicht zu ändern.

Julian hatte mit ihm, Jeremias, seine Freizeit verbracht, unwissend, wer er war. Und dieser Kerl hatte sich erdreistet, seiner Schwester zu raten, ihn, Jeremias, vor die Tür zu setzen. Er grinste breit. Bald konnte Julian Jeremias viel besser kennenlernen, als dem Kerl lieb war, Julian, der Jeremias ein Schwein nannte, ohne ihn zu kennen. Und die Schlampe, die verfickte Hure würde das bekommen, was sie verdiente.

Zenissimos Jagd

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